36.

Schwarz wartete zu Hause in der Landsberger Straße darauf, dass Loewi sich wie versprochen meldete. Er war unruhig wie seit langem nicht mehr und lief ziellos in dem alten Tanzsaal herum. Der Verkehrslärm kam ihm lauter vor als sonst, das ununterbrochene Dröhnen der Motoren, das Hupen und Reifenquietschen zerrte an seinen Nerven. Wie soll ein normaler Mensch das aushalten, dachte er, und fragte sich im nächsten Moment, ob er überhaupt noch normal war.

Das Telefon läutete. Er stürzte zum Apparat, der neben dem Bett stand.

»Mama, du.«

»Das klingt ja begeistert.«

»Doch, natürlich. Wie geht’s dir denn?«

»Nicht gut, Anton. Gar nicht gut.«

Hildegard Schwarz gehörte nicht zu den alten Frauen, die ständig über ihre Zipperlein klagten. Unkraut vergeht nicht, war eine ihrer Standardantworten, oder Ich habe schon ganz andere Sachen überlebt.

»Was ist denn los?«

»Ich weiß nicht. Mir ist dauernd schwindlig.«

»Warst du beim Arzt?«

»Ich geh doch zu keinem Arzt. Die leben ja davon, dass man krank ist.«

»Du musst dich untersuchen lassen, Mama. Wann hat das denn angefangen?«

»Nach deinem letzten Besuch.«

Schwarz schwante etwas. Er versuchte, seiner Stimme einen möglichst harmlosen Klang zu geben. »Und hast du irgendeine Erklärung?«

Sie schwieg.

»Belastet dich etwas?«

Sie zögerte. Offenbar war sie nicht sicher, wie weit sie gehen konnte.

»Ich habe geträumt, dass du umgebracht wirst.«

Also doch. Sie wollte nach wie vor ihren Kopf durchsetzen.

»Das ist geschmacklos, Mama.«

»Sind deine Träume immer geschmackvoll?«

»Ich weiß genau, worauf du hinauswillst. Aber ich gebe diesen Auftrag nicht zurück. Dafür ist es auch zu spät.«

»Mir geht’s wirklich schlecht, Anton.«

»Mama, ich kenne keine Frau in deinem Alter, die so fit ist – und solche Mengen Wundalkohol verträgt.«

»Schade, dass du mich nicht ernst nimmst«, sagte sie und klang dabei so geknickt, dass sie ihm leidtat. Ich muss trotzdem hart bleiben, dachte er. Wenn sie merkt, dass diese Masche funktioniert, bin ich in alle Zukunft erpressbar.

»Pass gut auf dich auf, Anton«, sagte Hildegard.

»Klar«, sagte Schwarz, aber da hatte sie schon aufgelegt.

 

Loewi rief erst zwei Stunden später an.

»Ich würde Sie gern ins Eliseo einladen? Kennen Sie das?«

Was für eine Frage. Das Restaurant war seit dreißig Jahren ein Wallfahrtsort für Liebhaber der italienischen Küche. Trotzdem musste man nicht wie in anderen Gourmet-Tempeln monatelang im Voraus reservieren, denn das Eliseo befand sich in einem barackenartigen Flachbau unweit einer von den Stadtplanern aufgegebenen Laimer Kreuzung. Der gemeine Münchner Neureiche sah sich außerstande, sein Geld an einem so trostlosen Ort zu lassen.

Genau das war das Kalkül von Enzo, der einst als Aktivist der Kommunistischen Partei Italiens zur Agitation seiner werktätigen Landsleute nach München gekommen war und seine außergewöhnliche Begabung als Koch eher zufällig bei einem Sommerfest der Genossen entdeckt hatte: Er wollte keine Schickeria in seinem Lokal haben.

Schwarz hatte das Eliseo zuletzt an jenem verhängnisvollen 18. Geburtstag seiner Tochter Luisa besucht. Seither waren seine Geschmacksnerven erheblich verkümmert, daran bestand kein Zweifel. Sowohl seine Mutter als auch Monika hatten es nämlich versäumt, ihm die Grundkenntnisse des Kochens beizubringen. Das brauchst du nicht, du hast ja mich, hatten beide immer erklärt.

Sie hatten ihn bewusst in Abhängigkeit gehalten, und so lebte er nun seit drei Jahren, wenn er nicht essen ging, von den wenigen Gerichten, die er sich im Selbststudium beigebracht hatte. Penne mit grünem Pesto aus dem Glas, Farfalle mit rotem Pesto aus dem Glas, Penne mit Tunfisch aus der Dose und Kapern aus dem Glas, Farfalle mit Arrabiata-Sauce aus dem Glas. Gnocchi mit Butter und Parmesan aus der Tüte. Ein Elend.

