48.
»Ich muss dringend mit dir reden, Heiner.«
»Heute noch?«
»Ja.«
»Wir sind schon im Bett.«
»Um halb elf?«
»Mein Gott, so was kommt in den besten Familien vor, Toni.«
»Dann beeil dich«, sagte Schwarz. »In fünfzehn Minuten in deinem Archiv?«
»Zwanzig.«
Fünfundzwanzig Minuten später kletterte Schwarz hinter Heiner die Feuerleiter hoch. Im Archiv gab er ihm erst einmal das Aufnahmegerät zurück. »Ich denke nicht, dass was Interessantes dabei ist. Der Vortrag war lächerlich, Alexander Fritz hat mehr gehustet als geredet, und dass dort das eine oder andere fragwürdige Lied gesungen wird, dürfte bekannt sein.«
»Was willst du dann so dringend von mir?«
Schwarz reichte ihm wortlos die Einladungskarte, die von Medingen ihm gegeben hatte.
»Pressekonferenz anlässlich der Parteigründung Die Rechten?« Er schüttelte irritiert den Kopf und schaltete seinen PC ein. Der Bildschirm hellte sich auf. Heiner gab routiniert Befehle ein, trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte und tippte hektisch weiter. »Da haben wir sie: www.die-rechten-muenchen.«
Schwarz stützte sich auf Heiners Schultern. Auf der Website lief eine Diashow mit kiffenden Kindern, saufenden Obdachlosen, jungen Ausländern, die in einem U-Bahnhof einen alten Mann zusammenschlugen, und Huren auf der Landsberger Straße.
In Fraktur stand zu lesen: Wie lange noch?
Es folgten Fotos idyllischer bayerischer Landschaften und Stadtansichten. Der weißblaue Schriftzug Die Rechten schob sich ins Bild.
Endlich. Die rechte Alternative!, sagte eine sonore Männerstimme.
Heiner klickte den Button Persönlichkeiten an.
Jörg von Medingen strahlte ihnen entgegen. Unter seinem Porträt stand handschriftlich: Ich werde Ihre Stimme sein. Ein kurzer Lebenslauf informierte darüber, dass der 1968 in Ingolstadt geborene von Medingen sein Abitur an einem Benediktiner-Internat mit dem Notenschnitt von 1,3 absolviert habe. Nach dem Studium der Psychologie in München sei er an das Bundeswehrzentralkrankenhaus in Koblenz berufen worden.
Den Rest kannte Schwarz. Neu war für ihn nur, dass von Medingen bereits vor einem Jahr aus der CSU ausgetreten war.
»Die Begründung ist gut«, lachte Heiner höhnisch und las vor. »Die Christsozialen haben sich in letzter Zeit mehr und mehr nach links entwickelt. Dadurch habe ich, wie viele Menschen in Bayern, meine politische Heimat verloren.«
Er begann wieder zu tippen. »Über den Typ muss ich mehr wissen.«
Schwarz bremste ihn. »Hör mir doch erst mal zu.«
Heiner sah ihn fragend an.
»Jörg von Medingen ist niemand anderer als der Gefängnispsychologe, der Tim Burger betreut und für seine baldige Entlassung gesorgt hat.«
Heiner erstarrte. Dann sprang er auf und schlug mit solcher Wucht auf die Tischplatte, dass der Bildschirm wackelte. »Das darf doch nicht wahr sein, die machen den Bock zum Gärtner! Und das soll keiner gemerkt haben?«
»Von Medingen ist kultiviert, smart, verbindlich. Einen Rechtsradikalen stellt man sich anders vor.«
»Klar, die neue Masche: Neonazis in Nadelstreifen.« Heiner lief wütend zum Kühlschrank, öffnete zwei Bierflaschen mit dem Feuerzeug, reichte eine Schwarz und nahm einen Schluck aus der zweiten.
»Ich sag dir, was das für eine Psychotherapie war. Burger ist durch die Gehirnwäsche der Braunen Hilfe gegangen.«
»Du glaubst, dass von Medingen zu dem Verein gehört?«
»Wir wissen, dass die Braune Hilfe seit den fünfziger Jahren aus den Reihen der Manzonia finanziell unterstützt wird – und nicht nur das. Es ist gut möglich, dass einer der honorigen Alten Herren seinen Einfluss geltend gemacht hat, um dem Bundesbruder die Stelle im Knast zu verschaffen.«
Schwarz musste an ein Pressefoto denken. Es war unmittelbar nach der Urteilsverkündung im Burger-Prozess aufgenommen worden. Tim starrte mit völlig leerem Blick in die Kamera. Er war ein Mörder, dadurch aber auch schwer traumatisiert. Die Vorstellung, dass von Medingen das Gehirn dieses jungen Menschen über Jahre hinweg mit rassistischen und antisemitischen Botschaften manipuliert haben könnte, war schrecklich.
