66.

Es war ein Frühlingstag wie aus dem Bilderbuch, der Himmel weißblau, die Luft so angenehm warm, dass Kolbinger mit offenem Fenster fuhr. Schon einen Kilometer vor der Laimer Röhre tauchten die ersten Gruppen auf. Lachende Schüler, junge Familien mit Kinderwagen, die Kleinen auf den Schultern der Väter, die älteren Geschwister an der Hand der Mütter. Männer in Businessanzügen überholten Rentnerinnen mit Rollatoren.

Im Tunnel staute sich der Strom zum ersten Mal, weil scharenweise neue Demonstranten mit S-Bahnen am Bahnhof Laim ankamen.

Kaum zu fassen, dachte Schwarz, dass das kleine Organisationsteam um Eva Hahn und Mirjam Loewi in so kurzer Zeit so viele Menschen auf die Straße geholt hat. Die jungen Leute waren offenbar nach dem Schneeballprinzip vorgegangen und hatten jeden Freund darauf verpflichtet, mit mindestens zehn Bekannten zu kommen und diese Aufforderung genauso weiterzugeben. Außerdem hatten sie sich geschickt des Internets und der Presse bedient. Am Morgen waren in allen Münchner Zeitungen Anzeigen der beliebtesten Prominenten zu lesen gewesen, die erklärten, sie würden auf jeden Fall zur Kundgebung gehen.

Schwarz sah eine Gruppe Leute in seinem Alter. Sie hatten Plakate mit ihren Botschaften dabei und wirkten dabei so glücklich, als hätten sie ewig auf eine Gelegenheit gewartet, den rechten Volksverhetzern die Meinung zu sagen.

Eine Reihe junger Leute trugen weiße T-Shirts mit der Aufschrift »München sagt Nein.«

»Das sind Ordner«, erklärte Schwarz Kolbinger. Er selbst hatte sein T-Shirt in der Eile zu Hause liegen gelassen. Aber zumindest steckte die Binde noch in seiner Hosentasche. Er zog sie über den Oberarm.

»Da schau her«, sagte Kolbinger.

Dann standen sie im Stau. Die Autos kamen aus allen Richtungen und hatten die kleine Straße zu den Parkplätzen am Hirschgarten hoffnungslos verstopft. Kolbinger stellte das Blaulicht aufs Dach, aber es war sinnlos, die Fahrzeuge vor ihm hätten sich in Luft auflösen müssen.

Schwarz schaute auf die Uhr. Es war halb elf. »Danke fürs Mitnehmen, Kolbinger.«

Der ehemalige Kollege rief ihm noch etwas hinterher, aber Schwarz war bereits außer Hörweite.

Auf dem Gehweg unterhalb des Bahndamms herrschte ein Gedränge wie zur Oktoberfestzeit rund um die Wiesn. Schwarz trat auf die Straße, um schneller voranzukommen. Hinter ihm hupte ein Auto. Er schaute sich nicht um und beschleunigte nur den Schritt.

»Anton«, kreischte eine Frauenstimme. Im nächsten Moment hängte Cindy sich bei ihm ein. »Also, dich hätte ich hier am allerwenigsten erwartet«, sagte sie.

»Hast du gedacht, ich bin ein Rechter?«

»Ein Einzelgänger.« Da entdeckte sie die Ordnerbinde an seinem Arm. »Ach so, du machst es für Kohle.«

»Nein. Ehrenamtlich.«

»Du hast dich doch nie für Politik interessiert.«

»Du vielleicht?«

»Aber, klar. Ich war schon mit vierzehn bei den Jusos.«

»Beruflich?«

»Arsch.« Sie kniff Schwarz in seinen Hüftspeck. »Ich habe meine Trillerpfeife dabei. In Duisburg war ich bei allen Demos gegen Nazis. Und ich verrate dir was. Wenn ich merke, dass ich so einen Typen in meinem Wohnmobil habe, werfe ich ihn hochkant raus. Konsequent. Obwohl die total unangenehm werden können.«

»Ich muss weiter, Cindy.«

»Was, ich dachte, wir mischen die gemeinsam auf?«

Er tippte auf seine Ordnerbinde. Cindy sah ihm enttäuscht nach.

