2.

22. Mai 2008

 

Das Klingeln erreichte Schwarz in einem Traum, in dem seine Frau endlich wieder bei ihm lag. Wie warm sich ihre Haut anfühlte, wie vertraut sie roch. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr, ihr Atem kitzelte ihn.

»Sag’s noch mal, Monika, bitte.«

Sie schwieg, dafür klingelte es zum zweiten Mal. Er wollte nicht aufwachen. Auch ein Ermittler braucht seine Träume. Er spähte mit einem Auge zum Wecker. »Neun? Welcher Verrückte …?«

Jetzt war er wach. Sein erster Blick fiel auf den Kleiderberg neben dem Bett. Alter Schlamper, hätte Monika bei diesem Anblick gesagt, und er hätte dann irgendwann aufgeräumt. Aber Monika war nicht mehr da, und so wurde der Berg höher und höher.

Er hörte die Stimmen der Thailänder unten im Koh Samui. Die schnippelten seit Stunden für ihre Currys, und er lag halb bewusstlos im alten Tanzsaal der ehemals bayerischen Wirtschaft. Er hoffte inständig, der Quälgeist vor seiner Tür würde freiwillig den Rückzug antreten. Vergeblich.

Schwarz erhob sich seufzend. Wenn er Glück hatte, war es seine Tochter, die ihm manchmal seine geliebten Karlsbader Oblaten vorbeibrachte. Das letzte Mal vor zwei Jahren.

»Herr Schwarz?« Der etwa sechzigjährige Mann blickte ihn durch eine randlose Brille an. Er trug ein anthrazitfarbenes Jackett und zum weißen Hemd eine rote Fliege. Künstler, vermutete Schwarz, auch wegen des nach hinten gekämmten, nackenlangen Haars seines Gegenübers.

»Mein Name ist Karl Loewi, ich bin Anwalt.«

An ihren Bügelfalten sollt ihr sie erkennen: ein Anwalt, klar.

»Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt?«

»Ich bin gerade mit dem Frühsport fertig. Kommen Sie rein.«

Er holte seine schwarze Jeans vom Kleiderberg und fragte Loewi schon mal, wie er seinen Kaffee trinke. Diese Vorlage hätte er ihm nicht liefern dürfen.

»Bei Ihnen selbstverständlich schwarz.«

Schwarz unterdrückte ein Gähnen. In seiner Gegenwart sahen die Leute schwarz, trafen ins Schwarze, ließen jemanden warten, bis er schwarz wurde, regten sich über Schwarzarbeit und die Schwarzen sowieso auf. Schwarz hätte sich darüber schwarzärgern können, hatte aber den magenschonenden Entschluss gefasst, sich lieber über die inspirierende Wirkung seines Namens zu freuen.

Er reichte Loewi, der sich nicht hatte setzen wollen, die Geschenktasse vom letzten Tag der Offenen Tür der Polizeiinspektion München-Pasing und warf einen verstohlenen Blick auf dessen dunkelbraune, englische Schuhe. Keine Absätze? Der Anwalt war also wirklich ein ganzes Stück größer als er und, obwohl mindestens zehn Jahre älter, unverschämt flachbäuchig. Einen Moment lang bereute Schwarz es, sein im ersten Trennungsschmerz erworbenes Abo beim Fitness-Studio an der Donnersbergerbrücke in zwölf Monaten kein einziges Mal genutzt zu haben.

Er seufzte und machte es sich auf einem Deckchair bequem, seinem Konferenzstuhl. »Wer hat Sie zu mir geschickt, Herr Loewi?«

»Ich habe Ihre Adresse im Branchenbuch gefunden.«

»Tatsächlich? Ich beschatte aber keine Ehefrauen, die zu ihrem Geliebten, und keine Gymnasiasten, die statt in die Schule lieber in den Biergarten schleichen.«

»Aber Sie sind doch Detektiv?«

»Privatermittler. Ich habe mich auf Fälle spezialisiert, die andere für geklärt halten. Ich kümmere mich um Leute, die zu Unrecht im Knast sind oder dringend dorthin gehörten.«

»Dann sind Sie der richtige Mann für mich.«

Schwarz musterte den Anwalt. Dessen markante Züge ließen darauf schließen, dass er sich durchzusetzen wusste, aber sein Blick verriet eine fast jungenhafte Neugier und Sensibilität. Loewi war ihm sympathisch – trotz seiner athletischen Figur.

