21.
Als Schwarz wieder außerhalb der Gefängnismauern stand, wurde ihm erst bewusst, wie beklommen ihn die Begegnung mit Burger gemacht hatte. Er sog die angenehm laue Luft tief ein und genoss die Sonnenstrahlen auf der Haut. Dann schaltete er sein Handy an und hörte die Mailbox ab.
Monika. Sie wollte ihn sehen. Möglichst noch heute. Vermutlich hatte sie nach seinem Besuch in Untermenzing Streit mit Justus bekommen. Hatte er Lust auf eine Aussprache, wollte er sich entschuldigen oder gar geloben, den Mann respektvoller zu behandeln, der seiner Ansicht nach völlig irrtümlich im Bett seiner Frau lag? Nein.
Aber er hatte große Lust, Monika zu sehen. Er rief sie in der Schule an. »Anton. Gut, dass du dich meldest. Hast du heute Abend Zeit?«
»Ich kann dir nur noch nicht sagen, wann ich hier wegkomme.«
»Kein Problem.«
»Können wir uns bei dir treffen?«
Er hätte es nicht gewagt, ihr diesen Vorschlag zu machen. »Ja.«
»Aber komm, bitte, nicht auf die Idee, zu kochen.«
»Wir können uns ja was aus dem Koh Samui bringen lassen.«
»Wunderbar. Bis später, Anton.«
Das kurze Gespräch und die überraschende Verabredung führten dazu, dass Schwarz beinahe die Hälfte der Strecke nach München damit beschäftigt war, seine um Monika kreisenden Gedanken zurückzudrängen und sich auf seinen Auftrag zu konzentrieren.
Er parkte seinen Wagen im Halteverbot. In der Ettstraße war der rote Alfa bekannt. Hier lag das Polizeipräsidium, das er seit seiner Entlassung nicht mehr betreten hatte. Er war niemandem böse, seine Vorgesetzten hatten nur ihre Pflicht getan. Es war allein seine Dummheit gewesen, aber daran wurde er ungern erinnert. Deshalb verwarf er die Idee, Kolbinger in seinem Büro zu überraschen und ihm ein wenig über die Schultern zu blicken.
»Servus, Anton«, sagte der Pförtner, »was kann ich für dich tun?«
»Verbindest du mich mit Kolbinger?«
»Freilich.« Er tippte die Nummer und gab Schwarz den Hörer.
»Ich bin’s. Kommst du kurz raus?«
»Anton. Das ist gerade ganz schlecht. Wir haben gleich eine Besprechung, und ich muss noch was vorbereiten.«
»Es dauert nicht lang.« Er legte auf und plauderte kurz mit dem Pförtner über dessen Angst vor der bevorstehenden Pensionierung.
Kolbinger hatte keine Minute gebraucht. »Lass uns ein Stück gehen.«
Sie nahmen den Weg zur Löwengrube und bogen, ohne lang nachzudenken, nach rechts zur Frauenkirche ab. Schwarz konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals freiwillig die andere Richtung gewählt hätten. Möglicherweise lösten die vielen klugen Juristen am Amtsgericht in der Maxburg bei Polizisten, die sich eher als Frontschweine verstanden, unbehagliche Gefühle aus.
»Du willst wissen, ob es was Neues im Fall Gollierstraße gibt?«, kam Kolbinger sofort zur Sache.
Schwarz nickte.
»Es ist ein weiteres Todesopfer zu beklagen. Der Vater des Mädchens ist heute Morgen seinen schweren Verletzungen erlegen. Er war auf der Suche nach seiner Tochter von herabstürzenden Balken getroffen worden.«
»Und die Familie heißt Celik«, sagte Schwarz.
