25.

»Um eins am Zeitschriftenkiosk im Pasinger Bahnhof«, hatte Heiner gesagt.

»Kannst du mir nicht einfach deine Adresse verraten?«

»Nein.«

Schwarz war fünf Minuten zu früh da. Schülermassen strömten an ihm vorbei zur S-Bahn. Er wurde ein paarmal angerempelt und wartete vergeblich auf eine Entschuldigung. Er überlegte, ob er in diesem Alter höflicher gewesen war. Er wusste es nicht mehr. Doch. Er erinnerte sich, im Bus und in der S-Bahn ab und zu seinen Platz für ältere Leute geräumt zu haben. Sie hatten aber oft abgelehnt. Vermutlich waren sie damals so alt gewesen wie er heute.

Er seufzte. Etwas mehr als ein halbes Jahr noch, dann war es auch bei ihm so weit. Er sollte langsam die Feier planen, Kneipen testen, eine auf Oldies spezialisierte Band suchen. Aber wie konnte er seinen Fünfzigsten feiern, solange seine Ehe mit Monika sich in diesem seltsamen Zwischenzustand befand? Andererseits würde eine große Party sie vielleicht rühren. Wenn er alle Freunde und Bekannte einlud, die ihm je über den Weg gelaufen waren, würde Monika vielleicht begreifen, was für ein netter Kerl er war. Aber das war ja gar nicht ihr Problem.

Sein Handy klingelte.

»Heiner?«

»Bist du allein?«

»Ja, wieso?«

»Du verlässt jetzt den Bahnhof über den Südausgang. Dann gehst du fünfhundert Meter in westlicher Richtung …«

»Heiner, sag mir doch einfach, wo du bist.«

»Nein.«

Schwarz blieb nichts anderes übrig, als den Anweisungen zu folgen. Er wurde kreuz und quer durch Pasing gelotst, bis er vor dem Gebäude einer ehemaligen Fabrik stand. Wo früher Stoffe gefärbt wurden, waren jetzt ein Bioladen, eine Ayurveda-Praxis und ein Ableger der Volkshochschule untergebracht.

»Ist dir jemand gefolgt?«, kam Heiners Stimme aus dem Handy.

Schwarz sah sich um. »Sind Mütter, die sich ihre Säuglinge mit bunten Tüchern an die Brust binden, verdächtig?«

»Immer noch der alte Spaßvogel«, sagte Heiner. »Du gehst jetzt ums Haus herum, da ist eine Feuerleiter. Tritt nicht in die Scherben, die überall rumliegen.«

»Aber du verlangst nicht, dass ich die Leiter hochklettere?«

»Stell dich nicht an, Toni, wir sind erst fünfzig.«

»Neunundvierzig. Bin schon unterwegs.«

Auf dem Hallendach befand sich ein etwa vierzig Quadratmeter großer Aufbau, der von unten nicht zu sehen gewesen war. Er hatte kleine vergitterte Fenster und eine Eisentür, aus der Heiner mit einer Kippe im Mundwinkel trat.

»Eigenwilliges Häuschen«, sagte Schwarz.

»Hat sich der Sohn des letzten Fabrikbesitzers bauen lassen. Er soll unter Verfolgungswahn gelitten haben.«

»Aber dir geht’s so weit gut?«

Heiner ließ sich nicht provozieren.

»Erklärst du mir jetzt, was das Theater sollte?«, sagte Schwarz.

»Theater? Da drinnen befindet sich eines der wichtigsten Archive zum Rechtsextremismus in Deutschlandüberhaupt. Ich habe Material, um das mich der Verfassungsschutz beneidet.«

»Kompliment. Trotzdem verstehe ich die Schnitzeljagd nicht.«

»Wenn die Faschos rauskriegen, wo das Material liegt, dauert es nicht lange, bis es hier brennt. Ich bin schon mal in letzter Minute umgezogen.«

Schwarz nickte.

Sie musterten sich eine Weile stumm und unverhohlen. Fast zehn Jahre hatten sie sich nicht mehr gesehen. Schwarz registrierte bei seinem alten Schulfreund leicht schütteres Haar und die rauchertypische Gelbfärbung der Zähne, Heiner blickte missbilligend auf Antons Bauchansatz. Dennoch kamen beide zum Schluss, dass sie sich für ihr Alter ganz gut gehalten hatten.