Schwarz drängelte sich durch einen Pulk Grundschüler, die mit ihrer Lehrerin unterwegs waren.

Auf den letzten paar Hundert Metern vor der Villa der Manzonia war fast kein Durchkommen mehr. Das Stimmengewirr, Rufen und Lachen wurde immer lauter. Bunte Luftballons rissen sich los und stiegen in den Himmel. Aus einer Musikanlage schepperte Musik. Die breite Straße mit den Alleebäumen und Grünstreifen auf beiden Seiten war zum Schauplatz eines Volksfestes geworden.

Das Grundstück der Burschenschaft war durch massive Absperrgitter gesichert, hinter denen mehrere uniformierte Polizisten standen. Etwa zwanzig Meter davon entfernt befand sich auf der anderen Straßenseite eine mit bunten Flaggen der verschiedensten Nationen geschmückte Bühne, auf die Schwarz zusteuerte, als er aufgehalten wurde.

»Anton, da schau her, haben sie dich befördert?« Jankl grinste und deutete auf die Ordnerbinde.

Schwarz war nicht nach scherzen zumute. Er betrachtete kopfschüttelnd den ehemaligen Kollegen, der wohl aus Gründen der Tarnung einen Trachtenanzug trug.

»Der Anzug ist von meinem Vater.«

»So schaut er aus. Ist der Buchrieser auch da?«

»Der hat sich krankgemeldet.«

»Hat er Probleme mit dem Einsatz gehabt?«

»Mit dem Alkohol gestern.«

»Wie viele seid ihr?«

»Fünf. Mit mir.«

»Wie bitte: Nur fünf?« Schwarz’ Herz setzte einen Moment lang aus. Er atmete tief durch. Was hatte er denn erwartet? »Habt ihr wenigstens ein aktuelles Foto von Burger?«

»Ja, sicher. Habe ich mir eigens aus dem Knast schicken lassen. Mach dir mal keine Sorgen, Anton. Wir sind hier nicht die Einzigen, die nach ihm Ausschau halten.«

Schwarz schaute ihn fragend an. »Habt ihr die Einsatzhundertschaft angefordert?«

»Haben wir. Außerdem möchte ich wetten, dass der Burger längst vom Verfassungsschutz eskortiert wird. Wenn er überhaupt auf dem Weg hierher ist.«

»Haltet bloß die Augen offen«, sagte Schwarz und kämpfte sich weiter voran.

Es dauerte noch einmal fast fünf Minuten, bis er die Bühne erreicht hatte. Er kletterte hinauf und suchte sich einen Platz zwischen zwei großen Lautsprecherboxen. Hier störte er keinen und hatte einen guten Überblick.

Die Zahl der Demonstranten war schwer zu schätzen. Es mochten fünf-, vielleicht sogar zehntausend sein und der Zustrom schien nicht abzureißen. Direkt vor der Bühne standen in Trainingsanzügen die Mitglieder des Sportvereins Blau-Weiß 57. Schwarz erkannte sofort Pavel Fraenkel, den Vereinsvorsitzenden, und den jungen Marek, der damals unter Burgers Wagen geraten war. Beide trugen Kippas.

Heiner und seine Leute hatten sich an den Absperrgittern vor der Villa aufgebaut. Sie winkten spöttisch zu den Fenstern im ersten Stock, hinter denen Burschenschaftler mit Fotoapparaten standen.

Schwarz hörte ein Knacken. Rainer Bandmann stand ein paar Meter von ihm entfernt in der Mitte der Bühne und testete die Lautsprecheranlage. »Eins, zwei, eins, zwei.«

Schwarz sah auf die Uhr. Es war genau elf. Kurz verstellte ein Kameramann ihm den Blick, entschied sich dann aber glücklicherweise für eine andere Perspektive.

Die erste Rednerin trat ans Mikrofon. Die stellvertretende Bürgermeisterin. Als sie ihr Grußwort verlas, den Organisatoren für ihr Engagement und den Teilnehmern für ihr Kommen dankte, ebbte der Lärm zum ersten Mal ein wenig ab.

