53.

Schwarz wusste, dass er Loewi dringend einen Bericht schuldete. Da er Dienst in der Karibik hatte, verabredete er mit ihm ein Treffen an Cindys Wohnmobil. Er nahm wie üblich das Fahrrad und wollte den Weg nutzen, um ein wenig Ordnung in seinem Kopf zu schaffen. Aber immer wieder überfielen ihn Bilder seiner Mutter. Er sah sie stumm und hilflos im Krankenbett liegen oder sich als Mädchen verzweifelt an ihrer Mama festklammern.

Schwarz zwang sich zur Konzentration. Er hatte erstens herausgefunden, dass der Mann, von dem sie beobachtet worden waren, tatsächlich Bernhard Hörwig hieß und ein Spitzel des Verfassungsschutzes war. Er hatte zweitens erreicht, dass Rainer Bandmann, den Burger vor seiner Amokfahrt in Lindas Bett erwischt hatte, unter Polizeischutz stand. Er war drittens an wichtige Informationen über den Gefängnispsychologen von Medingen gelangt, von dessen Parteigründung Loewi wahrscheinlich bereits aus den Nachrichten erfahren hatte. Er musste viertens seinen Auftraggeber über die schwarze Liste informieren und mit ihm über Vorsichtsmaßnahmen reden. Und fünftens verdichteten sich die Hinweise, dass Tim Burgers Freilassung unmittelbar bevorstand.

Schwarz wartete an der Ampel vor der Fürstenrieder Straße auf Grün, als ihn ein akustisches Signal auf eine SMS von Heiner hinwies.

Haben Linda leider verloren. Suche bisher erfolglos.

»Scheiße!« Schwarz schlug mit der Hand auf den Lenker.

 

Zur selben Zeit trat Karl Loewi vor seinem Wohnhaus in Neuhausen auf die Straße. Er brauchte einen Moment, bis er sich erinnerte, wo er seinen Wagen geparkt hatte, und machte sich dann Richtung Rotkreuzplatz auf.

Den dunkelblauen Audi, der etwa fünfhundert Meter von ihm entfernt am Straßenrand stand, registrierte er nicht. Er grüßte eine Nachbarin, die ihren Jack Russel ausführte. »Wie geht’s, Frau Danner?«

»Gott sei Dank wieder besser. Ich war beim Osteopathen. Kann ich Ihnen nur empfehlen, Herr Loewi.«

»Wenn ich mal Bedarf habe, melde ich mich wegen der Nummer bei Ihnen. Schönen Abend noch.«

 

Der Audi fuhr jetzt mit abgeblendeten Scheinwerfern in Schrittgeschwindigkeit auf Loewi zu.

»Beweise uns, dass du kein Verräter bist«, sagte Linda und drückte Marco die Pistole in die Hand. Die beiden saßen im Fond des Wagens, Hörwig am Steuer.

»Linda«, jammerte Marco, »was hat er euch denn getan?«

»Das fragst du? Er wollte dich umdrehen!«

»Ich kann das nicht.«

Loewi war noch fünfzig Meter entfernt.

»Du musst nur abdrücken, Mann.«

Marco starrte auf die Pistole.

»Es ist deine allerletzte Chance!«, schrie Linda, »checkst du das nicht?« Sie fuhr die Scheibe herunter.

Zwischen ihnen und Loewi lagen noch zehn Meter.

Marco hob die Pistole und zielte. Er weinte.

Hörwig beobachtete ihn im Rückspiegel.

»Noch nicht«, sagte Linda, »erst, wenn du seine Augen siehst.«

Marcos Hand zitterte.

Noch fünf Meter.

Da blickte Loewi in ihre Richtung und blieb irritiert stehen. Er erkannte sofort die Gefahr, war aber wie gelähmt.

»Jetzt!«, sagte Linda.

Marco biss sich auf die Lippen und drückte ab.

Die Kugel schlug dicht neben Loewi in einen Baumstamm ein.

»Mist«, sagte Hörwig und drückte aufs Gas. Der Motor heulte auf, der Wagen machte einen Satz und raste davon.

