20.

Im Besprechungszimmer wartete Tim Burger bereits auf ihn. Er stand auf und kam ihm entgegen. Während sie kurz Hände schüttelten, hatte Schwarz den Eindruck, dass der Häftling unauffällig auf die Zehenspitzen ging und den Rücken durchdrückte, um ihn von oben herab betrachten zu können. Was war denn das für eine Marotte?

»Herr Burger, wie geht es Ihnen?«

Anstatt zu antworten, deutete Burger auf zwei Stühle.

Schwarz begrüßte den Wärter, der in einer Ecke die Regionalausgabe des ›Münchner Merkur‹ las, mit einem freundlichen Nicken und nahm Platz.

Sie saßen sich so dicht gegenüber, dass ihre Knie sich fast berührten. Schwarz rückte ein Stück zurück. Er war seit kurzem in dem Alter, in dem man eine gewisse Distanz oder eine Brille brauchte, um scharf zu sehen. Burger lächelte herablassend: Er deutete seine Rückwärtsbewegung offenbar als Zeichen von Schwäche.

Im Vergleich zu den Zeitungsfotos, die Schwarz aus Loewis Mappe kannte, wirkte der Häftling erwachsener. Sein Gesichtsausdruck war hart und verschlossen. Burger sah Schwarz unverwandt an. Wollte er testen, wie lang er seinem Blick standhielt?

Der Wärter beendete das Spiel unabsichtlich, indem er sich geräuschvoll schnäuzte. Burger warf einen wütenden Blick in seine Richtung.

»Herr Burger«, begann Schwarz, »ich habe ja bereits mit Ihrer Exfreundin gesprochen …«

»Hat sie mir gesagt.«

Die beiden standen also tatsächlich in Verbindung. Schwarz beschloss, die Nummer mit der Versicherung durchzuziehen, obwohl Tim Burger sie ihm möglicherweise nicht abnehmen würde. Es war nicht entscheidend, worüber sie genau sprachen. Wichtig war, dass es ihm gelang, den Häftling aus der Reserve zu locken und zu begreifen, mit was für einem Menschen er es zu tun hatte.

Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte Tim Burger das gleiche mit ihm vor und seinem Besuch genau deshalb zugestimmt.

»Ich kann kurz zusammenfassen, um was es geht«, sagte Schwarz.

»Nicht nötig. Linda hat ein sehr gutes Gedächtnis.« Er grinste, indem er einen Mundwinkel nach oben zog. »Was soll das überhaupt für eine Versicherung sein? Eine Lebensversicherung?«

Er fühlt sich überlegen, dachte Schwarz, das ist gut. Er meint, dass er mit mir spielen kann. »Aus Datenschutzgründen kann ich leider nicht aus der Police zitieren, aber Sie haben bestimmt von Verträgen gehört, mit denen etwa Pianisten ihre Finger oder Modells ihre Beine versichern.«

»Man kann sich doch nicht gegen eine Amokfahrt versichern«, sagte Burger zum ersten Mal leicht verunsichert.

»Aber gegen einen Anschlag, wenn man zu einer gefährdeten Personengruppe gehört.« Er sah, wie es im Kopf seines Gegenübers arbeitete, und fuhr ohne Unterbrechung fort. »Die Versicherungssumme wird selbstverständlich nur fällig, wenn der Tatbestand zweifelsfrei erwiesen ist.«

»Na also. Das Gericht hat entschieden. Es war kein Anschlag.«

»Das bezweifeln die Versicherungsnehmer aber vehement.«

»Sollen sie doch. Es gibt ein eindeutiges Urteil.«

Schwarz lehnte sich zurück. Es kostete ihn einige Überwindung, jovial zu lächeln. Aber es gehörte zu seiner Rolle. »Ich freue mich über Ihre Reaktion, Herr Burger. Wir hatten schon befürchtet, Sie könnten Ihre Aussage widerrufen.«

»Ich? Wieso denn?« Er war jetzt sichtlich verwirrt.

»Es hätte ja sein können, dass Sie Ihre Tat inzwischen anders sehen und die Opfer in den Genuss der Versicherungssumme kommen lassen wollen.«

»Bin ich bescheuert?«

Nein, bescheuert ist er nicht, dachte Schwarz. Dieser Mann ist eiskalt. Danis Tod und Evas Schicksal sind ihm völlig egal. Er spürt keine Reue, keine Scham, kein Mitgefühl. Er ist von allen natürlichen, menschlichen Empfindungen abgekoppelt, als wäre er einer Gehirnwäsche unterzogen worden. Was ist das? Eine fanatische Ideologie oder die krankhafte Angst, die Kontrolle zu verlieren?

Sie saßen sich eine Weile schweigend gegenüber und belauerten sich.

»Was werden Sie tun, wenn Sie hier rauskommen?«, fragte Schwarz betont harmlos.

Tim Burger überlegte. »Ich werde Gutes tun. Für die Menschheit.« Ein Grinsen ließ sein Gesicht zur Fratze werden und verriet, wie es in seinem Inneren aussah.

Er ist zu allem fähig, dachte Schwarz und erhob sich. »Sie haben mir sehr geholfen, Herr Burger.«

Der Häftling sprang auf und starrte ihn an. »Sie glauben doch nicht, dass ich Ihnen Ihren Scheiß abnehme?«

Schwarz wendete sich unbeeindruckt zur Tür. »Ich habe keine Fragen mehr, danke.«

»Für wie blöd halten Sie mich eigentlich?« Burger wollte Schwarz hinterherstürzen, aber der Wärter trat dazwischen. »Ganz ruhig, Burger. Du hast doch gehört, dass dein Besuch gehen möchte.«

Schwarz drehte sich nicht mehr um, er wusste auch so, dass Burger ihm voller Hass nachblickte.