Schwarz ließ seinen Blick über die Menschenmenge schweifen. Wie sollte er Tim Burger hier entdecken? Wenn er tatsächlich gekommen war und Ernst machte, würde es ein Blutbad geben, wie die Stadt es seit dem Attentat auf das Oktoberfest 1980 nicht mehr erlebt hatte.

Schwarz brach der kalte Schweiß aus. Wenn ich jetzt beten könnte, dachte er, und glauben, dass es hilft, und wüsste, zu wem: Ich täte es glatt.

»Ich habe doch gesagt, wir verlieren uns nicht aus den Augen.« Schwarz erkannte Loewis Stimme sofort. Er lächelte dem Anwalt zu, und sie schüttelten kurz Hände. Loewi wirkte so sicher. Kein Zeichen von Beunruhigung. Hatte Schwarz sich doch in etwas verrannt?

Die Bürgermeisterin ging unter Applaus ab.

»Die anderen sind hinter der Bühne«, sagte Loewi.

»Wer?«

»Na, Ihre und meine Familie.«

»Meine?«

Da trat Monika ans Mikrofon. Sie räusperte sich und zupfte nervös ihr etwas zu großes T-Shirt mit dem Slogan der Demonstration zurecht. »Liebe Münchner und Münchnerinnen«, rief sie, »liebe Schüler und Schülerinnen! Als Leiterin eines städtischen Gymnasiums bin ich besonders glücklich, hier so viele junge Menschen zu sehen …«

Schwarz hing an ihren Lippen wie ein Fan an seinem Star. Doch plötzlich fiel sein Blick auf einen Mann, der kaum zehn Meter von ihm entfernt mit dem Rücken zur Bühne stand. Er trug ein schwarzes Kapuzenshirt und hatte genau die Größe und Statur von Burger.

Schwarz war wie elektrisiert. Er hielt sofort nach Jankl Ausschau, konnte ihn aber nicht entdecken. Er überlegte noch, wie er am unauffälligsten die Bühne verlassen konnte, da bemerkte er Kolbinger ganz in der Nähe des Verdächtigen.

Der ehemalige Kollege lauschte Monikas Rede. Schwarz griff zum Handy, rief Kolbinger an und sah erleichtert, dass der sein Telefon ans Ohr hielt. »Ich stehe ganz rechts auf der Bühne, siehst du mich?«

»Bist du es, Anton?«

Ein Zwischenapplaus machte die Kommunikation für eine halbe Minute unmöglich. Schwarz sah, dass der Mann im Kapuzenshirt sich ein Stück von ihm wegbewegte.

Als der Beifall abebbte, schrie Schwarz ins Handy. »Er ist da!« Er zeigte in die Richtung, wo der Mann mit der Kapuze noch immer stand.

Aber es dauerte noch eine Weile, bis Kolbinger endlich begriff, was Schwarz von ihm wollte, und sich mit einem Kollegen in Bewegung setzte.

Schwarz dirigierte ihn über Handy. »Ja, genau, die Richtung passt. Sechs Meter noch, mehr nach links.« Er sah atemlos zu, wie die beiden Polizisten sich den Weg durch die Menge bahnten und dem Mann immer näher kamen.

»Ich danke euch für eure Aufmerksamkeit«, sagte Monika, winkte strahlend ins Publikum und ging ab. Der Applaus war überwältigend.

Da griffen Kolbinger und sein Kollege zu. Schwarz hielt den Atem an. Er sah, wie sie den Mann im Kapuzenshirt herumrissen – er war gut zehn Jahre älter als Tim Burger.

»Scheiße.«

»Soll das ein Kompliment sein, Anton?« Monika kam lächelnd auf ihn zu. »Was schaust du mich denn an wie eine Erscheinung?«

»Entschuldige, du warst toll, wirklich«, stammelte Schwarz.

Monika nahm ihn kurz in den Arm und flüsterte ihm ins Ohr, dass sie ihn liebe. Dann löste sie sich von ihm, um die Glückwünsche von Justus entgegenzunehmen.

