64.
Schwarz zog den Deckchair ans Fenster, kippte es und wickelte sich in seine wärmste Wolljacke. So fror er nicht und behielt gleichzeitig einen kühlen Kopf. Er war sich seines Hangs zur Melancholie und Sentimentalität bewusst, hatte im Lauf der Jahre aber Strategien entwickelt, diese Schwächen im Zaum zu halten – zumindest, wenn die Situation es erforderte. Deshalb legte er jetzt nicht die Miles-Davis-Platte mit dem Concierto de Aranjuez auf, die er gern gehört hätte. Er trank auch kein Bier und schaute nicht auf die Straße, deren lebendiges Hin und Her ihn nur auf seine Einsamkeit gestoßen hätte. Aus seiner halb liegenden Position sah er nur den blauschwarzen Himmel mit einigen Leitungen und Satellitenschüsseln davor.
Schwarz vertrieb tapfer das Bild seiner Mutter, die sprachlos und mit offenen Augen im Krankenbett lag. Er verbot es sich auch, über Monika nachzudenken, die den langweiligen Justus als Gefährten für den Alltag vorzog, aber mit Schwarz Sex hatte. Er beklagte weder die Tatsache, dass seine Tochter Luisa ihm immer fremder wurde, noch dass sein Auftraggeber Karl Loewi ihm gekündigt hatte. Er erforschte auch nicht sein Inneres, ob er sich möglicherweise ein klein wenig in Eva Hahn verliebt hatte.
Anton Schwarz war in dieser einsamen Nachtstunde an einem Fenster der westlichen Landsberger Straße in München beherrscht wie lange nicht mehr. Denn ihm war klar, dass es jetzt nicht um ihn ging.
Er dachte an die Brandruine in der Gollierstraße, die inzwischen wahrscheinlich komplett abgerissen war, und die Celiks, die zwei Familienmitglieder im Feuer verloren hatten. Sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und hatten für ihren Mut, Tim Burger der Polizei zu überantworten, entsetzlich büßen müssen.
Er dachte an Rainer Bandmann, der im Stil der übelsten Rassenhetze bedroht worden war, bloß weil er sich von einer durchtriebenen Blondine für ihre Machtspielchen hatte missbrauchen lassen.
Er dachte an den Mordversuch an dem aufrechten Karl Loewi, der mit seinem idealistischen Aussteigerprogramm zur Hassfigur der Neonazis geworden war.
Er dachte an Marco Kesslers abgrundtiefe Angst und mutmaßliche Entführung, an Linda Heintls Ablenkungsmanöver, durch das er wie ein Anfänger vorgeführt worden war, und an das Untertauchen dieser tickenden Zeitbombe Tim Burger. Sein Gefühl sagte ihm, dass bei all diesen Ereignissen Jörg von Medingen Regie geführt hatte.
Und dann gab es noch diese Handgranate, die irgendwo auf ihren Einsatz wartete. Schwarz hatte eigentlich keinen Zweifel mehr, dass dafür die morgige Demonstration vorgesehen war.
Ich werde da sein, dachte er, aber nicht als Ordner, der nach Störern Ausschau hält. Die alten Kollegen von der Polizei greifen sich auch ohne meine Aufforderung mit Begeisterung jeden Radaubruder.
Ich werde da sein, auch wenn Loewi mich entlassen hat.
»Ich werde wegen mir da sein«, sagte er laut.
Dann holte er sich ein Bier und legte Miles Davis auf.
Knapp sechs Stunden später riss ihn das Telefon aus seinem traumlosen Schlaf. Kolbinger.
»Anton«, sagte er mit einem seltsamen Ton in der Stimme, »tust du mir einen Gefallen?«
Zehn Minuten später stand Schwarz unfrisiert und noch halb ohnmächtig auf der Straße.
»Sie müssen mal wieder zum Friseur«, rief Jo aus dem Koh Samui. »Es ist nicht gut, wenn ein Mann in Ihrem Alter sich so gehen lässt.«
Schwarz reagierte nicht. Er sah von der Innenstadt herkommend ein anthrazitfarbenes Fahrzeug mit Blaulicht, das die Wagenkolonne zum Teil auf dem Fahrradweg überholte. Die Ampel sprang auf Rot, der Fahrer ließ eine Sirene aufheulen und lenkte den Wagen quer über die Kreuzung auf die Gegenspur, an deren Rand Schwarz stand.
Kolbinger stieß von innen die Tür auf.
»Wo?«, fragte Schwarz.
»In der Aubinger Lohe.«
»Ich habe nicht gefrühstückt«, sagte Schwarz, »wenn du willst, dass ich bis Aubing dabei bin, fahr nicht wie eine gesengte Sau.«