»Was wollen Sie von mir?«

»Dazu müsste ich weiter ausholen.«

»Ich habe Zeit.«

Während er sprach, ging der Anwalt in dem geräumigen Saal, der Schwarz zugleich als Wohnung und Büro diente, auf und ab. Er kam an der DVD-Sammlung vorbei, die sich ausschließlich aus Meisterwerken der Schwarzen Serie zusammensetzte, und an Regalen mit Aktenordnern sowie kriminalistischer Fachliteratur älteren Datums. Das Eichenparkett knarrte unter seinen edlen Schuhen. Vor dem bedauernswerten Ficus, den Schwarz oft wochenlang vergaß und dann wieder fast ertränkte, machte Loewi kehrt und schritt auf der anderen Seite des Raums an den Familienfotos vorbei.

Monika, die mit der vier Tage alten Luisa aus der Klinik in der Maistraße tritt und die Nase rümpft, weil sie gleich niesen wird. Monika, die stolz am Steuer des nagelneuen Opel Rekord C sitzt, der vor seiner Verschrottung neunzehn Liter saufen wird. Monika und die dreijährige Luisa, die mit beseelten Gesichtern in einer endlosen Reihe Kerzen haltender Menschen stehen. Es ist ein Nikolausabend Anfang der Neunziger. Die halbe Stadt ist auf den Beinen und demonstriert mit einer Lichterkette gegen Ausländerfeindlichkeit. Schwarz ist zu dieser Zeit noch Polizist, aber wegen aufmüpfigen Verhaltens gegenüber einem bürokratischen Vorgesetzten zum Bürodienst verdammt.

»Sie erinnern sich bestimmt an den Unfall von Carl Heuwieser«, hatte Loewi begonnen. »Es war die Nacht vom 15. auf den 16. Mai 1989, als er auf der Autobahn München – Lindau mit hoher Geschwindigkeit auf einen Wagen auffuhr. Es gab einen Toten und eine Schwerverletzte.«

»Heuwieser war damals Landtagsabgeordneter und besoffen«, sagte Schwarz und nickte.

Loewi erinnerte an die öffentliche Empörung nach dem Unfall, an Heuwiesers Rücktritt von seinen diversen politischen Ämtern und die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten.

»Auf Bewährung. Schon drei Jahre später zog er wieder in den Landtag ein, weil wir Bayern ein großes Herz für arme Sünder haben – zumindest für die aus der Politik«, sagte Schwarz und stand auf, um sich noch mal Kaffee zu holen.

»Noch einen für Sie?«

Der Anwalt schüttelte den Kopf.

»Warum erzählen Sie mir eine Geschichte, die ich kenne, Herr Loewi?«

»Die Sie kennen?« Er lächelte ein klein wenig überheblich. »Was wissen Sie denn über den Mann, den Heuwieser tötete?«

Schwarz schob die Unterlippe nach vorn. »Er war Rentner, glaube ich, und ist in einem kleinen Fiat gefahren, mit dem er keine Chance gegen die schwere Limousine vom Heuwieser gehabt hat.«

»Richtig. Und weiter?«

Schwarz machte eine bedauernde Geste.

»Dann sage ich es Ihnen. Er hieß Josef Rojewski, hatte das KZ Dachau überlebt und war auf dem Weg in seine polnische Heimat, die er nach 1945 nie mehr besucht hatte. Er wollte nach Auschwitz, wo seine Eltern umgebracht worden waren.«

Nein, das hatte er nicht gewusst.

»Das war damals aber in allen Zeitungen zu lesen, Herr Schwarz.«

»Dann muss ich es vergessen haben.«

»Vergessen«, wiederholte der Anwalt und blickte gedankenverloren auf die Kreuzung vor dem Haus. Schwarz ließ etwa hundertfünfzig der dreißigtausend Autos vorbeifahren, die jeden Tag die Landsberger Straße heimsuchten, dann räusperte er sich. Als Loewi sich umdrehte, meinte er einen feuchten Glanz in dessen Augen zu sehen, aber vielleicht täuschte er sich auch.

