Als Schwarz in seine Wohnung trat, blinkte der Anrufbeantworter. Er ging, ohne Licht zu machen, hin und hörte die Nachricht ab.
»Anton, ich bin’s. Wir müssen reden.« Die Stimme seiner Mutter klang gehetzt. »Du denkst, ich will mich einmischen oder dich unter Druck setzen, aber es ist alles viel komplizierter.«
»Was denn?«, sagte Schwarz, als wäre seine Mutter im Raum.
»Besuch mich bitte bald und bring ein bisschen Zeit mit!«
Was beunruhigt sie bloß so, dachte Schwarz und beschloss, seine Mutter gleich nach dem Aufstehen anzurufen.
Er ließ seinen Blick über den dunklen Raum schweifen, der ihm kahl und fremd vorkam. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken. Er setzte sich ans Fenster und zählte, um sich abzulenken, mechanisch die Autos auf der Landsberger Straße. Aber es war, als führen all die Menschen, denen er in den letzten Tagen begegnet war, am Haus vorbei. Der senile Altnazi Alexander Fritz, die durchtriebene Blondine Linda Heintl, der hässliche Spitzel Bernhard Hörwig, der angstzerfressene Marco Kessler und der Mörder Tim Burger, den Heiner für eine Marionette des machtbewussten Jörg von Medingen hielt. Schwarz sah auch die Familie Loewi und Eva Hahn, die schuld daran waren, dass ihn diese Geschichte nicht mehr losließ.
Er war im Sitzen eingeschlafen und träumte, dass er Eva aus ihrem Rollstuhl auf seine Schultern hob und mit ihr aus der Stadt lief, als ihn ein durchdringendes Schrillen aus dem Traum riss.
Der Wecker, das Telefon, die Türklingel?
Es war das Telefon. Schwarz rieb sich die Augen, bis er etwas klarer sah, und kroch zum Apparat. Eine weibliche Stimme fragte ihn nach seinem Namen.
»Anton Schwarz.«
»Kreisklinik Wolfratshausen. Ihre Mutter ist gerade bei uns eingeliefert worden.«
»Wie bitte? Was ist passiert?«
»Können Sie gleich kommen?«
»Ja, natürlich.«
Schwarz war sofort hellwach. Er putzte sich die Zähne, während auf dem Herd bereits der Espresso sprudelte.
Schwarz fuhr über Seitenstraßen nach Fürstenried und dort auf die Autobahn Garmisch. Sobald er sich in die linke Spur eingeordnet hatte, drückte er trotz des Tempolimits für seine Verhältnisse mächtig aufs Gas.
Er ärgerte sich, dass die Ärztin am Telefon ihm keine näheren Auskünfte gegeben hatte. Aber wenn er ehrlich war, plagte ihn eher das schlechte Gewissen. Er hätte längst zu seiner Mutter fahren müssen, um sie zu beruhigen. Was, wenn die Sorge um ihn sie jetzt hatte zusammenbrechen lassen?
Hildegard Schwarz lag bewegungslos auf dem Rücken. In ihrem Unterarm steckte eine Kanüle, von der ein Schlauch zu einer Plastikflasche führte, die tropfenweise Flüssigkeit abgab. Eine Monitorkurve hinter dem Krankenbett zeichnete Blutdruck und Herzfrequenz nach. Schwarz beugte sich zu seiner Mutter hinab und blickte ihr in die offenen Augen.
»Mama? Ich bin jetzt da.«
Sie reagierte nicht. Ihr rechter Mundwinkel hing leicht herab, und ihre rechte Hand war verdreht.
»Sie hatte heute morgen gegen sieben Uhr einen Schlaganfall«, sagte eine junge Ärztin mit tiefen Ringen unter den Augen. »Glücklicherweise wurde sie sehr rasch von einer Nachbarin entdeckt. Zwanzig Minuten später war sie hier. Dadurch bekam sie rechtzeitig ein Medikament, mit dem wir das Blutgerinnsel aufzulösen versuchen.«
»Ist ihre ganze rechte Seite gelähmt?«
»Nur das Gesicht und der Arm.«
Schwarz streichelte die Hand seiner Mutter.
»Kann sie mich erkennen?«
»Ich denke schon, aber sie spricht nicht.«
Wir wollten doch miteinander reden, dachte Schwarz. Er verbarg sein Gesicht am Hals seiner Mutter und roch den vertrauten, leicht modrigen Geruch ihrer Waldramer Wohnung.
»Was machst du denn für Dummheiten, Mama?«, flüsterte er.
Dann weinte er.