»Aber du bist nicht mehr in diese Monika verliebt?«, sagte Heiner lachend.

»In meine Frau? Natürlich.«

»Und wie werdet ihr mit den Abnutzungserscheinungen fertig?«

Schon wieder dieses ekelhafte Wort, dachte Schwarz und setzte ein unschuldiges Gesicht auf. »Was meinst du damit?«

»Na, mit dem Gefühl, alles schon hundert Mal erlebt zu haben.«

Schwarz hatte keine Lust zuzugeben, dass er die positiven Wiederholungen sogar sehr schätzte. Er hätte jeden Tag mit Monika schlafen können und wäre dabei auch ohne den Thrill des Neuen und Unberechenbaren glücklich gewesen. »Nein, unsere Ehe ist immer noch aufregend.«

»Uns geht’s leider nicht so gut«, seufzte Heiner.

»Ach, du bist gar nicht solo?«

»Ich bin seit acht Jahren verheiratet. Hannah ist Managerin bei einem Medienkonzern.«

»Und hat sich in einen Typen wie dich verknallt?«

»Erfolgreich ist sie selber.«

»Dann liebt sie dich wirklich. Heiner, das ist wunderbar.«

»Sie unterstützt auch großzügig meine Arbeit.«

»Mensch, dann streng dich an! Du hast das große Los gezogen. Abnutzungserscheinungen, so ein Quatsch.«

»Findest du?«

»Aber klar. Solche Probleme machen sich Leute, die sonst keine haben.«

Heiner blickte am steilen Satteldach eines über hundert Jahre alten Mietshauses vorbei zu einem Mobilfunkmasten in der Ferne und verlor sich in Gedanken.

Schwarz wurde ungeduldig. »Zeigst du mir jetzt mal dein Archiv?«

»Ach so, klar, komm.«

Es dauerte ein wenig, bis Schwarz’ Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann sah er eine Regalschlucht mit Aktenordnern. An deren Ende standen ein verschlissenes Sofa und ein Schreibtisch mit einem PC. Darüber hing ein Plakat. Über dem Foto eines Aufmarsches von Glatzköpfen prangte der Schriftzug: Wir müssen leider draußen bleiben.

Immer noch der alte Kämpfer, dachte Schwarz. Irgendwie rührend.

»Ein Bier?«

Schwarz machte eine abwehrende Geste, dann erinnerte er sich, dass er schon lange nicht mehr bei der Kripo war. »Gern.«

Heiner öffnete die Flaschen mit dem Feuerzeug, und sie prosteten sich zu.

»Ich bin ja froh, dass sie dich bei der Polizei rausgeworfen haben, Toni.«

»Wie bitte!«

»Soll ich dir mal ein paar ehemalige Kollegen nennen, die mit meinen braunen Freunden hier auf Du und Du sind?«

»Die gibt’s doch überall. Bei der Polizei findest du den ganz normalen gesellschaftlichen Querschnitt, ein paar Dumpfbacken, eine Menge Gleichgültige, aber auch viele anständige Leute.«

»Wenn du in der Burger-Sache ermittelst, kennst du vielleicht diesen Kolbinger?«

Schwarz zuckte zusammen und sah Heiner fragend an.

Der stand auf, lief die Regale entlang, zog da und dort ein paar Ordner heraus, blätterte, schüttelte den Kopf und suchte weiter. Endlich warf er Schwarz ein Foto auf den Tisch. Es zeigte Männer in Phantasieuniformen, die sich vor einem Zelt in Tarnfarben aufgereiht hatten. Heiner deutete auf eine Gestalt im Hintergrund.

»Ist er das?«

Schwarz war sich nicht sicher. Der Mann auf dem Foto war halb verdeckt und deutlich jünger als Kolbinger.

»Die Aufnahme ist fünfzehn Jahre alt, Toni. Ich weiß sicher, dass er bei der Truppe war.«

»Was ist das für ein Verein?«

»Eine Wehrsportgruppe. Hat sich inzwischen altersbedingt aufgelöst.«

»Kolbinger hat im Wald rumgeballert und Krieg gespielt?«

»Und dazu Nazilieder gesungen.«

»Ach was. Kolbinger ist doch kein Nazi.«

»Vielleicht nicht mehr. Aber wer weiß, ob er nicht gern mal ein Auge zudrückt, weil sein Herz immer noch für die nationale Sache schlägt.«

Kolbinger. Das wollte nicht in Schwarz’ Kopf. Konnte er sich so in ihm getäuscht haben? Waren die gemäßigten politischen Ansichten Kolbingers immer nur Tarnung gewesen?