»Am 22. Juni 2004«, sagte der Anwalt, »steuerte der zwanzigjährige Tim Burger den Geländewagen seiner Mutter in eine Gruppe Jugendlicher.«

Schwarz nickte. »Ein Toter, zwei Schwerverletzte. Wenn man Richtung Innenstadt fährt, kann man an der Unfallstelle noch Spuren sehen.«

»Es war kein Unfall.«

»Eine Amokfahrt, ich weiß.«

»Genau das ist die Frage. Die jungen Leute kamen vom Training. Sie waren Mitglieder eines Sportvereins, Blau-Weiß 57.«

»Und?«

»Ein jüdischer Verein.«

Schwarz lachte. »Jüdisch? Blau-Weiß?«

»Bayerisch wäre weiß-blau. Ich habe Hinweise, dass Burger Neonazi ist, und ich bin mir ziemlich sicher, dass er gezielt Juden töten wollte.«

Schwarz wusste einiges über den Fall. Er hatte sich nicht lange nach seiner Entlassung aus dem Polizeidienst ereignet, und die Ermittlungen waren bei seiner ehemaligen Abteilung gelegen. Aber das band er Loewi jetzt nicht auf die Nase. Stattdessen fragte er scheinheilig, wie denn das Gericht geurteilt habe.

»Es hat einen antisemitischen Hintergrund ausgeschlossen. Burger hat nur sechs Jahre Jugendstrafe bekommen, seine blindwütige Tat sei durch eine schwere Lebenskrise ausgelöst worden.«

»Was Sie bezweifeln?«

»Richtig.«

»Und ich soll stichhaltige Beweise für Burgers rechtsextremistische Gesinnung liefern? Für eine Wiederaufnahme des Verfahrens?«

Loewi nickte. »Wir müssen unbedingt verhindern, dass Burger vorzeitig entlassen wird.«

Diesmal trat Schwarz selbst ans Fenster. Er starrte auf die Kreuzung der Landsberger mit der Offenbacher Straße und das unbebaute Grundstück daneben, auf dem überlebensgroße Bronzeskulpturen zum Verkauf angeboten wurden. Welcher vernünftige Mensch, dachte er, stellt sich bloß solche Scheußlichkeiten in den Garten, einen Hirsch, ein Nashorn oder King Kong?

»Herr Schwarz?«

Er drehte sich um und betrachtete Loewi. Verbarg sich hinter der Maske des seriösen Anwalts ein Verrückter? Klienten, die an Verschwörungen glaubten, gehörten zu den unangenehmsten überhaupt. »Sie vermuten also, dass nicht nur dieser Burger, sondern auch Carl Heuwieser gezielt Juden aufs Korn genommen hat?«, versuchte Schwarz Loewi aufs Glatteis zu locken.

»Wie bitte? Halten Sie mich für verrückt?«

»Nein«, stammelte Schwarz, »eigentlich nicht. Ich verstehe nur nicht, was die beiden Fälle verbindet.«

»Die blinden Flecken«, sagte Loewi.

Schwarz runzelte die Stirn.

»Ich bin seit mehr als dreißig Jahren Anwalt und immer wieder darauf gestoßen. Polizisten, Richter, Zeugen, alle leiden an diesem Phänomen.«

»Den blinden Flecken?«

»Ja, entweder wird die jüdische Identität der Opfer ausgeblendet oder der rechtsextremistische Hintergrund der Täter. Manchmal mag das politisches Kalkül sein, um die Statistik zu schönen, meistens aber geschieht es unbewusst. Den Fall Heuwieser habe ich nur angesprochen, um Ihnen zu zeigen, dass auch Sie diese Löschfunktion im Kopf haben.«

»Ich? Ich frage ja auch nicht, ob ein Opfer Katholik oder Protestant ist, Herr Loewi. Weil es keine Rolle spielt.«

»Einverstanden. Aber wenn die Religion der Grund für einen Mordanschlag war, sollte es doch wohl eine Rolle spielen. Und erst recht, wenn der Täter möglicherweise nach wie vor zur Gewalt gegen Juden entschlossen ist.«