16.
Seine Mutter war so klein und schlank, dass Schwarz sie wie ein Kind hätte hochheben können – was ihm selbstverständlich der Respekt verbot. Die geblümten Kittelschürzen, die Hildegard trug, waren seit vierzig Jahren aus der Mode, sahen aber immer wie neu gekauft aus. Wahrscheinlich war damals, bei der Auflösung ihres Ladens, ein ganzer Posten übrig geblieben. Schwarz konnte sich nicht daran erinnern, dass seine Mutter jemals beim Arzt gewesen war, außer beim Zahnarzt. Sie trug seit fünfzehn Jahren dieselbe Frisur, eine mittellange, violett schimmernde Dauerwelle.
»Trink«, sagte sie und stellte ihm das dritte Gläschen hausgemachten Eierlikörs hin. Ihre Mixtur war teuflisch. Als er sie einmal im Scherz gefragt hatte, ob sie für den Likör Wundalkohol verwende, war sie ihm die Antwort schuldig geblieben.
»Du machst mich betrunken, Mama.«
»Bist du nicht mit der S-Bahn da?«
»Schon.«
Tatsächlich nahm Schwarz grundsätzlich öffentliche Verkehrsmittel nach Waldram, wodurch die Besuche bei seiner Mutter zu einer Art Wallfahrt wurden. Er redete sich ein, dies wäre Absicht, damit sie länger lebe. In Wirklichkeit ließ er den Wagen nur stehen, weil er schon mal nach einer ihrer Likörorgien in eine Alkoholkontrolle geraten war. Er hatte es zwar geschafft, sich als ehemaliger Kollege rauszureden, aber ein zweites Mal wollte er das Risiko nicht eingehen.
Das Wohnzimmer, in dem Schwarz und seine Mutter inzwischen am vierten Gläschen nippten, befand sich im ehemaligen Dorfladen von Waldram. An dem alten Verkaufsregal klebten noch handgeschriebene Preisschilder, und das große Schaufenster gab einem das Gefühl, auf dem Präsentierteller zu sitzen. Hildegard Schwarz weigerte sich beharrlich, einen Teil der Auslage zumauern zu lassen oder wenigstens blickdichte Vorhänge anzubringen. »Die hatte ich nie. Wenn ich jetzt welche aufhänge, denken die Leute, ich hätte plötzlich was zu verbergen.«
Wenn sie trank, dauerte es meistens nicht lange, bis sie sich auf eine Zeitreise begab. Statt Waldram sagte sie dann Föhrenwald oder gleich Lager Föhrenwald, denn die Siedlung war aus Unterkünften für die Zwangsarbeiter einer großen Munitionsfabrik der Nazis hervorgegangen. Nach dem Krieg waren hier die Heimatvertriebenen untergekommen.
»Ich war eine Frau der ersten Stunde«, sagte Hildegard mit bereits schwerer Zunge, »und würde meinen Laden heute noch betreiben …«
»Wenn diese verfluchten Aldis, Lidls und Schleckers dir nicht das Wasser abgegraben hätten«, vollendete Schwarz ihren Satz.
Sie schaute ihn traurig an. »Ich langweile dich.«
»Überhaupt nicht, Mama.«
»Du kennst alle meine Geschichten.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Die Geschichte von der Konditorei meines Vaters in Karlsbad?«
»Die natürlich schon.«
»Und dass ich hier mit einem einzigen Sack Kartoffeln angefangen habe?«
»Du hast einen Teil mit Wurzelsud eingefärbt, damit es aussah, als hättest du zwei Sorten.«
»Und die legendären Kirwa-Feste von der Gmoi?«
»Mit den vielen kleinen Egerländern neun Monate später, freilich.«
Sie seufzte. »Wenn alle Geschichten erzählt sind, wird es Zeit zu gehen.«
»Das täte dir so passen.«
»Was weißt du denn noch nicht?«
»Von meinem Vater zum Beispiel weiß ich fast gar nichts.«
»Der war langweilig.«
»Hast du ihn nie geliebt?«
»Nur körperlich und nur ein paar Wochen lang. Aber ich bin ihm dankbar dafür, dass er mich so schnell sitzen lassen hat. Sonst hätte ich vielleicht nie begriffen, dass eine Frau auch ohne Mann glücklich sein kann.«
Sie schraubte die nächste Flasche Eierlikör auf, als Schwarz’ Handy klingelte. »Ja? Herr Loewi, was gibt’s?«
Hildegard verzog das Gesicht und stellte die Flasche absichtlich laut auf den Tisch.
»Was hat das mit unserem Fall zu tun?« Schwarz horchte zunehmend besorgt. »Verstehe. Könnten Sie mich an der Donnersbergerbrücke abholen? Ich rufe Sie an, sobald ich in der S-Bahn sitze.« Er legte auf.
»Ich mag es nicht, wenn du in meiner Anwesenheit Geschäfte machst«, sagte seine Mutter.
»Tut mir leid, Mama. Ein Auftraggeber. Ein Onkel von ihm kennt dich übrigens.«
»Wie heißt der denn?«
»Loewi, hast du nicht gehört?«
»Löwe?«
»Loe-wi. Jüdisch.«
Seine Mutter starrte ihn an. »Ich kenne keine Juden.«
Ihr Ton irritierte Schwarz, aber er hatte es eilig. »Na ja, vielleicht heißt der Onkel auch anders.« Er erhob sich und merkte, dass er leicht schwankte. Der verdammte Eierlikör.
»Lass die Finger von der Geschichte, Anton.«
»Was? Du weißt doch gar nicht, um was es geht.«
»Mein Gefühl sagt mir, dass es sehr gefährlich für dich werden kann!«
»Mama, es ist ein Fall wie jeder andere.«
»Nein«, sagte sie.
Schwarz verstand nicht, was mit seiner Mutter los war. Sie hatte ihm bei Ermittlungen dank ihrer Lebenserfahrung und eigenwilligen Weltsicht oft wertvolle Anregungen gegeben, aber nie versucht, sich einzumischen.
Sie schenkte sich noch ein Gläschen ein. »Aber wenn du unbedingt in dein Unglück rennen willst, bitte sehr.«
Schwarz küsste sie zum Abschied auf die Stirn. »Mach dir keine Sorgen, Mama.«
Sie zuckte die Schultern. »Ich möchte nur nicht erleben, dass du vor mir stirbst.«