45.
Schwarz besaß einen Anzug. Einen einzigen. Monika hatte Anton vor vielen Jahren auf einer Wochenendreise nach Berlin am Ku’damm ins Geschäft eines ungarischen Herrenausstatters geschleppt. Du brauchst was Zeitloses, hatte sie ihm erklärt. Schwarz war es äußerst unangenehm gewesen, von oben bis unten vermessen zu werden. Er war verstummt und hatte nur mit Mühe über die Lippen gebracht, dass er dunkelgraues dunkelblauem Tuch verzog.
Der Anzug war zwei Wochen später mit der Post eingetroffen und tatsächlich zeitlos, weil der Schneider sich um ein paar Zentimeter vermessen hatte. Jedenfalls passte er Schwarz trotz seines inzwischen gewachsenen Bauchs immer noch.
Blieb das Krawattenproblem. Bis vor drei Jahren hatte Monika ihm damit geholfen. Okay. Heute musste es dann eben ohne gehen.
Er schlüpfte in seinen dunkelgrauen Anzug, entschied sich wie immer bei der Wahl zwischen einem weißen und einem blauen für das weiße Hemd und ließ den obersten Knopf offen. Es war ein Tick von ihm, dass er sonst nicht genug Luft zu kriegen glaubte. Eigentlich war Schwarz froh, dass er keine Krawatte binden konnte.
Er warf noch einmal einen Blick auf das Veranstaltungsprogramm der Burschenschaft Manzonia, das Heiner ihm mitgegeben hatte, und fuhr los.
In der Laimer Röhre, wie Münchens klaustrophobischer Tunnel hieß, spürte er plötzlich ein leichtes Kribbeln in der rechten Hosentasche. Das Aufnahmegerät hatte sich eingeschaltet. Er drückte die Off-Taste und bog nach der Unterführung in das Viertel westlich des Hirschgartens ein. Mein Gott, dachte er, da war ich lange nicht mehr. Der Hirschgarten war der Lieblingsbiergarten seiner Mutter, den sie möglichst bei jedem Aufenthalt in München besuchte. Und unverdrossen brachte sie immer eine Tüte altes Brot mit, obwohl die Hirsche und Rehe im Gehege am Rand des Biergartens so verwöhnt waren, dass sie nicht einmal daran schnupperten.
Schwarz nahm den Fuß vom Gas und wählte eine Handynummer.
»Heiner, wie schaut’s bei dir aus?«
»Am Westkreuz nichts Neues. Linda kommt, Linda geht. Sobald sie einen Friseurtermin hat, um sich für ihren Tim schön zu machen, lasse ich es dich wissen.«
»Kannst du mir noch ein paar Worte zur Manzonia sagen?«
»Aber gern. Sie besteht seit 1848. Ihren Namen verdankt sie der Herkunft ihres Gründers, ein freiheitlich gesinnter Student aus einem kleinen Dorf bei München. Dreimal darfst du raten.«
»Keine Ahnung.«
»Doch nicht Menzing?«
»Doch. In der Nazizeit wurde die Manzonia wie alle Burschenschaften verboten. 1946 wiedergegründet, fanden dort hohe Funktionäre des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes Unterschlupf und brachten die Manzonia unter dem Deckmantel einer demokratisch gesinnten Verbindung rasch auf strammen Rechtskurs. So ist es bis heute geblieben.«
»Wie viele Mitglieder hat der Club?«
»Die rücken natürlich keine Zahlen raus. Aber ich schätze, dass sie höchstens zwanzig Aktive, also studierende Mitglieder, und etwa zweihundert sogenannte Alte Herren haben.«
»Was sagt der Verfassungsschutz?«
»Nichts. Aber du wirst heute Abend bestimmt nicht der Einzige sein, der den Vortrag mitschneidet.«
»Alles klar, Heiner. Danke.«
Schwarz parkte einige Hundert Meter vor der Adresse der Burschenschaft, spazierte unter dem hellgrünen Blätterdach einer Lindenallee entlang und blieb gegenüber der repräsentativen Villa aus dem 19. Jahrhundert stehen. Er sah Taxis vorfahren, denen ältere Paare entstiegen, die wie zum Abonnementkonzert der Münchner Philharmoniker gekleidet waren. Er sah Studenten mit seltsamen Kopfbedeckungen in Gruppen herbeieilen und junge Frauen mit Duttfrisuren.
Es kostete Schwarz eine gewisse Überwindung, sich dieser Gesellschaft anzuschließen. Am Portal der Villa wurde er von einem bulligen jungen Mann im schwarzen Anzug aufgehalten. Schwarz registrierte den Knopf in seinem Ohr.
»Wohin wollen Sie?«
Schwarz zog das Programm heraus.
»Zu den Grenzen des Deutschen Reichs.«
Der Türsteher verzog keine Miene.
»Sind Sie zum ersten Mal hier?«
Schwarz nickte. Links und rechts von ihm traten die Leute ungehindert ein. Er blickte unauffällig nach oben, wo ihn eine Überwachungskamera im Visier hatte. »Ich dachte, es handelt sich um eine öffentliche Veranstaltung?«
Endlich bekam der junge Mann eine Anweisung. »Öffentlich, selbstverständlich. Der Saal befindet sich im ersten Stock.«
»Sehr freundlich«, sagte Schwarz.