47.
Er geleitete Schwarz in eine mit Fahnen, Pokalen und Fechtwaffen dekorierte Stube, in der sich nach und nach die aktiven Burschenschaftler einfanden. Schwarz stellte erfreut fest, dass hier nicht nur Wein, sondern vor allem Bier getrunken wurde.
»Ich habe Sie beobachtet«, sagte von Medingen. »Der Vortrag hat sie gelangweilt.«
»Nein«, sagte Schwarz, »ich war nur ein wenig müde.«
»Sie müssen kein Blatt vor den Mund nehmen. Wir haben das Thema ins Programm genommen, um unsere Alten Herren bei Laune zu halten. Sie finanzieren uns ja.«
»Ein Deutsches Reich in den Grenzen von 1938, Gott bewahre«, mischte sich ein feister junger Mann ein. »Wir schaffen es ja nicht mal, innerhalb unserer derzeitigen Grenzen für Recht und Ordnung zu sorgen.«
Trotz der Einladung zum offenen Gespräch hielt Schwarz sich mit ehrlichen Meinungsäußerungen weiter zurück. Er musste dezent so viel wie möglich über diese Manzonia in Erfahrung bringen.
Er versuchte es wieder mit der Egerländer Nummer. Das Hallo unter den Männern war groß. Es gab einen Wettstreit um die beste Aussprache des Worts Huasnoantoutara, das den achteckigen Messingknopf bezeichnete, der Träger und Hose der Egerländer Tracht miteinander verband. Schwarz konnte sich nicht daran erinnern, dieses alte Stammessymbol je besessen zu haben. Hingegen wusste er noch genau, wie schwierig es war, das Hosentürl einer Ledernen zum Pieseln zu öffnen, und wie es sich anfüllte, wenn man es nicht rechtzeitig geschafft hatte.
Auch das behielt er lieber für sich.
Schwarz wurde aufgefordert, das beliebte Am Sunnta is Kirwa, dau gäih i zan Tanz zum Besten zu geben.
»Das möchte ich Ihnen lieber ersparen, ich bin kein Sänger«, wehrte er ab. Das war gelogen, aber die Vereinnahmung der Heimat seiner Mutter durch die rechten Burschenschaftler ging ihm zusehends auf die Nerven.
Die ganze Stube wollte jetzt unbedingt singen. Einer versuchte es mit U wenn i za mein Moidla gäih. Als er nicht über die erste Zeile hinauskam, stimmte er einfach das bewährte Schwarzbraun ist die Haselnuss an. Die anderen fielen grölend mit ein.
Von Medingen hatte Schwarz die ganze Zeit von der Seite beobachtet.
»Sie sind doch nicht hier, um Studentenlieder zu singen«, sagte er plötzlich.
»Ich weiß, wer Sie sind.« Er lächelte süffisant. »Sie haben Tim Burger im Gefängnis besucht.«
Schwarz zuckte zusammen. Also doch der Psychologe, dem Burger seine vorzeitige Entlassung zu verdanken hatte!
»Flamme empor! Flamme empor! Steige mit loderndem Scheine, Flamme, du herrliche, reine, glühend empor, glühend empor!«, sangen die fröhlichen Sänger. Schwarz verlor einen Moment lang die Kontrolle über seine Gesichtszüge, fast so, als hätte er auf Alufolie gebissen.
Von Medingen schmunzelte. »Wollen wir rausgehen?«
Schwarz nickte.
Im Flur kamen sie an Alexander Fritz vorbei, der eine junge Frau mit seiner Weltsicht beglückte.
Von Medingen lotste Schwarz zum Ende des Gangs, wo in einer Vitrine historische Requisiten studentischen Lebens ausgestellt waren. »Falls Sie unser Gespräch für Ihren Auftraggeber aufzeichnen möchten, können Sie das übrigens gerne tun.« Er wartete auf eine verräterische Reaktion, aber Schwarz verzog keine Miene.
»Da Tim Burger mich ausdrücklich von meiner Schweigepflicht entbunden hat, verrate ich jetzt keine Geheimnisse. Sie wissen sicher, dass der Strafgefangene sich bei mir einer mehrjährigen Psychotherapie unterzogen hat. Zu Anfang war er in einem desolaten Zustand. Er hatte weder ein Bewusstsein für die Dimension seines Verbrechens noch für dessen Grund. Stattdessen verdrängte er es mit aller Macht und hatte fast alle Einzelheiten vergessen. Als ich ihn fragte, wie viele junge Menschen von seiner Amokfahrt betroffen gewesen waren, wusste er nicht einmal mehr das.
Es war ein mühsamer, auch von Rückschlägen gekennzeichneter therapeutischer Prozess. Aber Tim Burger wollte an sich arbeiten, und er hat durchgehalten. Heute ist er in der Lage, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen, für das, was er getan hat und künftig tun wird. Er hat realistische Ziele und die gereifte Beziehung mit Linda Heintl gibt ihm zusätzlich Halt. Aus all diesen Gründen habe ich seine vorzeitige Entlassung befürwortet.«
»Warum erzählen Sie mir das, Herr von Medingen?«
Er zeigte ein strahlendes und leicht künstliches Lächeln. »Ich habe gehört, dass ein gewisser Anwalt empört über die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer ist. Sie arbeiten doch für Herrn Loewi?«
Schwarz hatte Mühe, seine Verblüffung zu verbergen. Woher wusste von Medingen das? Außer Heiner und Monika, für die er die Hand ins Feuer legen würde, kannte kein Mensch den Namen seines Auftraggebers.
Er überging die Frage und erkundigte sich stattdessen bei dem Gefängnispsychologen, ob er keine Angst habe, dass Tim Burger mit der Freiheit nicht zurechtkommen und noch einmal durchdrehen könnte.
»Ein Restrisiko besteht natürlich immer. Aber das wird nicht kleiner, wenn ein junger Mann wie Tim bis zum letzten Tag eingesperrt bleibt. Ich finde, er hat seine Chance verdient.«
Der Einbruch, schoss es Schwarz durch den Kopf. Auf meinem Schreibtisch lag die Materialsammlung zu Tim Burger mit Loewis Visitenkarte. War es denkbar, dass von Medingen auf diesem Wege an die Information gelangt war? Hatte er Kontakt zu Bernhard Hörwig? Und wenn ja, ahnte er, dass er es mit einem V-Mann zu tun hatte, oder hielt er Hörwig für einen überzeugten Kameraden?
»Sind Ihre Fragen damit geklärt?«, sagte von Medingen.
Schwarz schüttelte den Kopf. »Mich würde noch interessieren, wie Sie Tim Burgers politische Gesinnung einschätzen.«
Von Medingen zögerte.
Schwarz wurde konkreter. »Es gab damals den Verdacht, seine Amokfahrt könne sich bewusst gegen jüdische Jugendliche gerichtet haben.«
»Das ist eine Fixierung von Herrn Loewi. Dafür wurden nicht die geringsten Anhaltspunkte gefunden.«
»Tim Burger hat Ihnen gegenüber also nie antisemitische oder rassistische Bemerkungen gemacht?«
Von Medingen schüttelte den Kopf. »Nein, nie.« Er trotzte Schwarz’ forschendem Blick und zog spöttisch den Mundwinkel nach oben. »Und, Herr Schwarz, falls am heutigen Abend doch der eine oder andere inspirierende Gedanke für Sie dabei war, würde ich Sie gerne wieder hier begrüßen.« Er reichte ihm eine Einladung. »Vielleicht schon morgen?«
Schwarz nickte unverbindlich und steckte die Karte achtlos ein.