7.
Eva Hahn parkte auf der Standspur vor der Lärmschutzwand. Ihr Rollstuhl senkte sich sanft auf die Straße, als ein Mann auf einer schwarzen Vespa eintraf. Er nahm den Helm ab, fuhr mit der Hand durch sein rotes Haar, beugte sich zu Eva hinab und küsste sie auf den Mund.
»Du wirst immer schöner.«
Dann streckte er Schwarz die Hand hin. »Marek Solender. Sie können gern Du zu mir sagen.«
»Anton Schwarz. Ich würde Sie lieber siezen. Sie sind ein Zeuge.«
»Wie Sie meinen. Ich habe übrigens gestern mit Sammy telefoniert, der damals auch dabei war und jetzt in Haifa lebt.«
»Wie geht’s ihm?«, fragte Eva.
»Super. Er hat sich ein Poster mit Glatzen, die den Hitlergruß zeigen, übers Bett gehängt.«
»Was?« Eva und Schwarz schauten ihn ungläubig an.
»Gegen das Heimweh.« Marek lachte als Einziger über seinen Witz. Eva rollte über eine Grasfläche zu der Stelle, wo die Spuren der Amokfahrt noch zu sehen waren. Das Rankgitter war eingedrückt, die Metallwand dahinter an zwei Stellen verbeult. Man erkannte Schleifspuren und Lackreste.
Eva berührte andächtig die massive Wand. »Dani starb genau hier. Ich stand ein Stück weiter links, das war mein Glück. Sammy und Marek sind unter den Wagen geraten.«
»Benny hat nur ein paar Schrammen abgekriegt«, ergänzte Marek. »Trotzdem wollte er keinen Tag länger als nötig in Deutschland bleiben. Er hätte mal besser die ›Nationalzeitung‹ statt der ›Süddeutschen‹ lesen sollen.«
Eva und Schwarz schauten ihn fragend an.
»Die ›Süddeutsche‹ kritisiert uns Juden ständig wegen der Palästinenserfrage, in der ›Nationalzeitung‹ stehen nur positive Sachen über uns. Wir steuern die größten Medienkonzerne, die amerikanische Regierung und eigentlich die ganze Weltwirtschaft.«
»Hör endlich auf, den Clown zu spielen!«, fuhr Eva ihn an. Marek zuckte zusammen und sah sie an wie ein geschlagener Hund. »Entschuldige.«
Schwarz fragte die beiden, ob sie noch wüssten, wann sie damals Burgers Wagen zum ersten Mal bemerkt hätten.
Ihr sei nur der Mercedes mit der türkischen Familie aufgefallen, erklärte Eva, weil die Kinder so süß gewesen seien.
»Wie war es bei Ihnen, Marek?«
»Mir ist nur Eva aufgefallen.«
Eva lächelte bitter und fuhr zur Öffnung in der Lärmschutzwand, durch die sie und ihre Freunde damals auf die Landsberger Straße getreten waren. Dahinter lagen eine Wohnsiedlung mit Reihenhäusern aus den sechziger Jahren und ein eingezäunter, von Bäumen und einer dichten Hecke umgebener Sportplatz. Die drei steuerten einen Flachbau an, in dem eine Gaststätte, Umkleideräume und das Vereinsbüro untergebracht waren.
Ein kräftiger, etwa vierzigjähriger Mann mit grau meliertem Haar trat aus der Tür, um die Ankömmlinge in Augenschein zu nehmen. »Ihr seid es. Servus, lang nicht mehr gesehen.«
Eva stellte Schwarz als Ermittler vor, der hoffentlich Licht in die Geschehnisse des 22. Juni 2004 bringen werde.
»Das hoffe ich auch. Ich bin Pavel Fraenkel, Vereinsvorsitzender. Ist übrigens kein Ehrentitel: Niemand wollte den Job machen.«
Schwarz fragte nach der Geschichte von Blau-Weiß 57.
