12.

Ich muss in die Karibik, sagte Anton Schwarz immer, wenn er zu dem, von seiner Haustür genau 2,9 Kilometer entfernten, im Anbau eines Autohauses untergebrachten Honorarkonsulat irgendeines karibischen Kleinstaats aufbrach. Er hatte nie begriffen, wieso für die Vertretung eines Landes, das kein Mensch kannte, ein Sicherheitsdienst benötigt wurde, freute sich aber, für eine weitgehend risikofreie Arbeit gutes Geld zu bekommen.

Er schaute zum Himmel. Dunkle Wolken waren aufgezogen. Er ließ es sich trotzdem nicht nehmen, mit dem Rad zu fahren. Nur dann konnte er die Landsberger Straße, die der gemeine Münchner als besonders hässlich, er aber als heimatlich und inspirierend empfand, richtig genießen. Er grüßte das Nashorn aus Bronze und trat in die Pedale.

Ein Schreiner, ein Friseur, ein indisches Lokal, ein Friseur, ein Autohändler, eine italienische Pizzeria, ein Friseur, ein Reifenhändler, ein Stempelmacher, ein Karosseriebauer, ein Friseur, ein Küchenstudio, ein Sushi-Heimservice, eine Pension und daneben schon wieder ein Friseursalon. Schwarz fragte sich, wieso all diese Friseure in eine Straße gezogen waren. Waren sie Lemminge, die gemeinsam zugrunde gehen wollten, oder hatte er einen Trend verpasst und jeder, der etwas auf sich hielt, fuhr neuerdings zum Haareschneiden in die Landsberger Straße?

Auf der rechten Seite begann die Lärmschutzwand. Er schaute zu der Stelle, die er um die Mittagszeit mit Eva aufgesucht hatte. Eigentlich müsste dort ein Kreuz für den ermordeten Dani stehen, dachte er. Halt, das Kreuz war ein christliches Symbol. Mit welchem Zeichen gedachten eigentlich die Juden ihrer Toten? Er wusste es nicht, wie er überhaupt kaum etwas über die jüdische Kultur wusste. Loewi, dachte er, hätte besser einen Juden als Ermittler beauftragen sollen. Falls es überhaupt einen jüdischen Ermittler in München gab.

Auf der anderen Straßenseite löste ein postmoderner Bürokomplex die kleinen Geschäfte und Lokale ab. Er stand leer. Trotzdem wurden, je näher Schwarz der Innenstadt kam, überall neue Gewerbeimmobilien aus dem Boden gestampft. Vielleicht, dachte er, geht es in der Landsberger ja mehr ums Bauen als ums Vermieten. Er überquerte die Straße und radelte das letzte Stück zum Konsulat auf dem Bürgersteig.

Arbeitsbeginn war heute um acht. Schwarz, der sich den Wachdienst mit drei Kollegen teilte, war auf die Minute pünktlich. Er umrundete das Autohaus und sah, dass im ersten Stock noch gearbeitet wurde. Aber das ging ihn nichts an. Er war ausschließlich für den barackenartigen Anbau zuständig, der dem Autohändler in bescheideneren Zeiten als Verkaufsbüro gedient hatte. Das Konsulat war mit drei Überwachungskameras, zwei alarmgeschützten Türen und einfachen Rollläden gesichert. Alles musste genau kontrolliert werden.

Schwarz stellte sein Fahrrad ab und nahm zuerst einen mit mehreren Graffiti-Schichten bedeckten ehemaligen Lagerschuppen nahe der Bahngleise in Augenschein. Wäre er ein Einbrecher, würde er sich dort verstecken und warten, bis die Luft rein war.

Sein Handy klingelte. Es war Loewi, der sich einen ersten Bericht wünschte. Schwarz gab grundsätzlich keine Auskünfte am Telefon. Er war zu lange Polizist gewesen, um sich dabei wohl zu fühlen. »Kommen Sie doch morgen früh bei mir vorbei.«

Aber sein Auftraggeber wollte nicht warten. »Wo sind Sie denn gerade, Herr Schwarz?«

»In der Karibik.«

»Bitte?«

 

Fünfzehn Minuten später, Schwarz hatte gerade seinen Kontrollgang beendet, traf Loewi mit dem Taxi ein. »Wie ist Ihr erster Tag gelaufen?«

Schwarz macht eine vage Geste. »Ich habe mit Eva und Marek gesprochen und dem Vorsitzenden von Blau-Weiß 57.«

»Pavel Fraenkel.«

»Wenn Sie ihn kennen, wissen Sie sicher auch, dass er Tim Burger mal auf dem Vereinsgelände gesehen hat.«

Loewi nickte. »Leider hat er das Gericht davon nicht überzeugen können.«

Schwarz erzählte gerade von seinem missglückten Gespräch mit Frau Burger, als die Regenfront, die nachmittags über dem Jugendgefängnis gestanden hatte, den Münchner Westen erreichte. »Kommen Sie!«, rief er und lief im prasselnden Regen Richtung Straße.

Loewi folgte ihm zu einem Wohnmobil.

»Ihr habt sie wohl nicht alle!«, schrie eine nur mit rotem Lackhöschen und Büstenhalter bekleidete, etwa fünfunddreißigjährige Frau. Der Ermittler und der Anwalt zwängten sich an ihr vorbei ins Fahrzeug.

