3.
Schwarz hatte um Bedenkzeit gebeten. Reine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ohne Sinn und Aussicht auf Erfolg versuchte er grundsätzlich zu vermeiden. Um frei entscheiden zu können, welchen Auftrag er übernahm und welchen er ablehnte, hatte er sich vor einiger Zeit als Wachmann bei einem Konsulat verpflichtet. Der Verdienst reichte zumindest für die Mietkosten seiner extravaganten Unterkunft.
Schwarz überlegte. War es denkbar, dass ein Mordanschlag mit antisemitischem Hintergrund als wahllose Verzweiflungstat eines seelisch Verirrten eingestuft und mit einer viel zu milden Jugendstrafe geahndet worden war? Oder hatte Loewi sich da in etwas verrannt?
Was sagt mir mein Gefühl, dachte Schwarz. Sein Gefühl schwieg.
Er musste also auf anderem Wege zu einer Entscheidung kommen. Außer der Tatsache, dass seine ehemaligen Kollegen von der Kripo mit den Ermittlungen betraut gewesen waren, gab es noch eine weitere Verbindung zu dem Fall. Tim Burger hatte einige Jahre das Pasinger Gymnasium besucht, das Monika als Direktorin leitete.
Schwarz traf pünktlich zur Pause ein.
Die Schüler strömten aus allen Türen in den asphaltierten und mit zwei armseligen Bäumchen dekorierten Pausenhof. Monika hatte sich immer geärgert, dass ihr Mann Lehrer maßlos dafür bewunderte, dass sie bei diesem Höllenlärm nicht gewalttätig wurden. Als hätten sie keine anderen Verdienste.
Schwarz wusste, dass seine Frau den Kontakt mit den Schülern suchte und ihr Büro so oft wie möglich verließ. Es dauerte nicht lange, da tauchte sie auf, ein sportlicher Typ im khakifarbenen Hosenanzug mit dezent gesträhnter, dunkelblonder Kurzhaarfrisur. Ihre 47 Jahre sah man ihr nicht an. Sie sprach mit einigen der Schüler und schien ganz in ihrem Element. Als Monika Schwarz ihren Mann bemerkte, verfinsterte sich ihre Miene. »Hey, du weißt genau, dass du hier nicht einfach aufkreuzen sollst.« Sie nahm ihn zur Seite. »Was ist denn, Anton?« Niemand konnte den Namen Anton schauerlicher klingen lassen als sie.
»Ich bräuchte deinen Rat.«
Monika stöhnte. »Wir haben uns getrennt.«
»Du ziehst es vor, dass wir in getrennten Wohnungen leben«, korrigierte Schwarz sie sanft, »vorübergehend.«
Monika war klug genug, das Thema nicht zu vertiefen. Schwarz war dazu fähig, ihr vor allen Schülern seine Liebe zu erklären.
»Um was geht es denn?«
»Um einen Fall, den ich übernehmen soll. Erinnerst du dich an Tim Burger?«
Monika nickte.
»Hast du ihn mal als Lehrerin gehabt?«
»Ja, in dem Jahr, in dem er von der Schule flog.«
»Wieso habt ihr ihn rausgeworfen?«
»Das darf ich dir nicht sagen.«
»Mir genügt eine Andeutung.«
»Wir haben ihn nicht mehr in den Griff gekriegt.«
»Drogen? Psychische Probleme?«
»Anton, ich darf keine Auskünfte über Schüler geben.«
Schwarz sah, dass Monika um die Hüften herum ein klein wenig zugelegt hatte. Es störte ihn nicht. Sein Blick wanderte zu dem zarten Flaum an ihren Schläfen, den er so liebte, und zu den Lachfältchen um ihre grünblauen Augen.
»Hör auf, mich wie ein Dackel anzuschauen, Anton.«
»Hat Tim Burger jemals schlecht über Juden gesprochen?«
»Was?« Sie blickte ihn irritiert an.
»Sag schon, hat er?«
»Du weißt, wie viel Blödsinn da geredet wird. Die meisten meiner Schüler haben noch nie einen Juden gesehen, aber wenn ich frage, ob die Juden in Deutschland zu viel Einfluss hätten, antwortet ein Drittel mit Ja.«
»Burger auch?«
»Daran erinnere ich mich wirklich nicht mehr.«
Er bemerkte, dass sie seinem Blick auswich. »Aber an was anderes erinnerst du dich, stimmt’s?«
Monika berührte Schwarz leicht am Arm und lotste ihn zu einem Mauervorsprung am Rand des Pausenhofs.
»Wir haben nicht über Tim gesprochen, okay?«
»Einverstanden.«
Sie erzählte, wie Tim Burger sie einige Monate nach seinem Schulausschluss auf der Straße abpasste. Er sei völlig durcheinander gewesen.
»Um was ging es?«
»Um Linda, die Prinzessin. Tim war mit ihr zusammen gewesen. Mit dem begehrtesten Mädchen der ganzen Schule, verstehst du?«
»Sie hat ihn verlassen. Warum?«
»Sie muss von ihm irgendeine abstruse Mutprobe gefordert haben, aber er hat gekniffen. Daraufhin hat sie unter der Überschrift Wieso ich nicht mit einem Loser zusammen sein will Tims peinlichste Fotos und dümmste Sprüche ins Internet gestellt. Doch selbst damit wurde sie ihn nicht los.«
»Das kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Also, bitte! Ich habe unsere Trennung immer diskret behandelt.«
»Ich meinte, dass du mich nicht loswirst.«
»Ich kann es ja machen wie Linda. Sie muss Tim mehr oder weniger dazu eingeladen haben, ihr beim Sex mit seinem Nachfolger zuzugucken.«
Schwarz schluckte.
»Entschuldige, Anton, das war gemein.« Diesmal ließ sie seinen Namen ganz anders klingen. Anton, mit einem tief aus der Brust kommenden, leicht vibrierenden A.
»Schon okay«, sagte Schwarz.
Monika wandte sich zum Gehen. »Tim Burger hat Linda jedenfalls unmittelbar vor seiner Amokfahrt mit dem anderen im Bett erwischt. Aber daran erinnerst du dich bestimmt. Die Presse hat es ja in allen Einzelheiten durchgehechelt.«
Schwarz erinnerte sich nicht. Merkwürdig. Gab es bei ihm vielleicht noch andere blinde Flecken als die von Loewi erwähnten? Flecken, die sich gnädig über Ereignisse legten, die ihn an Monikas unverständlichen und schmerzhaften Rückzug erinnern könnten?
»Wie heißt diese Linda mit Nachnamen?«, rief Schwarz Monika nach.
»Heintl. Linda Heintl.«