61.
»Was haben Sie denn vor?«, sagte die junge Ärztin amüsiert, als Schwarz mit seinem Ghetto-Blaster in das Krankenzimmer trat. »Ich glaube, für Breakdance ist es bei Ihrer Mutter noch zu früh.«
»Und sonst?«
»Geht es ihr motorisch eindeutig besser. Wir haben mit der Physiotherapie begonnen. Allerdings macht sie nach wie vor keine Anstalten zu sprechen.«
Schwarz trat ans Bett seiner Mutter. »Servus, Mama.«
Sie blickte ihn an. Oder schaute sie durch ihn hindurch?
»Merkst du, dass ich da bin? Anton, dein Sohn?«
Sie reagierte nicht.
»Wenn du nicht reden kannst, gib mir doch ein Zeichen. Heb einfach den linken Arm, wenn du mich verstehst. Also, verstehst du mich?«
Er wartete. Nichts geschah.
»Ich lasse Sie jetzt allein«, sagte die Ärztin, »aber überfordern Sie sie nicht.«
»Klar«, sagte Schwarz und streichelte seiner Mutter über die Wangen. Er war überrascht, wie weich ihre Haut war. Wieso wusste er das nicht? Hatte er sie in den letzten Jahren überhaupt nicht mehr berührt?
»Du hast aber auch nicht viel Wert auf Zärtlichkeiten gelegt, lieber ein unterhaltsames Gespräch bei drei bis sieben Glas Eierlikör, habe ich recht?«
Seine Mutter sah ihn unverwandt an.
»Ob ich recht habe?«, sagte Schwarz etwas lauter. Er winkte ab. »Du redest ja nicht mit mir. Und gibst mir nicht mal ein Zeichen, obwohl deine linke Seite einwandfrei funktioniert.«
Er legte die CD in den Ghetto-Blaster. Er hatte sich für ein poetisches, eher ruhiges Lied mit dem Titel Ergezwi schtil entschieden. Wenn an Heiners Theorie etwas dran war, benötigte er kein Blasorchester. Was könnte seine Mutter tiefer im Inneren erreichen als die jiddische Sprache, die sie seit ihrer Jugend nicht mehr gehört hatte?
Schwarz holte tief Luft und drückte auf Play.
Ergezwi schtil wejnt der wint, asoj kil, asoj lind.
Er beobachtete sie genau, um nicht die kleinste Regung zu übersehen.
Ch’ darf azind kejn schum zil; oj, ich wil sajn a kind.
»Hast du das verstanden, Mama? Ich will sajn a kind. So habt ihr damals in Karlsbad geredet. Weißt du das noch? Sajn a kind!«
Seine Mutter schloss die Augen. Ihr demonstratives Desinteresse ärgerte Schwarz. Er drehte die Musik lauter.
Emeznß bet, emeznß glet, wi mit sajd. Un majn blut flejzt baruikt wi di zajt.
Und mein Blut fließt so ruhig wie die Zeit. Von wegen, dachte Schwarz, wenn sie jetzt wirklich einschläft, dann kocht mein Blut.
Seine Mutter lag bewegungslos da.
»Blödsinn.« Er stoppte das Lied und versuchte, sich zu beruhigen. Es war lächerlich, gegen seine Mutter zu wüten. Sie hatte ja nicht aus böser Absicht einen Schlaganfall erlitten. Und es war nicht ihre Schuld, dass sein Versuch, sie zum Reden zu bringen, gescheitert war.
»Ich muss mehr Geduld mit dir haben, Mama«, sagte er, »entschuldige, bitte.«