Linda fuhr schweigend die Scheibe hoch und versuchte, sich die Sekunden vor dem Schuss zu vergegenwärtigen. Marcos Zittern, Hörwigs Augen im Rückspiegel und dann … Es gab keinen Zweifel: Durch den bis dahin gleichmäßig fahrenden Wagen war ein Ruck gegangen.

»Du bist nicht zufällig auf die Bremse geraten, Bernhard?«, sagte sie.

»Wie?«, kam es von vorne. »Jetzt soll ich schuld sein?«

»Vielleicht habe ich mich ja getäuscht«, sagte Linda, klang aber nicht sehr überzeugt.

 

Die Menschenschlange reichte vom Eingang des Konsulats bis zur Straße und verdarb den Huren das Geschäft. Ein Angestellter versuchte verzweifelt, die Leute nach Hause zu schicken. Seine Rastafrisur war auf mittlere Länge gestutzt, offenbar ein Zugeständnis an den Arbeitgeber.

»Was ist denn hier los?«, fragte Schwarz.

»Es ist wegen dieser bescheuerten Fernsehdokumentation.«

Schwarz sah ihn fragend an. Er hatte seinen Fernseher seit Monaten nicht mehr angestellt.

»Die haben behauptet, bei uns würde jeder reich, der eine Taucherausrüstung besitzt.«

»Ach ja?«

»Weil da noch ein paar spanische und portugiesische Schiffswracks auf Grund liegen.«

»Mit Schätzen?«

»Quatsch, die sind natürlich längst geplündert. Aber jetzt wollen die alle ein Visum und der Konsul ist in Urlaub.« Er wandte sich wieder an die Wartenden. »Wie oft soll ich es denn noch sagen? Visa bekommen Sie nur in Berlin.«

Schwarz radelte kopfschüttelnd weiter. Er kontrollierte die Kamera hinter dem Gebäude. Da kam ein Anruf von Rebecca Loewi.

 

Als Schwarz zwanzig Minuten später am Tatort ankam, wurden die Absperrbänder bereits wieder entfernt, und die letzten Schaulustigen gingen nach Hause. Er entdeckte einen Spurensicherer, den er aus seiner Zeit bei der Polizei kannte, und ließ sich die Einschussstelle am Baum zeigen sowie die Position, von der aus vermutlich geschossen worden war. »Habt ihr außer dem Projektil was Brauchbares gefunden?«

»Nichts.«

»Zeugen?«

»Da fragst du besser deinen alten Spezi.«

Kolbinger verabschiedete gerade die Dame mit dem Jack Russel.

»Es tut mir leid, Herr Kommissar, dass ich eine so schlechte Beobachterin bin, aber das Fahrzeug ist in einem Affenzahn davongerast, und ich wollte mich doch um Herrn Loewi kümmern.«

»Das haben Sie jetzt drei Mal gesagt. Danke, Sie hören von uns«, sagte Kolbinger leicht gereizt und winkte Schwarz heran.

»Frau Loewi hat mir schon angekündigt, dass du kommst.«

»Dann weißt du ja jetzt, wer mein Auftraggeber ist.«

Er nickte.

»Wie geht es Loewi?«

»Gut.«

»Gut?«

»Also den Umständen entsprechend. Er hat großes Glück gehabt.«

»Wo ist er?«

»In seiner Wohnung.«

Schwarz wandte sich ab, aber Kolbinger hielt ihn am Arm fest. »Willst du gar nicht wissen, ob ich irgendwelche Hinweise auf die Täter habe?«

»Ich habe nicht den Eindruck, dass du welche hast.«

»Stimmt. Die Kollegen befragen gerade die Anwohner.«

»Da hat niemand was gesehen, sonst hätte er sich längst gemeldet.«

Sie schwiegen eine Weile.

»Wir müssen reden, Anton.«

»Ich geh jetzt zu Loewi.«

»Dann danach.« Kolbinger machte ein so unglückliches Gesicht, dass Schwarz sich erweichen ließ. »In einer halben Stunde bei dem Griechen da vorne.«