»Der Verein wurde von Holocaust-Überlebenden gegründet, die in Deutschland hängen geblieben sind«, sagte Fraenkel. »Es begann mit einer Fußballmannschaft, heute bieten wir auch Tennis und Hockey an. Etwa siebzig Prozent der Vereinsmitglieder sind Juden, die anderen Freunde aus zehn verschiedenen Nationen, darunter übrigens auch einige Moslems.«
Schwarz erkundigte sich, welche Sicherheitsvorkehrungen es gebe.
»Wie soll man eine Anlage wie diese wirkungsvoll schützen?«, sagte Fraenkel. »Wenn irgendein Wahnsinniger ein Blutbad anrichten will, haben wir auch mit Sicherheitsdienst und Überwachungskameras kaum eine Chance. Außerdem sollen unsere Jugendlichen Spaß haben und nicht ständig damit konfrontiert sein, dass sie ein potentielles Anschlagsziel für Nazis und Islamisten sind.«
Er zeigte zur blauweißen Vereinsfahne mit dem Davidstern. »Nur die Fahne hängen wir lieber über der Hintertür auf.«
»Hat es vor Burgers Amokfahrt Drohungen gegen den Verein gegeben?«
Fraenkel schüttelte den Kopf. »Jedenfalls keine ernst zu nehmenden.«
Schwarz registrierte, dass Eva Hahn zu einem der Tennisplätze schaute, wo zwei junge Frauen sich ein leidenschaftliches Duell lieferten. Er hatte den Eindruck, dass sie ihren Blick kaum von den Beinen der beiden lösen konnte.
»Braucht ihr mich noch?«, fragte Marek. »Ich muss dringend zu einem Kunden.«
»Mein Computer spinnt übrigens auch«, sagte Fraenkel.
»Alle Computer spinnen.« Marek reichte Schwarz seine Visitenkarte mit der Aufschrift PC-Rettungsdienst Solender und verabschiedete sich mit einem Kuss von Eva.
»Keine Drohungen also«, nahm Schwarz das Gespräch wieder auf, »und Burger haben Sie auch nie vorher gesehen?«
Der Vereinsvorsitzende begann nervös mit dem Bändel seiner Kapuzenjacke zu spielen. »Er war mal hier, bei einem Spiel unserer 1. Mannschaft gegen Neuaubing. Er stand unter den gegnerischen Fans.«
»Sind Sie sicher?«
Er nickte. »Er ist mir wegen seiner Freundin aufgefallen.«
»Einer scharfen Blondine«, sagte Eva über die Schulter und rollte heran.
»Haben Sie das der Polizei gesagt, Herr Fraenkel?«
»Selbstverständlich.«
»Gab es keine Gegenüberstellung?«
»Doch. Aber die haben lauter so Milchbubis wie Burger antanzen lassen. Da sah einer wie der andere aus.« Er machte eine hilflose Geste.
»Die Blondine hätte Pavel sicher erkannt«, sagte Eva.
»War sie bei der Gerichtsverhandlung?«
Pavel Fraenkel nickte. »Sie hat behauptet, ihr Freund hätte nie ein schlechtes Wort über uns Juden verloren. Er würde uns im Gegenteil sogar sehr bewundern.« Die Erinnerung an die Verhandlung machte den Vereinsvorsitzenden immer noch wütend.
Schwarz betrachtete ihn. Er hielt ihn für glaubwürdig. Tim Burger hatte also von der Existenz von Blau-Weiß 57 gewusst. Als die Jugendlichen in Trainingsanzügen mit dem Vereinswappen auf ihn zukamen, musste ihm klar gewesen sein, dass es sich um Juden handelte. Aber reichte das als Beweis dafür, dass er aus Judenhass gemordet hatte?
Es wäre ein Fehler, dachte Schwarz, jetzt schon auszuschließen, dass es Burger in seinem psychischen Ausnahmezustand scheißegal war, ob er Juden, Moslems oder Christen umbringt.