»Stimmt. Woher weißt du das?«
Er zuckte mit den Schultern. »Gibt es schon ein Brandgutachten?«
»Ein vorläufiges. Das Feuer wurde im dritten Stock vor der Tür der Celiks gelegt, als Brandbeschleuniger hat der Täter gewöhnliches Benzin verwendet.«
»Also keine defekte Gasleitung.«
Kolbinger schüttelte den Kopf. »Und der Täter hat sich keinerlei Mühe gemacht, die Brandstiftung zu vertuschen.«
»Wie geht ihr weiter vor?«
»Wir befragen erst mal die Hausbewohner.«
»Das könnt ihr euch sparen.«
»Wieso?«
»Weil es niemand aus dem Haus war.«
»Sondern?«
»Jemand aus dem Umfeld von Tim Burger.«
Der Kommissar blieb abrupt stehen. »Wie kommst du denn darauf, Anton?«
»Die Celiks haben damals dafür gesorgt, dass Burger am Tatort verhaftet wurde. Es war ein Racheakt, Kolbinger.«
»Ein Racheakt, kann sein. Aber in dem Haus wohnen Kurden und Anatolier, Albaner, Serben und Bosnier. Du weißt, wie viel Sprengstoff das bedeutet?«
»Ich habe Burger heute im Knast besucht.«
»Und er hat dir verraten, dass er den Auftrag zur Brandstiftung erteilt hat?«
»Natürlich nicht, aber mein Gefühl sagt es mir.«
»Dein Gefühl«, höhnte Kolbinger. »Frag lieber dein Gehirn. Es würde dir sagen, dass das an den Haaren herbeigezogen ist. Ich hab dich vor dem Auftrag gewarnt, du siehst ja jetzt schon Gespenster.«
Schwarz ließ sich nicht verunsichern. »Du musst die Bewohner mal fragen, ob sie jemanden beobachtet haben, der bei ihnen im Haus herumgeschnüffelt hat.«
Der Jüngere holte tief Luft. »Ich muss gar nichts.«
Schwarz blickte ihn irritiert an.
»Pass auf, Anton. Ich werde dir nie vergessen, was du für mich getan hast, aber es geht nicht, dass du mir immer noch in die Ermittlungen zu pfuschen versuchst.«
»Zu pfuschen?«
»Nenn es meinetwegen Einfluss nehmen. Du bist jetzt fast fünf Jahre weg …«
»Vier.«
»Und tust immer noch so, als hättest du nur einen freien Tag genommen.«
»Ich bin halt ein anhänglicher Mensch.«
Kolbinger hob pathetisch die Arme zum Himmel. »Wann wirst du dich endlich damit abfinden, dass du draußen bist?«
»Ich wollte eigentlich nicht über mich reden«, sagte Schwarz. »Ich bitte dich nur, dass du die Spur zu Burger vor lauter Kurden, Anatoliern und Serben nicht aus den Augen verlierst.«
»Du bist so was von stur.«
Schwarz grinste und ließ den Exkollegen stehen.
Er ging nachdenklich die Stufen zum Dom hoch und betrat ihn über den Seiteneingang. Er war nie sehr gläubig gewesen. Seine Mutter hatte die religiöse Bildung ihres Sohnes von Anfang an in fremde Hände gelegt, und die katholischen Religionsstunden am Gymnasium Geretsried waren ohne tiefere Wirkung geblieben. Immerhin hatte Schwarz den Unterricht nicht völlig ungenutzt verstreichen lassen. Während ein Großteil der Klasse vor dem salbungsvollen Vortrag eines ehemaligen, damals aber schon verheirateten, Priesters in den Schlaf flüchtete, entwickelte er eine raffinierte Schlauchkonstruktion, mit deren Hilfe der Inhalt einer Bierflasche aus der Schultasche in seinen Mund gelangte.
Später hatte er es sich angewohnt, hin und wieder um himmlische Unterstützung zu bitten. Er glaubte zwar nicht ernsthaft, dass er gehört wurde, fühlte sich aber irgendwie besser dabei.
Schwarz warf einen Euro in den Opferkasten und griff zu einer Kerze. Mit dem Fingernagel ritzte er seine Initialen ins Wachs, was kein magisches Ritual, sondern ein Akt des Misstrauens war. Einmal hatte er beobachtet, wie ein Messner, kaum dass der Gläubige gegangen war, dessen Opferkerze ausgeblasen, neu zugeschnitten und zu den frischen zurückgelegt hatte. Ein solch weltlicher Pragmatismus widersprach sogar Schwarz’ eher schwach ausgeprägter Spiritualität.
Worum will ich überhaupt bitten?, dachte er. Dass ich den Auftrag zu Loewis Zufriedenheit erledige? Zu banal. Dass mir bei meinen Ermittlungen nichts passiert? Blödsinn. Dass Burger und seine Kameraden nicht noch mehr Unheil anrichten? Eine zu dreiste und umfangreiche Forderung. Immerhin zahle ich nicht mal mehr Kirchensteuer.
Schließlich beschloss er, es dem lieben Gott selbst zu überlassen, was ihm der Euro wert war, und verließ den Dom ohne Kreuzzeichen.