33.
»Denken Sie, die haben ihn irgendwohin verschleppt?«, sagte Loewi, als sie wieder auf der Straße standen.
Schwarz hob die Schultern. »Es klang nicht so, als wäre er freiwillig mitgegangen.«
»Müssen wir die Polizei einschalten?«
Der Ermittler lachte höhnisch. »Ich sage Ihnen, was die tun würde: abwarten. Wenn Marco sich dann bis nächste Woche nicht bei seinem Bewährungshelfer meldet, kann man immer noch was unternehmen.«
Sein Auftraggeber schaute ihn ratlos an.
»Ich würde gern in Ihre Wohnung schauen, Herr Loewi.«
»In meine?«
»Ja, ich möchte wissen, wie Sie so leben. Für künftige Honorarverhandlungen.«
Loewi sah ihn verständnislos an.
Schwarz grinste. »Ich meine natürlich die Wohnung, in der Sie Marco Kessler untergebracht hatten.«
Der Anwalt stöhnte auf. »Vor zehn bitte keine Ironie.« Er reichte ihm den Schlüssel. Schwarz versprach, ihn auf dem Laufenden zu halten, und stieg in seinen Wagen.
Auf der Abbiegespur zur Donnersbergerbrücke stand der Verkehr. Ein Unfall. Zwei Fahrer hatten sich offenbar nicht über die Vorfahrt einigen können. Schwarz stellte den Motor ab und wählte Luisas Nummer. Er überlegte schon, was er ihr auf Mailbox sprechen sollte, als sie im letzten Moment abhob.
»Bist du verrückt, mich um diese Uhrzeit aus dem Schlaf zu reißen?«
»Es ist gleich zehn.«
»Eben.«
»Warst du letzte Nacht unterwegs?«
»Ist das verboten?«
»Luisa, ich wollte nur hören, ob alles in Ordnung ist.«
Sie schwieg.
Ein Streifenwagen traf ein. Die Polizisten, die den Stau auflösen wollten, wurden sofort von den Unfallgegnern bestürmt.
»Luisa?«
»Papa, bitte! Ich möchte nicht, dass du mich jetzt ständig anrufst.«
Schwarz seufzte. »Okay.«
Es dauerte noch zehn Minuten, bis die Polizisten die Streithähne überzeugt hatten, die blockierte Straße freizugeben. In der Landshuter Allee ersparte Schwarz sich die sinnlose Suche nach einem Parkplatz und stellte seinen Alfa gleich in die Einfahrt.
Er stieg ohne Eile die Treppen zu Loewis Wohnung hoch. Die meisten Mieter waren wohl bei der Arbeit, aber hinter einigen Türen hörte er Geräusche, das Schleudern einer Waschmaschine, das Konservengelächter einer Fernsehshow, die brüchige Stimme einer alten Frau, die telefonierte.
Im fünften Stock lauschte er an der Tür. Alles war still. Er drehte den Schlüssel herum.
Die Luft in der Wohnung war stickig. Schwarz riss das Fenster auf, die Wolke aus altem Schweißgeruch und Bierdunst vermischte sich mit hereindrängenden Autoabgasen. Er setzte sich auf den einzigen Stuhl und ließ den Raum auf sich wirken. Marco hatte nicht mehr aufgeräumt, im Gegenteil. Am Boden lagen zerknüllte Papiertücher und ein aufgeschlagenes Pornoheft. Die Bildergeschichte zeigte eine ältere Frau, die einen minderjährigen Jungen verführte. Sie trug eine offene Polizeijacke, aus der ihre riesigen Brüste hingen. Schwarz hatte nie verstanden, was an einer Polizeiuniform erotisch sein sollte.
Er schob das Heft mit dem Fuß zu Seite und stützte seinen Kopf in die Hände. Wieso war Marco abgehauen? Wenn er am Brandanschlag in der Gollierstraße beteiligt gewesen war, gab es eigentlich keinen Grund mehr, vor den Kameraden Angst zu haben. Hatten sie ihm trotzdem nicht getraut? Wieso war er erst in Loewis Wohnung zurückgekehrt, dann aber doch verschwunden? Was bloß hatte ihn in solche Panik versetzt?
Klar war, dass Marcos Mutter ihrem Sohn einen Bärendienst erwiesen hatte. Mit ihrem hilflosen Versuch, ihn freizukaufen, hatte sie ihn bei seinen Kameraden womöglich erst richtig verdächtig gemacht.
Ein Knarren der Treppe ließ Schwarz zusammenzucken. Schritte näherten sich und blieben vor der Tür stehen. Es klingelte.
»Hallo«, sagte eine tiefe Stimme. »Ist jemand zu Hause?«
Der Mann sprach mit Akzent. Kein Deutschlandtreuer, dachte Schwarz, eher einer, den diese Dumpfbacken aus dem Land jagen wollen. Trotzdem ging er kein Risiko ein und verhielt sich ruhig.
»Gibt kein Wasser nächste Stunde«, rief der Mann. »Auch nicht für Toilette.«
Schwarz hörte, wie er die Treppe wieder nach unten stieg und an der nächsten Wohnung klingelte. Dort hatte er mehr Erfolg.
»Guten Morgen. Gibt kein Wasser nächste Stunde, auch nicht für Toilette.«
Toilette war eines der Reizwörter, auf das jeder Ermittler sofort ansprang. Wieso eigentlich, dachte Schwarz, werden Drogen, gestohlener Schmuck oder verräterische Dokumente immer auf dem Klo versteckt? Um sie im Notfall rasch in die Kanalisation spülen zu können oder weil Kriminelle meinen, Toiletten würden weniger genau durchsucht als behagliche Wohnzimmer? Ein Irrtum. Vor allem in seinen Anfangsjahren bei der Polizei hatte Schwarz unzählige Spülkästen geöffnet, Armaturen abgeschraubt und Klodeckel hochgehoben. Später hatte er begriffen, dass der Erkenntnisgewinn beim Blick in eine verschissene Schüssel regelmäßig gering war.
Schwarz brauchte auch hier dreißig Sekunden, um festzustellen, dass diese Toilette kein Geheimnis barg. Der Deckel des Spülkastens fehlte ebenso wie das obligatorische Schränkchen unter dem Waschbecken, auch der Linoleumboden war nirgendwo angehoben worden. Für eine Dusche oder Badewanne war in dem schlauchartigen Raum kein Platz.
Als Schwarz in das Zimmer, in dem Marco Kessler gehaust hatte, zurückkam, stutzte er. Irgendetwas war verändert.
Es lag am Licht. Die Sonne, die gerade noch hinter einem Dachvorsprung gestanden hatte, beleuchtete jetzt den Holzboden im vorderen Drittel des Zimmers. Schwarz starrte auf die Stelle vor dem Stuhl, wo erst das Pornoheft gelegen hatte. Es sah aus, als habe dort jemand mit einem Messer oder Nagel Zeichen ins Holz geritzt. Als er sich hinabbeugte, konnte er nichts entziffern. Offenbar war der Boden im Nachhinein poliert worden.
Schwarz überlegte kurz, holte dann den Wohnungsschlüssel aus der Hosentasche und kratzte eine Weile Farbe von der Wand. Loewi würde es ihm verzeihen. Er trug den weißen Staub mit Hilfe einer Seite aus dem Pornoheft zur Stelle am Boden und schob ihn behutsam mit den Fingerspitzen in die Kratzer.
Seine Wahrnehmung hatte ihn nicht getrogen. Es waren Buchstaben: USRO-M.