Die nächste Rednerin war Eva Hahn. Zwei Helfer hoben sie im Rollstuhl auf die Bühne. Eva fuhr zum Mikrophon und versuchte, es zu sich herunterzuziehen. Als es ihr nicht gleich gelang, eilte Schwarz herbei, um ihr zu helfen.

Sie schaute ihm in die Augen. »Danke.«

»Alles Gute«, sagte Schwarz und zog sich wieder auf seinen Beobachterposten bei den Lautsprecherboxen zurück.

Plötzlich wurde es ganz still. Schwarz bemühte sich verzweifelt, die Gesichter in der Menschenmenge einzeln zu erfassen, aber nach einer Weile verschwammen sie immer vor seinen Augen. Wenn es irgendwo eine auffällige Bewegung oder Gedrängel gab, zuckte er zusammen und stellte sofort seinen Blick scharf. Tim Burger entdeckte er dabei nie. Wo war er?

Eva begann sehr leise. »Das ist meine erste Demonstration und an der bin ich auch noch schuld. Ich sitze hier und rede zu euch, obwohl ich eigentlich nicht sehr mutig bin.«

Stimmt nicht, dachte Schwarz.

»Aber ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten. Politiker sagen ja oft intelligente und manchmal auch dumme Sachen. Darüber kann man sich ärgern, man kann Leserbriefe schreiben oder sie abwählen. Aber zwischen dummem Gerede und dem Versuch, das Klima in unserer Stadt systematisch zu vergiften, besteht ein großer Unterschied. Das, Herr von Medingen, werden wir nicht zulassen. Alle hier …«

Sie wurde von tosendem Beifall unterbrochen.

»Alle diese Menschen hier, die zu einer friedlichen Demonstration vor dem Büro Ihrer rassistischen Partei zusammengekommen sind, haben vor zwei Tagen noch nicht gewusst, dass sie heute hier stehen würden. Aber sie halten es für ihre Bürgerpflicht, auf die Straße zu gehen und Farbe zu bekennen. Keine Toleranz gegenüber den Intoleranten, das ist unser Leitspruch.«

Wieder wurde begeistert applaudiert. Schwarz, der gebannt und voller Bewunderung für Evas Mut und Energie zuhörte, verlor dabei keine Sekunde die Masse der Demonstranten aus den Augen. Sein Blick ging ständig hin und her. Sein Pulsschlag war spürbar erhöht, Schweiß stand ihm auf der Stirn.

Rainer Bandmann näherte sich Eva von der Seite und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

»Ich höre gerade, dass die Polizei die Teilnehmerzahl auf achttausend schätzt. Darauf bin ich unglaublich stolz, weil wir, wie ihr alle wisst, kaum Zeit zur Vorbereitung hatten. Und ich verspreche euch, beim nächsten Mal werden wir doppelt so viele sein. Wir kommen nämlich wieder und wieder und wieder, bis dieser Spuk vorbei ist.«

In dem Moment registrierte Schwarz an den Absperrgittern vor dem Grundstück der Manzonia Unruhe. Die Gruppe um Heiner, die Eva Hahn gerade noch begeistert zugejubelt hatte, stand jetzt mit dem Rücken zur Bühne. Fäuste wurden gereckt. Schwarz hörte Buhrufe und Pfiffe.

Vor dem Portal der Villa stand Jörg von Medingen im weißen Anzug und lächelte süffisant, obwohl der Protest gegen ihn immer wütender wurde.

Nach und nach wandten sich fast alle Demonstranten von der Bühne ab. Eva unterbrach irritiert ihre Rede.

Ein Helfer reichte dem rechten Parteigründer ein Megafon. Jörg von Medingens Stimme klang verzerrt, trotzdem konnte jeder hören, was er sagte. »Wer wirklich Zivilcourage besitzt, steht auf meiner Seite.«

Seine weiteren Ausführungen gingen in einem gellenden Pfeifkonzert unter. Die Menschenmenge drängte wie in einer großen Woge zu dem Provokateur auf der anderen Straßenseite, und vor der Bühne entstand eine freie Fläche.

Da sah Schwarz ihn.

Tim Burger.