»Also, was für Infos brauchst du?«, riss Heiner ihn aus den Gedanken.

Schwarz fasste seine bisherigen Erkenntnisse zusammen. Er bewahrte, wie mit Loewi besprochen, absolutes Stillschweigen über Marco Kessler und erkundigte sich eher allgemein nach der Braunen Hilfe. Heiner kannte die Organisation. »Unter den Mitgliedern sind Journalisten und Anwälte. Sie sorgen dafür, dass Gesinnungsgenossen während der Haftzeit bei der Stange bleiben und nicht auspacken.«

»Ist es denkbar«, fragte Schwarz, »dass jemand wie Tim Burger durch die Braune Hilfe überhaupt erst zum Radikalen wird?«

»Ja, klar. Überleg mal, mit so einer brutalen Tat, mit der Erinnerung an die unschuldigen Opfer kannst du als normaler Mensch doch gar nicht leben. Wenn dir dann einer erklärt, dass du ein Held bist, nimmst du das womöglich dankbar an.«

»Gespräche mit Besuchern werden doch überwacht?«

»Bei weitem nicht alle. Außerdem versucht die Braune Hilfe, ihre Leute auch als Angestellte in die Haftanstalten einzuschleusen.«

»Mit Erfolg?«

Heiner hob die Schultern. »Das wissen wir ehrlich gesagt nicht.«

»Wer ist wir?«

Heiner lächelte. »Ich mache diese Arbeit nicht alleine. Wir sind ein Verein. Zu uns gehören ein paar junge Leute, die zum Beispiel die Deutschlandtreuen ausspioniert haben, ältere Antifaschisten, die als Biedermänner getarnt zu Veranstaltungen der NPD gehen, oder Computerfreaks, die als Hacker in braunen Chats unterwegs sind.«

»Hast du mal von einem Vaterländischen Netzwerk gehört

»Das hat Burger erwähnt? Wirklich?« Heiner war wie elektrisiert.

Schwarz schüttelte den Kopf. »Nicht er.«

»Wer dann?«

»Kann ich dir leider nicht sagen.«

Heiner verzog enttäuscht das Gesicht. »Toni, das ist eine ganz heiße Geschichte. Der Verfassungsschutz behauptet zwar, das Netzwerk wäre nur ein Mythos, um zweifelnde Kameraden wieder auf Kurs zu bringen.«

»Aber?«

»Ich weiß, dass es seit längerem Bestrebungen gibt, die zersplitterte Neonazi-Szene neu zu strukturieren. Leider haben wir keine Ahnung, wer da dahinterstecken könnte.« Er nahm einen Schluck Bier. »Das kann bedeuten, dass es die Gruppe tatsächlich nicht gibt – oder dass sie weit professioneller vorgeht als alle bisherigen.«

»Weil die Geheimhaltung so perfekt funktioniert?«

»Exakt.«

 

Schwarz war die Feuerleiter schon bis zur Hälfte hinabgestiegen, als Heiner noch einmal nach ihm rief. »Warte, ich habe noch was für dich.«

Stöhnend kletterte der Ermittler wieder nach oben. Heiner hielt ihm einen Veranstaltungsprospekt hin.

»Burschenschaft Manzonia

»Ich kann mich da nicht mehr blicken lassen, seit ich was über deren Umtriebe ins Netz gestellt habe. Würdest du für mich hingehen?«

»Zu einem Vortrag über die wahren Grenzen des Deutschen Reichs?« Schwarz machte ein angewidertes Gesicht.

»Ist ja erst nächste Woche.« Heiner zog ein Aufnahmegerät, nicht größer als eine Streichholzschachtel, aus der Tasche.

»Das ist nicht dein Ernst?«

»Komm, Toni, das ist auch spannend für dich. Es gibt interessante Verbindungen zwischen der Manzonia und der Braunen Hilfe

Schwarz seufzte.