»He, seid ihr taub?« Da erkannte sie Schwarz. »Anton. Ich wusste, dass du wieder auftauchst. Aber gleich zum Dreier?« Sie zwinkerte Loewi zu.

»Können wir deinen Wagen kurz als Konferenzraum benutzen, Cindy?«

Sie nickte. »Aber ihr haut ab, sobald Kundschaft kommt, klar?«

»Ziemlich unwahrscheinlich bei dem Sauwetter.«

Cindy, die eigentlich Heike hieß, aus Duisburg stammte und vor ihrer derzeitigen Tätigkeit Fremdsprachensekretärin gewesen war, verzog sich auf den Fahrersitz.

Loewi setzte sich auf das französische Bett. Schwarz schob eine Rolltür zur Seite und nahm auf dem Klosettdeckel Platz. Die Wände waren mit burgunderrotem Samtstoff bezogen, auf einer Ablage stand eine Sammlung bemalter russischer Puppen. Das Licht war gedämpft, eine frische Duftkerze überdeckte verschiedenste Gerüche.

Es war etwa zwei Jahre her, dass Schwarz Cindy vor einer Vergewaltigung durch mehrere betrunkene Jugendliche bewahrt hatte. Danach war er zu einer Art Kummeronkel für sie geworden. Das Schamgefühl verlierst du in diesem Geschäft schnell, sagte sie oft, den Ekel nie. Wenn Cindy länger als eine Woche am Stück arbeitete, blühten Ausschläge an ihren Armen und Beinen auf, die kein Hautarzt in den Griff bekam. Dann half nur noch ein Besuch zu Hause. Ihre Eltern glaubten, sie arbeite als Domina und ließe sich nicht anfassen. Das fanden sie weniger schlimm. Nach einer Woche Duisburg hatte Cindy wieder die Haut eines jungen Mädchens und konnte zur Arbeit nach München zurückkehren.

Schwarz wusste, dass sie auf eigene Rechnung arbeitete und nur für den Standplatz des Wohnmobils ein paar Hunderter an einen dubiosen Vermittler abdrückte. Einmal hatte er sie gefragt, wie lange sie denn das noch machen wolle. Bis ihre Ersparnisse reichten, um ein Übersetzungsbüro zu eröffnen und nur noch andere für sich schuften zu lassen, hatte Cindy erklärt. Also nie, hatte Schwarz gedacht.

»Können wir ihr vertrauen?«, fragte Loewi.

Der Ermittler nickte und lachte. »Ich weiß zu viel über sie.«

Um gleich gar nicht in Versuchung zu kommen, steckte Cindy sich die Stöpsel ihres iPods in die Ohren.

»Ich hatte eine spannende Begegnung mit Burgers damaliger Freundin«, begann Schwarz und erzählte. Loewi hörte ihm schweigend und konzentriert zu, bis er auf die ominösen Fotos auf Lindas Handy zu sprechen kam. »Ich glaube, ich weiß, was für ein Verein das war. Die Deutschlandtreuen, richtig?«

Schwarz nickte, so weit war er mit seinen Recherchen inzwischen auch gekommen. Die sogenannten Deutschlandtreuen waren eine Nachfolgeorganisation der in den neunziger Jahren verbotenen Wiking-Jugend und derzeit wohl der stärkste nationalistische Jugendverband. »Sie sind straff organisiert und haben das erklärte Ziel, ›rassereine‹ Verbindungen zu stiften.«

»›Rasserein‹? Das trauen die sich aber nicht so zu sagen?«

»Oh doch. Meine Quelle ist zuverlässig.«

Seine Quelle war Heiner, ein ehemaliger Klassenkamerad. Er dokumentierte seit den Mordanschlägen von Mölln und Solingen alle rechtsextremistischen Umtriebe im Land. Während andere schnell wieder zum politischen Tagesgeschäft, zu Karriere und Selbstverwirklichung zurückgekehrt waren, hatte ihn das Thema nie mehr losgelassen. Schwarz hielt das zwar insgeheim für eine Fixierung, war jetzt aber froh, einen ausgewiesenen Kenner der braunen Szene an der Hand zu haben. Kurz bevor er zum Wachdienst geradelt war, hatte er ihm gemailt.

Heiner, altes Trüffelschwein, was fällt dir zu Lagerfeuer mit Reichskriegsflagge ein?

Suchst du eine politische Heimat, Toni?

Keine Zeit für schlechte Scherze. Was ist das für ein Verein?

So hatte Schwarz nicht nur von der Rasseideologie der Deutschlandtreuen erfahren, sondern auch, dass sie an Kinder Hitlerbilder verteilten, Zeltlager gewerkschaftlich organisierter Jugendlicher überfielen oder zur Jagd auf Farbige bliesen.

»Können Sie mir erklären«, sagte Loewi, »warum so eine Organisation nicht verboten wird und ungehindert Kinder und Jugendliche aufhetzen darf?«

»Kann ich leider nicht«, sagte Schwarz, »weil ich kein sehr politischer Mensch bin und mich bislang nicht mit solchen Fragen beschäftigt habe.« Er glaubte einen Anflug von Spott in Loewis Blick zu entdecken.

Da wurde die Tür aufgerissen. »Cindy nix da?«, fragte ein blasser alter Mann.