Heiner stellte sein Bier neben der Tastatur ab. Unter den Persönlichkeiten, die auf der Website der neuen Partei vorgestellt wurden, entdeckte er auch einen ehemaligen NPD-Funktionär, der seine alte Partei aus Protest gegen die seiner Ansicht nach halbherzige Abgrenzung zu gewaltbereiten Gruppen verlassen hatte.
»Das ist der Hohn. Der hat selbst eine Vorstrafe wegen Körperverletzung. Aber da ging’s ja nur um die Ehefrau. Aha, und da haben wir einen der Finanziers.«
»Mein Freund Alexander Fritz«, stöhnte Schwarz.
Heiner verließ die Website und gab den Namen Jörg von Medingen in eine Suchmaschine ein.
»Er ist Marathon gelaufen, sauber – natürlich rund ums Hermannsdenkmal.« Er rief den nächsten Eintrag auf. »Und Gastredner war er, bei einer Demonstration gegen den Irakkrieg.«
»Den Irakkrieg?«
»Wenn es gegen die Amerikaner geht, sind die immer dabei. … Das hier ist noch interessant. Eine Petition gegen Tierquälerei.«
Heiner schüttelte den Kopf. »Da geht es nicht um Tiere, sondern um Stimmungsmache gegen Juden und Moslems, denen das Schächten verboten werden soll.«
Er klickte sich rasch durch einige Seiten, die nichts mit dem Gesuchten zu tun hatten, und stieß auf eine alte Publikation von Medingens. ›Die Organisationsfrage in der radikalen Linken.‹
»Der war mal Linksradikaler?«
»Möglich wäre sogar das, aber ich denke eher, er hat sie nur studiert nach dem Motto: Vom Feind lernen, heißt siegen lernen. Ich schau mal, ob ich die Arbeit antiquarisch kriege.«
Auch hierfür gab es Suchmaschinen. Doch von Medingens Werk war überall vergriffen.
»Als hätte er es systematisch vom Markt gekauft«, sagte Heiner. Er öffnete die nächste Flasche Bier. »Genau so ein Typ hat denen immer gefehlt. Er passt überhaupt nicht ins Bild des primitiven Rechten, ist hochintelligent und charismatisch.« Er trank und wischte sich den Mund ab. »Ich schwör dir, Toni, bei dem laufen auch die Fäden dieses Vaterländischen Netzwerks zusammen.«
Schwarz nahm Heiner die Flasche aus der Hand. »Du erinnerst mich ja gern dran, dass ich mal bei der Kripo war.«
Heiner langte nach der Flasche, aber Schwarz ließ ihn ins Leere greifen.
»Da habe ich was Wichtiges gelernt.«
»Keinen Alkohol im Dienst?«
»Keine voreiligen Schlüsse.«
Heiner winkte genervt ab, aber Schwarz ließ sich nicht beirren. »Bis jetzt wissen wir nur, dass von Medingen sich für die Freilassung Tim Burgers eingesetzt hat. Das könnte ja immer noch ein Akt der Barmherzigkeit gewesen sein.«
Heiner lachte nur höhnisch. »So wie dessen Gehirnwäsche?«
»Die Gründung einer neuen Partei rechts von der CSU ist jedenfalls kein Verbrechen.«
»Toni, das ist doch nur Tarnung. Die treten nach außen hin relativ gemäßigt auf und unterstützen gleichzeitig die gewaltbereite Szene.«
»Reine Spekulation, Heiner.«
»Du hast doch keine Ahnung.«
»Deswegen halte ich mich auch an die Fakten.«
Der Ton zwischen ihnen war plötzlich gereizt. Schwarz gab Heiner die Bierflasche zurück. »Sehen wir uns morgen?«
»Auf der Pressekonferenz, okay?«
Schwarz nickte und schaute auf die Einladung. »Es ist die Adresse der Manzonia.«
»Da haben die auch ihr Parteibüro – steht auf der Website«, sagte Heiner, immer noch ein wenig eingeschnappt.
Als Schwarz die Feuerleiter hinabkletterte, fiel ihm wieder ein, dass von Medingen über seinen Auftrag und Karl Loewi informiert gewesen war und dass dieses Wissen auf eine Verbindung zur rechtsextremistischen Gruppe um den V-Mann Hörwig hindeutete.
Er blickte nach unten und plötzlich überfiel ihn die Angst. Er sah sich selbst acht Meter über dem Boden an einer kahlen Fabrikfassade im Niemandsland von Pasing, beobachtet von Augen irgendwo im Dunkeln. »Verdammt, Schwarz«, murmelte er, »jetzt werd bloß nicht hysterisch.« Er atmete zwei-, dreimal tief durch und gelangte mit nur leicht erhöhtem Puls sicher am Boden an.