Die Ärztin setzte sich auf ein leeres Bett und schloss die Augen. Sie hatte eine schwere Nachtschicht hinter sich. Im Zimmer war es still, aber durch das gekippte Fenster drangen Verkehrslärm und Lautsprecherdurchsagen vom nahen Bahnhof herein.
Plötzlich ging ein Ruck durch Hildegard. Sie versuchte, ihren Kopf zu heben. Schwarz stand auf und trat einen Schritt zurück.
»Was macht sie?«
Hildegards rechte Hand zitterte leicht, aber es gelang ihr nicht, sie zu bewegen.
Die Ärztin kam näher. »Probieren Sie es mit der linken, Frau Schwarz! Mit der linken geht es.«
Sie warteten, dass etwas geschah, aber Hildegard lag wieder regungslos da.
»Sie müssen Geduld haben«, sagte die Ärztin zu Schwarz.
»Wird Sie wieder ganz gesund?«
»Schwer zu sagen. Jedes Gehirn reagiert anders. Es gibt Patienten, die sich sehr schnell erholen, und andere …«
Da hob Hildegard ihre linke Hand und streckte den Finger.
»Sie zeigt auf Sie«, sagte die Ärztin.
Aber nur, wenn sie neuerdings schielt, dachte Schwarz. Seine Mutter zeigte an ihm vorbei zur Wand. Was wollte sie? Die Wand brauchte einen neuen Anstrich, aber um so etwas hatte sie sich noch nie gekümmert.
Hildegards Arm fiel kraftlos herab.
Die Ärztin hob seufzend die Schultern. »Unkoordinierte Bewegungen sind typisch für diese Phase.«
Doch Hildegard streckte ihren Arm noch einmal aus, schwenkte ihn leicht hin und her, und diesmal gelang es ihr, das Ziel zu fixieren.
»Ihre Handtasche«, sagte Schwarz.
Er schämte sich, als er die Tasche seiner Mutter vom Haken holte. Sie stammte aus den sechziger Jahren, das schwarze Krokoleder-Imitat war an den Ecken abgewetzt. Seit Jahren hatte er sich vorgenommen, ihr zu Weihnachten eine schicke neue Tasche zu schenken – und es jedes Mal vergessen.
Er legte die Tasche neben seine Mutter aufs Bett. »Bist du jetzt zufrieden?«
Hildegard deutete ein Kopfschütteln an. Aber sie brauchte noch fünf Minuten, bis sie ihrem Sohn klargemacht hatte, dass er die Tasche öffnen und nicht ihren Gesichtspuder, ihren Kalender oder das Röhrchen mit den Pfefferminzdragees, sondern die Hausschlüssel herausnehmen sollte.
Nach dieser Anstrengung war sie nicht mehr ansprechbar. Schwarz saß mit den Schlüsseln in der Hand neben ihrem Bett und wartete.
Die junge Ärztin wurde abgelöst. »Wir sehen uns jetzt sicher öfter«, sagte sie.
»Ja«, sagte Schwarz und versuchte, erfreut zu klingen.
Seine Mutter lag seit einer halben Stunde reglos da, als Schwarz’ Handy klingelte. Da er sich in einer Intensivstation befand, meldete er sich flüsternd.
»Ja, Schwarz.«
»Wo bist du denn?«, sagte Heiner vorwurfsvoll.
»Oh, Mist, die Pressekonferenz.«
»Beeil dich! Hier geht’s gleich rund.«
»Ich kann nicht, meine Mutter ist in der Klinik«, sagte Schwarz und stellte das Handy ab.
Das Klingeln hatte Hildegard aus ihrem Dämmerschlaf geweckt. Ihre linke Hand suchte seine rechte – oder besser: den Schlüsselbund. Er überließ ihn ihr. Sie stöhnte genervt und gab ihn ihm unter großer Anstrengung zurück.
»Was willst du denn, Mama?«, fragte Schwarz verzweifelt.
Seine Mutter wedelte mit dem linken Arm, als wollte sie ihn verscheuchen.
»Ich soll gehen?«
Sie bewegte den Kopf ein paar Zentimeter nach links.
»Nein? Was denn? Was mit den Schlüsseln? Etwas aufsperren?«
Keine Reaktion.
»Muss bei dir zu Hause was gemacht werden?«
Er sah die Andeutung eines Nickens.
»Was soll ich tun? Pflanzen gießen? Nein? Post aus dem Briefkasten holen? Nein? Dir was bringen? Auch nicht.«
Seiner Mutter fielen erneut die Augen zu. Schwarz überlegte.
»Ich fahre jetzt einfach in deine Wohnung, Mama. Vielleicht begreife ich es dort.«