34.
Schwarz saß im Freiheit, trank die dritte Tasse Espresso doppio und starrte auf den vorbeirauschenden Verkehr. Er hatte die fünf Buchstaben in einem Internetcafé gegoogelt – ohne Erfolg. Er hatte sie in Gedanken hundert Mal wiederholt und in allen möglichen Kombinationen auf eine Serviette gekritzelt. Was bedeuteten sie? Warum hatte Marco sie erst notiert und dann zu verwischen versucht? Handelte es sich um die Anfangsbuchstaben irgendeines rechten Slogans? Um einen Geheimcode der Gruppe? Oder schlicht um eine Produktbezeichnung?
Plötzlich hellte seine Miene sich auf. Der vierte Buchstabe war möglicherweise gar kein O gewesen, sondern ein G: USRG-M. Diese Bezeichnung kam ihm irgendwie bekannt vor. Er griff zum Handy.
»Ich freu mich, wenn du vorbeischaust«, sagte Buchrieser.
Der Exkollege brauchte keinen Stammtisch, um sich zu betrinken. Sobald er dienstfrei hatte, saß er in der Bierhalle. Allein bin ich in bester Gesellschaft, war die Devise des überzeugten Junggesellen. Früher hatte Schwarz sich manchmal gefragt, was Buchrieser wohl mit seiner Sexualität machte, ob er zum Beispiel zu Frauen wie Cindy ging? Heute, da er selbst kaum noch Sex hatte – es sei denn, Monika überfiel ihn –, interessierte ihn das nicht mehr.
Der Exkollege saß vor seinem Weißbier und grinste leicht angesäuselt, als Schwarz bei ihm Platz nahm.
»Bist du immer noch an der Judengeschichte dran, Anton?«
»An der Nazigeschichte.«
»Geh, sei nicht kompliziert.«
Die Kellnerin stellte Schwarz wie immer ungefragt eine Halbe Dunkles auf den Tisch. Sie stießen an.
»Du bist doch so ein Waffennarr, Buchrieser.«
»Das Wort mag ich überhaupt nicht. Ein Spezialist ist doch kein Narr.«
»Aber du bist unkompliziert, oder?«
»Ich mag halt Waffen. Ihre Geschichte, ihre Mechanik, ihre Ästhetik.«
»Bist du deswegen zur Polizei gegangen?«,fragte Schwarz. »Auch. Aber ich habe in der ganzen Zeit nur drei Mal geschossen. Einmal in die Luft und zwei Mal auf die Beine. Für den echten Liebhaber ist der Waffengebrauch eine Möglichkeit, kein Muss.«
»Das hast du jetzt schön ausgedrückt«, sagte Schwarz und kritzelte die ominösen Buchstaben auf seinen Bierdeckel: USRG-M. »Ist das eine Pistole, Buchrieser?«
Der Polizist schüttelte grinsend den Kopf. »Auch keine Kaffeemaschine.«
»Was dann?«
»Und kein Rasenmäher.«
»Jetzt sag schon!«
»Ein Zünder.«
»Ein Zünder?«
»Der Standardzünder von der F-1«.
Schwarz schaute ihn verständnislos an.
»Du kennst die legendäre F-1 nicht?«
»Ehrlich gesagt, nein.«
Über so viel Unwissen konnte Buchrieser nur den Kopf schütteln. »Das war seit dem Zweiten Weltkrieg die Verteidigungshandgranate der Roten Armee schlechthin. Heute wird sie nicht mehr produziert. Du kannst den USRG-M allerdings auch in eine RGD-5 einsetzen.«
»In einen anderen Typ?«
Buchrieser nickte und klärte ihn darüber auf, dass solche Granaten in etwa dreihundert Splitter zerborsten, die bis zu zweihundert Meter weit flogen. »Damit kann man ein Blutbad anrichten, Anton.«
»Könntest du mir so eine F-1 oder eine RGD-5 besorgen?«, fragte Schwarz.
»Hast du die Sache mit deiner Monika immer noch nicht verkraftet?« Buchrieser grinste.
»Ich meine, wie schwierig ist es, an so ein Ding ranzukommen?«
Buchrieser hielt Schwarz statt einer Antwort das Glas hin. Sie stießen an.
»Also?«
»Man muss die richtigen Kontakte haben. Außerdem sind die Dinger nicht billig.«
»Wie viel?«
»Ein paar Tausend Euro musst du schon auf den Tisch legen.«
Schwarz ließ sich zu einer zweiten Halben überreden. Das war ein Fehler, denn nun saß er in der Bierhalle fest und musste sich die Geschichte der Handgranate seit den alten Chinesen anhören.
Glücklicherweise hatte Schwarz während vieler langatmiger Lagebesprechungen bei der Polizei die Fähigkeit entwickelt, hinter dem Anschein größter Aufmerksamkeit den eigenen Gedanken nachzugehen. Und er hatte, weiß Gott, wichtigere Probleme als die Schweizer Stiel-, die amerikanische Ananas- oder die italienische Dosenhandgranate.
Warum hatte Marco Kessler die Bezeichnung eines Zünders notiert? Sollte er ihn besorgen, weil die Kameraden bereits im Besitz einer Handgranate waren, die nur noch aufgerüstet werden musste? Und wenn ja: Hatte er den Zünder inzwischen schon?
Damit kann man ein Blutbad anrichten, hatte Buchrieser gesagt.
Schwarz’ Handy vibrierte. Es war Loewi.
»Tim Burger«, sagte er mit tonloser Stimme, »wird unter Umständen vorzeitig entlassen.«