 

»Toni? Bist du es? Oder ist es dein älterer Bruder? Und du kennst den Avvocato. Buona sera, Signor Levi.«

Enzo, für den der Name Loewi offenbar unaussprechbar war, sorgte mit seiner Begeisterung dafür, dass das ganze Lokal auf sie aufmerksam wurde. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, hierher zu gehen, dachte Schwarz, während der Wirt ihn überschwänglich umarmte.

»Was habe ich falsch gemacht, Toni? Warum seid ihr nicht mehr gekommen?«

»Wir sind getrennt.«

Enzo löste sich von ihm, packte ihn bei den Schultern und betrachtete ihn kopfschüttelnd. »No, non è vero. Ihr wart so ein schönes Paar.«

»Ist auch nur vorübergehend.«

»Ma certo, du hast eine kleine Midlifecrisis, eine süße junge Freundin. Aber in ein paar Monaten langweilst du dich und kehrst reumütig zu deiner Monika zurück, vero?«

»Genau«, sagte Schwarz, um das Gespräch abzukürzen. Schließlich war er nicht zur Ehetherapie hier.

»Können wir einen Tisch in der Ecke haben, Enzo?«, fragte Loewi.

»Ma come no, Signor Levi. Ihr kriegt den Mafia-Tisch. Da sitzt ihr beide mit dem Gesicht zum Lokal und habt alles unter Kontrolle.«

Enzo war ein sensibler Wirt und erkannte sofort die Bedürfnisse seiner Kundschaft. Wenn ein Paar sich nichts mehr zu sagen hatte, sorgte er persönlich für das Entertainment, wenn hingegen Gäste wie Loewi und Schwarz ungestört sein wollten, ließ er sie nach der theatralischen Begrüßung weitgehend in Frieden.

Die politische Vergangenheit des Wirts wirkte bis in die Gegenwart. Die Speisekarte war eine Attrappe, da der Gast in der Praxis eigentlich nicht frei wählen durfte. Enzo empfahl als Vorspeise den warmen Salat von Chicorée mit Trüffeln und Ziegenkäse und hinterher den Rinderschmorbraten in Barolo. Schwarz wusste, dass diese Empfehlungen Befehle waren, und widersetzte sich nur dem Getränkevorschlag. Als er Bier bestellte, verzog der Wirt angewidert das Gesicht. 

»Weißt du nicht mehr, dass ich vom Wein Kopfschmerzen bekomme, Enzo?«

»Aber nicht von meinem.«

Schwarz blieb trotzdem beim Bier.

Loewi, der einen dunkelgrauen Anzug und eine dezente Krawatte trug, stellte seinen ledernen Aktenkoffer neben sich auf die Bank. Er hatte es nicht mehr geschafft, sich nach der Arbeit zu Hause umzuziehen. Er holte tief Luft und atmete lange und geräuschvoll aus. »Was für ein Scheißtag. Entschuldigen Sie, bitte.«

Schwarz nickte verständnisvoll.

»Es ist tatsächlich so, dass Burger das Gefängnis bereits in den nächsten Tagen verlassen wird.«

»Kennen Sie den genauen Termin?«

Loewi schüttelte den Kopf. »Darüber wird kurzfristig entschieden, um dem armen Kerl die Konfrontation mit der Presse zu ersparen.«

Loewi klang bitter, sehr bitter.

»Normalerweise wird so eine Strafe doch erst nach zwei Dritteln der Haftzeit zur Bewährung ausgesetzt?«, sagte Schwarz. »Das wäre Ende Oktober.«

»In besonderen Fällen ist es auch früher möglich.«

»Und was ist an Burger so besonders?«

Sie wurden von Enzo unterbrochen, der es sich nicht nehmen ließ, den Salat persönlich zu servieren. »Buon appetito, Signori!«

Der Anblick der Vorspeise versprach höchste Gaumenfreuden, doch der Anwalt und der Ermittler stocherten lustlos in ihren Tellern.

»Sie wissen, dass die Strafvollstreckungskammer nichtöffentlich verhandelt, Herr Schwarz.«

»Deswegen frage ich mich schon die ganze Zeit, woher Sie Ihre Informationen haben.«

Loewi lächelte. »Ich habe den einen oder anderen guten Bekannten am Landgericht.«

»Ich tippe auf die Protokollantin.«

Der Anwalt widersprach nicht. »Ich weiß also nur vom Hörensagen, wie es zu dieser Entscheidung gekommen ist. Anfangs muss der Vorsitzende angesichts der Schwere der Schuld und dem großen öffentlichen Interesse nach der Amokfahrt erhebliche Bedenken geäußert haben.«

Schwarz fragte nach dem Namen.

