67.

Burger fixierte die Demonstranten und stand sehr aufrecht da, fast so, als halte er die Luft an.

Von Medingens Auftritt war das Zeichen für ihn, schoss es Schwarz durch den Kopf.

Burger hielt die Arme verschränkt vor dem Körper, und es war schwer zu erkennen, ob er die Granate noch in seiner Vliesjacke versteckte oder bereits in der Hand hielt.

Was jetzt? Jeder Versuch, ihn zu überwältigen, wäre selbstmörderisch gewesen – und hätte zahllose Menschen in Gefahr gebracht.

Die Demonstranten in der hintersten Reihe waren gerade mal fünf Meter entfernt. Schwarz wusste von Buchrieser, dass die Metallsplitter einer Handgranate bis zu zweihundert Meter weit flogen.

Von Medingen sprach nach wie vor ins Megafon, aber durch den ohrenbetäubenden Lärm der Demonstranten hindurch war kein Wort zu verstehen.

Von Tim Burger nahm außer Schwarz niemand Notiz. Doch dann fiel sein Blick auf Eva Hahn: Auch sie starrte auf Burger. Aber hatte sie ihn auch erkannt – den Mann, der ihren Freund Dani umgebracht und sie zu einem Leben im Rollstuhl verdammt hatte?

»Bitte, Eva«, sagte Schwarz und ging langsam auf sie zu. »Sie müssen so schnell wie möglich weg von hier!«

Sie schüttelte den Kopf und konnte ihren Blick nicht von Burger lösen. Sie weiß, dass er es ist, dachte Schwarz. Er war schon auf zwei Schritte bei ihr, da drehte Burger sich leicht zur Seite. Seine Hand umschloss die Granate.

Schwarz stand da wie erstarrt. Erst als er Evas flehenden Blick auffing, spürte er sich wieder. Er riss das Mikro aus der Halterung. Es gab eine kreischende Rückkopplung. Burger fuhr herum und starrte ihn mit offenem Mund an. Auch ein Teil der Demonstranten blickte nun wieder in Richtung Bühne.

»Meine Damen und Herren«, sagte Schwarz mit belegter Stimme. »Bewahren Sie jetzt bitte unbedingt die Ruhe und gehen Sie! Gehen Sie, so schnell Sie können – weg von der Bühne, bitte, rasch! Unter uns befindet sich jemand mit einer Waffe. Laufen Sie! Aber geben Sie acht auf die anderen!«

Einen Moment lang herrschte Totenstille, die Menschen standen wie paralysiert an ihren Plätzen. Dann, endlich ging eine Bewegung durch die Menge. Wie die Folge einer leichten Erschütterung, nicht mehr. Schwarz begriff, dass die Demonstranten zu dicht beieinanderstanden und nicht wussten, wohin sie fliehen sollten. Es musste etwas geschehen, bevor eine Panik ausbrach.

Tim Burger stand noch immer regungslos da.

Plötzlich sprang Schwarz von der Bühne und stürzte sich auf ihn. Burgers Hand hatte den Bügel der Granate umfasst. Mit der Linken nestelte er nervös am Splint.

Schwarz versuchte, sein Handgelenk zu packen. »Du Arschloch!«, schrie er verzweifelt. »Merkst du denn nicht, dass du nur ein Werkzeug bist?«

Burger hielt inne und lächelte irre. »Ein Werkzeug, ja!«

»Von Medingen benutzt dich nur«, gab Schwarz nicht auf. »Hier wimmelt es von Polizisten in Zivil, die er geholt hat.«

»Halt’s Maul!«

»Er hat dich angezeigt, verstehst du, und den Bullen gesteckt, dass du ihn angerufen hast.«

Burger starrte ihn an. »Du lügst.«

»Begreifst du nicht: Er hat dich verraten.«

Da ging eine Veränderung durch Burger. Er schüttelte den Kopf und hörte gar nicht mehr auf. »Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr!«

»Tim, von Medingen will dich wieder in den Knast bringen!«

Burger starrte ihn mit dem flackernden Blick des Wahnsinnigen an. Zehn Sekunden vergingen, ohne dass irgendetwas geschah. Dann zog er mit einer jähen Bewegung den Splint.

»Nein!«, schrie Schwarz und rannte. Rannte um sein Leben. Als er sich kurz umblickte, ließ Burger gerade den Bügel los.

Aber er schleuderte die Handgranate nicht unter die Demonstranten. Stattdessen hielt er sie mit beiden Händen umfasst.

Zweihundert Meter, dachte Schwarz, mein Gott.

Er schloss die Augen und hörte einen dumpfen Schlag.

Jetzt die Splitter, dachte Schwarz, der brennende Schmerz und dann der Tod. Ich habe so viel Scheiße gebaut in neunundvierzig Jahren. Warum habe ich meine Zeit so verschwendet? Ich muss doch noch mal mit meiner Mutter reden und mit Monika und Luisa.

Da hörte er Burgers Schrei. Er öffnete die Augen und sah das Entsetzen in dessen Blick. Burger starrte auf seine blutigen Fingerstümpfe. Er hielt sie von sich weg, als gehörten sie ihm nicht.

Die Handgranate lag am Boden. Der Zünder war herausgerissen, aber sie war nicht explodiert.

Es war totenstill.

Burger bewegte verwirrt den Kopf hin und her, zweimal, dreimal, dann raste er los.

Die Menschen wichen zurück, aber Schwarz rannte sofort hinterher. Er lief, so schnell er konnte, doch Burger war trotz seiner Verletzungen schneller. Bald hatte er ihn aus den Augen verloren und konnte sich nur noch an den Blutflecken auf dem Asphalt orientieren. Sie führten zu einem Fußweg. Wo wollte Burger hin?

Der Weg mündete in eine weitläufige Grünfläche. Da sah Schwarz Burger wieder. Er hetzte gut hundert Meter entfernt unter Bäumen hindurch und dann über einen Fußballplatz zur anderen Seite der Anlage.

Schwarz versuchte, den Abstand zu Burger zu verringern, aber er schaffte es einfach nicht und verfluchte seine schlechte Kondition. Im nächsten Moment begriff er, was Burger vorhatte.

Der Zugang zum Bahndamm war durch einen hohen, zum Teil von Gebüsch verdeckten Maschendrahtzaun versperrt. Auf seiner panischen Flucht hatte Burger den Zaun nicht gesehen und rannte mit voller Wucht dagegen.

Benommen blieb er am Boden liegen.

Schwarz holte auf. Er sah, wie Burger sich, beim Versuch aufzustehen, auf seine verstümmelten Hände stützte, und hörte ihn verzweifelt brüllen.

Dann war er wieder auf den Beinen. Er taumelte zu einem Loch im Zaun und zwängte sich stöhnend hindurch.

Schwarz erreichte die Stelle nur Sekunden später. Burger hetzte den steilen Bahndamm hinauf. Dann verschwand er aus seinem Blick.

Als Schwarz endlich keuchend am Gleisbett ankam, sah er nur noch, wie Tim Burger direkt auf den heranrollenden Güterzug zulief. Vom Führerstand kam ein hohes Pfeifen, aber Burger rannte weiter. Die Bremsen kreischten ohrenbetäubend, von den blockierenden Rädern stieg Qualm auf.

Dann prallte Burgers Körper auf die Lok, und Schwarz schloss die Augen.