30.
Punkt acht traf Schwarz in der Karibik ein. Vor dem Autohaus stritt ein Kunde lautstark mit einem Verkäufer, der ihm angeblich ein Auto mit manipuliertem Kilometerzähler angedreht hatte. Schwarz sah, dass beide eher halbseidene Typen waren, und radelte, obwohl der Streit zu eskalieren drohte, an ihnen vorbei. Schließlich war er nicht als Streitschlichter, sondern als Wachmann engagiert.
Da bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung hinter der trüben Scheibe des Lagerschuppens an den Bahngleisen. Er blieb stehen und schaute genauer hin. Tatsächlich. Zum ersten Mal, seit er den Dienst am Konsulat begonnen hatte, war da jemand. Die Kontrolle des Schuppens gehörte laut Arbeitsvertrag zu seinen Aufgaben.
Er stellte sein Rad ab und schlich, um nicht gesehen zu werden, in einem großen Bogen auf den Schuppen zu. Als er nur noch wenige Meter entfernt war, vernahm er ein entsetzliches Röcheln.
Er erstarrte.
Dann hörte er eine lockende Frauenstimme. »Komm. Komm!«
Schwarz, der damit sicher nicht gemeint war, schlug resolut mit der Faust gegen die Bretterwand. »Herrschaften, bittschön einpacken! Ihr befindet euch auf fremdem Hoheitsgebiet.«
Im Schuppen wurde es schlagartig still.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, kehrte Schwarz zu seinem Rad zurück. Er war nicht gern Spielverderber.
Während er die Überwachungskameras kontrollierte, dachte er daran, dass er bald sein fünfjähriges Jubiläum als Wachmann feiern konnte. Hoffentlich fiel das seinem Arbeitgeber nicht auf. Sonst wurde er womöglich mit einem Freiflug in die Karibik belohnt. Er wollte kein Land bereisen, das so arm war, dass sein Konsulat in der ehemaligen Verkaufsbaracke eines Autohändlers untergebracht war.
Eigentlich wollte er überhaupt nicht in die Fremde. Urlaub bedeutete für ihn vierzehn Tage beim Franz im Niedernsiller Hof, Radfahren, herzhaft essen und lange schlafen. Da fiel ihm ein, dass er seit seinem von Monika erzwungenen Auszug nicht mal mehr im Pinzgau gewesen war. War Urlaub für ihn womöglich nie ein echtes Bedürfnis gewesen? War er nur Monika zuliebe verreist?
Die Türen und Rollläden des Konsulats waren wie immer korrekt gesichert. Er beschloss, im Fall der Fälle Luisa mit dem Freiflug in die Karibik zu bestechen. Sie würde bestimmt jubeln und ihn vielleicht wieder mehr lieben.
Loewi wartete bereits am Wohnmobil und beantwortete geduldig Cindys Fragen.
»Würden Sie echt jemanden verteidigen, von dem Sie wissen, dass er ein Monster ist?«
»Ja, schon«, sagte er, »meine Aufgabe als Anwalt ist es, dafür zu sorgen, dass ein Angeklagter ein faires Verfahren bekommt und seine rechtlichen Möglichkeiten ausschöpft.«
»Sie würden niemanden ablehnen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Haben Sie in der Zeitung das Foto von dem Mädchen gesehen, das in dem Haus im Westend verbrannt ist? Einem Typen, der so was getan hat, dürfen Sie doch nicht helfen.«
Loewi seufzte. »Das wäre in der Tat schwierig für mich.«
»Erst mal muss man diesen Typen erwischen«, mischte Schwarz sich ein.
»Ihr könnt gern reingehen«, sagte Cindy, »ich habe heute sowieso keinen Bock zu arbeiten.«
Im Wohnmobil ließ Schwarz sich aufs Bett sinken und starrte geistesabwesend auf die bunten Matrjoschkas.
»Sie sehen erschöpft aus.«
»Bin ich auch, Herr Loewi.«
Der Anwalt stand in gebückter Haltung vor ihm, das Wohnmobil war offenbar für kleinere Männer konzipiert.
»Ich habe kein Problem, wenn Sie sich zu mir aufs Bett legen«, sagte Schwarz. »Es kann nur passieren, dass ich während meines Berichts einschlafe.«
Loewi legte sich neben ihn und lauschte schweigend. Als Schwarz auf das gestohlene Foto zu sprechen kam, unterbrach er ihn. »Wie ernst nehmen Sie das?«
»Fragen Sie mich als Vater und Ehemann oder als Ermittler?«
»Können Sie das trennen?«
»Als Ermittler weiß ich, dass es von einer vagen Drohung bis zur konkreten Umsetzung meist ein weiter Weg ist. Als Vater bin ich in Panik geraten. Übrigens, wenn die Beschreibung stimmt, war es derselbe Mann, der Sie verfolgt hat.«
Loewi erschrak. »Was bedeutet das?«
»Dass wir in einem Boot sitzen und dass wir besser sein müssen als die andern.«
Loewi nickte. »Sie zweifeln also nicht mehr an meiner Theorie?«
Schwarz schüttelte den Kopf und schilderte ausführlich sein Gespräch im türkischen Kulturverein. Als er auf die Beobachtung von Frau Celik zu sprechen kam, die bei dem Anschlag ihren Mann und ein Kind verloren hatte, setzte Loewi sich ruckartig auf.
