24.

Ein etwa zwanzigjähriger, mittelgroßer Mann öffnete. Er hatte weder die derben Gesichtszüge noch den kahl geschorenen Schädel der Neonazis, wie man sie aus den Medien kannte. Mit seinem braunen, glatten Haar und dem schmalen, wenig konturierten Gesicht war er eine eher unauffällige Erscheinung.

»Wer ist das?«, fragte er nervös, als er Schwarz bemerkte.

»Ein Mitarbeiter«, sagte Loewi.

»Weiß er Bescheid?«

Loewi nickte.

Marco sperrte die Tür von innen ab. Zwei Mal. Über der Diele lag ein leicht modriger Geruch, der wohl von einem Wasserschaden an der Decke herrührte. In dem Zimmer, in das Marco sie führte, war nichts außer einer Matratze, einem Stuhl und einem Tisch. Es wirkte sauber, nur die Fenster waren länger nicht mehr geputzt worden. Auf dem Holzboden lagen Pizzakartons und leere Flaschen.

Loewi stellte den Karton ab, Marco angelte sich sofort eine Bierbüchse und öffnete sie. »Ich kann nicht mehr«, brach es aus ihm heraus. »Ich muss Leute sehen, sonst drehe ich durch.«

»Das ist zu gefährlich, das wissen Sie doch«, sagte Loewi.

Marco machte eine hilflose Geste. »Ich treffe mich ja nicht mit den Kameraden.«

»Haben Sie über unser Angebot nachgedacht? Es gibt jetzt eine konkrete Stelle für Sie in einer Autowerkstatt in Landshut.«

»Landshut? Was soll ich denn da?«

»Dort wären Sie sicher.«

»Da kenne ich kein Schwein.«

»Das ist momentan auch besser so. Aber langfristig bauen Sie sich ein neues Leben auf, mit Kollegen und Freunden.«

»Scheiße.«

Schwarz beobachtete, wie Marco nervös über ein Tattoo an seinem Hals rieb. »Ich würde Sie gern einige Dinge fragen, Herr Kessler.«

Marco musterte ihn. »Sie sind ein Bulle, das rieche ich.«

»Ich war mal einer.«

Marco lachte gezwungen. »Noch ein Aussteiger?«

»Genau. Sie waren in einer Zelle mit Tim Burger?«

Marco zuckte zusammen. »Ich rede nicht über Kameraden.«

»Ehemalige Kameraden«, korrigierte Loewi ihn.

»Scheiße, ja.«

»Ich wüsste gern, was er heute so denkt und was er für Pläne hat«, sagte Schwarz.

»Was für Pläne denn? Er ist im Knast.«

»Er hat Kontakte nach draußen und irgendwann wird er ja auch entlassen.«

»Ich bin kein Verräter.«

»Verräter, verstehe«, sagte Schwarz und fixierte ihn. »Wie ernst meinen Sie es eigentlich mit Ihrem Ausstieg?«

Loewi machte ihm ein Zeichen, sich zu mäßigen.

»Sie haben ein Tattoo der Deutschlandtreuen am Hals, Herr Kessler. Das werden Sie Ihr Leben lang nicht mehr los. Die Frage ist, wie sieht es in Ihrem Hirn aus? Wie braun ist es da drinnen noch?«

Marco schaute gequält zu Loewi. »Was will der denn von mir?«

»Herr Kessler«, sagte Schwarz, »ich habe als Polizist eine Menge rückfälliger Knackis kennen gelernt. Deshalb sage ich Ihnen, Sie haben nur eine Chance: Brechen Sie radikal mit Ihrer Vergangenheit!«

»Aber das mache ich doch.«

»Auch innerlich.«

»Ja, klar. Darum bin ich hier.«

»Warum erzählen Sie mir dann nicht von Tim Burger?«

Es war unübersehbar, dass Marco in Panik geriet.

»Hat er sich mal zu seiner Amokfahrt geäußert, Herr Kessler? War es ihm klar, dass es sich bei der Gruppe Jugendlicher um Juden handelte?«

Loewi hielt den Atem an.

»Was? Ich glaube nicht.«

»Dann ist er erst im Knast zum Radikalen geworden?«

»Ja, wahrscheinlich.«

»Durch wen?«

Marco zuckte resigniert mit den Schultern. »Durch mich zum Beispiel. Aber nur in der ersten Zeit.«

»Linda Heintl war wie Sie eine Deutschlandtreue. Hat sie ihn auch beeinflusst?«

»Ja, sicher.« Er befeuchtete seine Lippen, die ganz trocken waren. Schwarz warf ihm eine Bierbüchse zu. Marco öffnete sie und trank gierig.

