10.
Schwarz stand vor einer Haustür in Untermenzing. Sein Blick wanderte über die Fassade mit den blauen Fensterläden und dem Rosenspalier. Für ein Reihenmittelhäuschen wirklich hübsch, dachte er. Er wog den Schlüssel in der Hand. Klingeln oder einfach reingehen? Es war sein Haus, hier hatte er fünfzehn Jahre lang gelebt. Bis Monika ihm den Auszug nahegelegt hatte. Seither bot sie ihm in regelmäßigen Abständen eine finanzielle Entschädigung an, die er jedes Mal kategorisch ablehnte. In Beziehungskrisen sollte man sich vor übereilten Entscheidungen hüten. Seit seinem Auszug waren drei Jahre vergangen.
Schwarz ignorierte die Klingel und benutzte seinen Schlüssel.
Aus der Küche kam ihm ein kahlköpfiger Mann in seinem Alter entgegen und schaute ihn mit großen Augen an. Er trug eine Kochschürze mit Abbildungen sämtlicher italienischer Nudelformen.
»Lass dich nicht stören, Justus, ich bin hier zu Hause«, sagte Schwarz.
Der Mann holte tief Luft, aber bevor er etwas sagen konnte, war Schwarz bereits im Wohnzimmer.
Monika und seine einundzwanzigjährige Tochter Luisa saßen auf der Couch und studierten einen Reiseprospekt.
»Wenn man überlegt, wie viel billiger das Essen in Vietnam ist«, sagte Luisa, »dann reduzieren sich die Reisekosten natürlich deutlich.« Offenbar pumpte sie ihre Mutter um einen Urlaubszuschuss an. Da Luisas Begabung vor allem im kreativen Bereich lag, steckte sie häufig in finanziellen Nöten. Schwarz rechnete es ihr hoch an, dass sie sich trotz ihrer attraktiven Erscheinung bisher keinen doofen reichen Typen geangelt hatte. So viel Charakter musste belohnt werden. »Ich beteilige mich gern mit ein paar Hundert Euro.«
»Anton«, sagte Monika, »ich hab dich gar nicht klingeln hören.«
»Dein Koch hat mich reingelassen.«
»Ist doch nicht wahr«, sagte Justus, der Schwarz gefolgt war. »Ich finde, er muss endlich den Schlüssel abgeben. Er kann hier nicht einfach reinplatzen.«
»Kann er«, sagte Schwarz. »Und jetzt bittet er dich, uns allein zu lassen. Er ist nämlich in einer beruflichen Angelegenheit hier.«
»Wie, jetzt werde ich vor die Tür geschickt?«
»Lass mich das regeln, Justus«, sagte Monika.
Ihr Freund zog sich widerwillig zurück.
»So kann das nicht weitergehen, Anton«, sagte Monika. »Wir …«
Schwarz unterbrach sie. »Ich habe leider gar keine Zeit für Diskussionen, ich muss in die Karibik.«
»In die Karibik, natürlich. Du gehst doch jedem Gespräch über eure Beziehung aus dem Weg«, sagte Luisa.
Sie fällt mir also in den Rücken, dachte Schwarz und zog innerlich seinen Zuschuss zum Urlaubsgeld wieder zurück.
»Es wäre für euch alle drei besser, wenn ihr endlich für klare Verhältnisse sorgen würdet.«
»Klare Verhältnisse mit deinem Vater«, höhnte Monika.
»Ich bin immer für Klarheit und weigere mich lediglich, einen vorübergehenden Zustand als endgültig zu betrachten.«
»Für mich ist die Trennung endgültig, Anton.«
»Macht nichts«, sagte Schwarz und bat Luisa, ihre Mutter und ihn für ein paar Minuten allein zu lassen. Seine Tochter verließ kopfschüttelnd den Raum.
»Linda Heintl«, sagte Schwarz, »was für eine Schülerin war sie?«
Monika seufzte. »Du hast echt Nerven, Anton.«
»Es ist wichtig. Also?«
»Keine besonders gute, obwohl ich sie für überdurchschnittlich intelligent halte.«
»Raffiniert ist sie auf jeden Fall. Du hast sie als Prinzessin bezeichnet?«
»Weil sie ihre Mitschüler wie Sklaven behandelt hat.«
»Ah, verstehe. Sie war aber ziemlich begehrt?«
»Männlicher Masochismus ist weit verbreitet.«
Schwarz beschloss, diese Spitze zu übergehen. »Hatte sie irgendwelche besonderen Interessen oder Eigenarten?«
Monika hob die Schultern. »Auffällig war höchstens, dass sie bei jedem neuen Lehrer ausgetestet hat, wie weit sie gehen kann. War er zu nachgiebig, hat sie ihn vor allen Mitschülern lächerlich gemacht.«
»So wie ihren Freund Tim?«
»Na ja, er hat sich erst nicht auf ihre Machtspielchen eingelassen – bis sie vor ihm mit anderen Jungs rumgemacht hat.«
»Um zu sehen, ob er um sie kämpft?«
»Oder wie manipulierbar er ist.«
»Und?«
»Die Prinzessin und ihr Hündchen, so haben wir die beiden im Lehrerkollegium genannt.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Weißt du was über Lindas Aktivitäten außerhalb der Schule?«
»Tanzen, Sport, nichts?«
»Halt, warte. Ich habe mal ihr Handy konfisziert, weil sie es im Unterricht benutzt hat. Da waren ziemlich abstruse Fotos drauf. Jungs in Bundhosen und schwarzen Hemden, Mädchen in blauen Faltenröcken und weißen Blusen, das Haar ordentlich um den Kopf geflochten.«
Schwarz schaute sie neugierig an. »Pfadfinder?«
»Auf den ersten Blick sah es tatsächlich nur nach Lagerfeuer-Romantik aus, aber da waren diese Fahnen.«
»Fahnen?«
»Ja, schwarz-weiß-rote, mit so einem Kreuz drauf.«
»Die Reichskriegsflagge?«
»Könnte sein, ja.«
»Hast du Linda darauf angesprochen?«
Monika schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Ich konnte ja schlecht zugeben, dass ich mir ihre privaten Fotos angeguckt hatte. Aber in den Wochen darauf ist mir aufgefallen, dass sie manchmal Wörter wie Deutschtum oder Rasse verwendet hat. Ich habe den Geschichtslehrer gebeten, ein ernstes Wörtchen mit ihr zu reden, danach war das vorbei.«
»Einsicht oder Tarnung?«
»Schwer zu sagen bei einer wie Linda.«
»War Tim in dieser Zeit schon mit ihr zusammen?«
»Noch nicht, soweit ich weiß.«
Schwarz bedankte sich bei seiner Frau, gab seiner Tochter alles, was er an Scheinen in der Geldbörse hatte, und hinterließ Justus den hinterhältigen Tipp, sich Monika gegenüber bloß nicht zu nachgiebig zu verhalten.