»Das eiserne Kreuz? Aber Marco hat die Wohnung doch nicht verlassen. Dazu hat er viel zu viel Angst.«
»Und vor lauter Angst hat er gedacht, er muss den Kameraden, damit sie ihm nichts tun, seine Loyalität beweisen.«
»Sie glauben wirklich, dass er das Haus in der Gollierstraße ausgekundschaftet hat?«
»Ich glaube gar nichts. Aber ich halte alles für möglich – sogar, dass er der Brandstifter war.«
Loewi starrte ihn an. »Ich werde sofort mit ihm reden.«
»Moment. Vielleicht hat die ganze Gruppe dieses Tattoo.«
»Ich will trotzdem zu ihm.«
»Warten Sie doch, bis ich mit meinem Wachdienst fertig bin, Herr Loewi, dann begleite ich Sie.«
»Ich passe schon auf mich auf.« Bevor Schwarz noch etwas einwenden konnte, hatte der Anwalt das Wohnmobil bereits verlassen.
Vor dem Autohaus standen jetzt ein Notarzt- und ein Streifenwagen. Ein Sanitäter versuchte das Nasenbluten des Verkäufers zu stillen, der Kunde, der offenbar die Nerven verloren hatte, bekam Handschellen verpasst.
Schwarz beschloss, seine Runde ausnahmsweise andersherum zu radeln. Im Schuppen herrschte jetzt Ruhe, und rund um das Konsulat war wie immer alles unauffällig. Wenigstens in diesem Job läuft alles rund, dachte er.
»He, Sie da!«, rief einer der Polizisten.
Schwarz wusste, dass er gemeint war, hatte aber keine Lust, als Zeuge vernommen zu werden. Deshalb fuhr er weiter.
»Ja, Zefix«, hörte er den Polizisten fluchen, dann näherten sich schnelle Schritte. »Stehen bleiben, Polizei.«
Er bremste und stellte beide Füße auf den Boden.
Der Polizist kam außer Atem an. Er war vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt und seinem Dialekt nach zu schließen noch nicht lange in der Großstadt.
»Haben´s mich nicht gehört?«
Schwarz machte eine schwer zu deutende Geste.
»Ihren Ausweis, bittschön!«
Schwarz zückte kurz den Dienstausweis der Sicherheitsfirma, für die er arbeitete. »Ich bin hier der Wachmann.«
»Ah, ein Kollege.« Der Streifenbeamte grinste herablassend.
Schwarz sagte nichts.
»Wir haben hier einen Fall von Körperverletzung. Haben Sie was gesehen?«
Schwarz holte sein vibrierendes Handy aus der Tasche. »Ja?« Als er hörte, dass Loewi am anderen Ende war, drehte er sich weg.
»Moment mal, so geht das aber nicht«, sagte der Polizist.
Schwarz ignorierte ihn.
»Er ist weg«, sagte Loewi atemlos.
»Hat er irgendeine Nachricht hinterlassen?«
»Nein. Nichts.«
Schwarz wischte die Hand des Polizisten, der ihn auf die Schulter tippte, weg wie eine lästige Fliege. Im selben Moment wusste er, dass das ein Fehler war. Der Polizist entfernte sich eilig.
»Was machen wir jetzt?«, sagte Loewi.
»Kennen Sie Marcos letzten Aufenthaltsort vor seiner Festnahme?«
»Dazu müsste ich mir erst die Gerichtsakten besorgen.«
Da spürte Schwarz einen brennenden Schmerz am Ohr und sah sein Handy in hohem Bogen durch die Luft fliegen.
»Hallo«, rief Loewi, »hallo?«
Ein zweiter, etwas älterer Polizist baute sich vor dem Ermittler auf. Sein Brustkorb war albern aufgebläht.
Anabolika, dachte Schwarz.
»Sie haben sich also der Befragung widersetzt.«
»Ihr Kollege ist ein bisschen ungeduldig.«
»Jetzt nehmen wir erst mal Ihre Personalien auf.«
»Dürfte ich mein Handy wiederhaben?«
Der ältere Beamte machte dem jüngeren einen Wink, das Telefon aus dem Zierbeet zu holen. Er selbst packte Schwarz grob am Arm und führte ihn zum Wagen.
Wie kriegen wir schnell raus, wo Marco untergeschlüpft ist, dachte Schwarz.
»Ausweis.«
»Habe ich leider nicht dabei.«
»Das ist ein Fehler. Name?«
»Kessler Marco«, sagte Schwarz.
Der Polizist gab den Namen per Funk durch und wartete. Sein jüngerer Kollege hatte endlich das Handy gefunden, putzte es an seiner Hose ab und brachte es.
»Willibaldstraße 133, stimmt das?«, fragte der ältere mit dem rauschenden Funkgerät am Ohr.
Schwarz reagierte nicht.
»24. 3. 85? Moment, das kann nicht sein.«
Schwarz grinste. »Ich wollte nur sehen, wie fit ihr seid. Anton Schwarz heiße ich.« Er hielt dem nach Luft schnappenden Polizisten seinen Ausweis hin.
Die Überprüfung dauerte keine Minute. »Der Schwarz war mal einer von uns«, kam es aus dem Funkgerät, »Ettstraße, K11.«
»Interessiert mich einen Scheißdreck«, behauptete der ältere Polizist und musterte Schwarz mit zusammengekniffenen Augen.
»Schleich dich«, sagte er schließlich.