»Dr. Breher, ich weiß nicht, ob Sie ihn kennen?«

Und ob er ihn kannte. In seiner ganzen Laufbahn als Polizist war ihm kein größerer Zyniker begegnet. »Dem geht’s doch nur darum, das Gerichtsgebäude möglichst schnell zu verlassen, um zu seinem Jagdrevier an der Kampenwand zu kommen.«

Loewi wiegte den Kopf. »In diesem Fall hat er es sich angeblich nicht leicht gemacht. Obwohl der Bericht dem Gefangenen Beste Führung bescheinigte und eine Gefahr für die Allgemeinheit weitgehend ausschloss, bestand er darauf, noch den Gefängnispsychologen zu hören, der Burger während der letzten Jahre betreut hat. Dieser Mann hat mit seiner überaus positiven Sozialprognose schließlich für den Umschwung gesorgt.«

»Was wissen Sie über ihn?«

»Er heißt Jörg von Medingen.«

»Nie gehört.«

»Ich auch nicht, aber ich habe Informationen über ihn eingeholt. Er hat am Bundeswehrzentralkrankenhaus in Koblenz gearbeitet und sich vor sieben Jahren auf die Betreuung jugendlicher Strafgefangener spezialisiert.«

»Wie ist er zu seiner Einschätzung gekommen?«

Loewi wartete, bis Enzo, sichtlich beleidigt, die fast unberührte Vorspeise abserviert hatte.

»Tim Burger hat sich der Therapie angeblich bereitwillig geöffnet, seine Tat ehrlich bereut, sich konsequent um seine Ausbildung bemüht und über die Jahre zu einem reifen, psychisch stabilen Menschen entwickelt.«

Schwarz stützte nachdenklich das Kinn auf die verschränkten Hände. »Ist es möglich, dass wir uns geirrt haben?«

»Unsinn!«

Loewis barscher Ton überraschte ihn. »Entschuldigung, ich habe nur laut nachgedacht.«

»Da hat die Staatskanzlei ihre Finger im Spiel. Von Medingen ist ein CSU-Mann.« Der sonst so überlegte Anwalt wirkte plötzlich verbissen.

»Langsam, langsam«, sagte Schwarz. »Welches Interesse sollte die Regierung haben, einen möglicherweise sehr gefährlichen Mann wie Burger vorzeitig aus dem Knast zu holen? Sie selbst haben doch gesagt, dass man den Anteil rechtsextremistischer Straftaten in der Kriminalstatistik möglichst gering zu halten versucht.«

Loewi machte eine resignierte Geste. »Sie haben recht. Ich werde langsam paranoid.«

»In der Gefahr sind wir anscheinend alle«, sagte Schwarz.

»Wenn euch mein Brasato auch nicht schmeckt, erschieße ich mich«, erklärte Enzo.

»Dann guten Appetit«, sagte Schwarz.

Sie aßen schweigend. Die blumig fruchtige Note des Barolo, die kräftigen Gewürze und das mürbe Rindfleisch harmonierten aufs Feinste. Doch Schwarz konnte es nicht genießen. Er betrachtete heimlich seinen sichtlich angeschlagenen Auftraggeber und überlegte, wie er ihm die zweite schlechte Nachricht des Tages schonend beibringen sollte.

Aber es gab keine schonende Version. Eine Handgranate war nun mal kein Spielzeug.

Als Schwarz betont sachlich von seiner Entdeckung berichtete, wurde Loewi noch blasser.

»Das ist eine Katastrophe.«

»Moment, wir wissen nicht, ob sie das Ding schon haben.«

»Aber klar. Wofür soll Marco denn sonst einen Zünder besorgen?«

»Auch das ist nicht so einfach.«

»Ach was. Die Typen, die den Anschlag bei der Grundsteinlegung für das Jüdische Gemeindezentrum geplant hatten, besaßen in ihrem Waffenarsenal neben vielem anderen auch eine Handgranate.«

Schwarz seufzte.

»Es ist doch offensichtlich, dass die Gruppe einen Anschlag plant, Herr Schwarz. Wahrscheinlich späht sie schon Ziele aus – die jüdischen Gemeinden, Gedenkorte, Friedhöfe, Lokale, vielleicht sogar die Privathäuser bekannter Münchner Juden. Die warten nur noch, bis Tim Burger aus dem Gefängnis kommt. Wir müssen die Polizei einschalten.«

»Die Kollegen vom politischen Dezernat? Die würden uns auslachen. Was haben wir denn schon? Fünf in einen Holzfußboden geritzte Buchstaben, sonst nichts.«

Loewi starrte ihn wütend an. »Dann bringen Sie mir endlich überzeugende Beweise, verdammt! Dafür bezahle ich Sie.«

»Schreien nützt gar nichts«, sagte Schwarz.