»Hat er mit Ihnen mal über Anschlagspläne gesprochen?«

»Nein. Also, davon weiß ich nichts.«

»Aber Sie wissen, wie er denkt.«

Marco starrte ihn mit zusammengepressten Lippen an. Schwarz wusste, dass er ihm jetzt Zeit lassen musste und den Druck nicht mehr erhöhen durfte.

Marco blickte sich um, als müsse er selbst hier vor Lauschern auf der Hut sein. »Haben Sie mal von der Braunen Hilfe gehört«, flüsterte er.

Schwarz unterdrückte mit Mühe ein Grinsen. Der Name klang zu albern. Er schüttelte den Kopf.

»Die haben früher die alten Nazis im Knast betreut, mit Büchern, Geld und ärztlicher Betreuung. Heute kümmern sie sich um die Kameraden … also, die Exkameraden. Ach, Scheiße, ich krieg das nicht aus meinem Kopf raus.« Er begann heiser zu schluchzen und schlug die Hände vors Gesicht. Loewi und Schwarz warteten, bis er sich einigermaßen beruhigt hatte.

»Ist diese Braune Hilfe mit Tim in Kontakt getreten?«, fragte Loewi.

»Ja, aber ich habe keine Ahnung, durch wen. Wir hatten nicht dieselben Kontakte im Knast, weil ich dort als Kfz-Mechaniker gearbeitet habe und Tim fürs Abi lernte. Wenn er Besuch bekommen hat, war ich auch nicht dabei.«

Schwarz gab noch nicht auf. »Sie haben doch sicher mal über politische Ziele gesprochen?«

»Ja, schon. Wir wollten zusammen was aufbauen.«

»Was denn, Herr Kessler?«

Marco wagte es offenbar kaum auszusprechen. »Wir wollten beim Aufbau vom Vaterländischen Netzwerk mitmachen.«

»Was soll das sein?«

»Wenn ich das sage, bringen die mich um.«

»Sie müssen ja keine Namen nennen. Was sind die Ziele dieses Netzwerks?«

»Deutschland wieder sauber zu machen.«

»Sauber?«

»Ja, die ganzen Sozialschmarotzer raushauen.«

»Leute, die Sozialleistungen in Anspruch nehmen?«

Er schüttelte den Kopf. »Die volksfremden Elemente.«

»Wer gehört da dazu?«

»Alle, die nicht germanischstämmig sind.«

»Juden zum Beispiel?«, schaltete Loewi sich ein.

Marco kaute nervös an seiner Nagelhaut. »Die Juden sind ein Sonderfall.«

»Warum?«

»Weil man die oft gar nicht richtig erkennt. Aber sie sind überall. Vor allem in den Schaltzentralen.«

»Wissen Sie, wie viele Juden in Deutschland leben, Marco?«, sagte Loewi.

»Keine Ahnung. Ein, zwei Millionen?«

»Zweihunderttausend. Ich bin einer von ihnen.«

Marco starrte den Anwalt ungläubig an. Da klopfte es an der Tür. Marcos Blick begann zu flackern. Schwarz guckte durch den Späher.

»Nicht aufmachen!«, bettelte Marco.

Es war der Hausmeister, der wissen wollte, ob ihnen der Wagen in der Einfahrt gehörte. Sein Akzent ließ tatsächlich auf eine Herkunft aus Exjugoslawien schließen.

»Wir wollten sowieso gerade gehen«, sagte Loewi. Er schärfte Marco ein, die Wohnung auf keinen Fall zu verlassen, und versprach, morgen wieder vorbeizuschauen.

Marco stand da wie ein Häufchen Elend. Er hob zum Abschied nur stumm die Hand und wendete sich ab. Sie hörten, wie er die Tür absperrte. Zwei Mal.

»Er denkt und fühlt wie einer von denen. Wieso will er aussteigen?«, fragte Schwarz auf dem Weg nach unten.

»Aus Angst.«

»Nicht aus Überzeugung?«

»Schwer zu sagen. Ich weiß nur, dass er panische Angst vor Tim Burger hat.«

»Warum?«

»Der muss ihn extrem unter Druck gesetzt und merkwürdige Dinge von ihm verlangt haben.«

Schwarz schaute den Anwalt fragend an.

»Angeblich wollte er, dass Marco sich vor seiner Entlassung einen Finger abtrennt.«

»Wie bitte?«

»Als Zeichen seiner Loyalität.«