51.

Mein lieber Anton, du wirst nicht verstehen, warum du diesen Brief erst jetzt zu lesen bekommst und ich es nie geschafft habe, mit dir zu reden. Du warst so oft bei mir, hier, in meinem Wohnzimmer.

Woher weiß sie, dass ich im Wohnzimmer und nicht im Schlafzimmer oder der Küche sitze? Sie muss in Gedanken alles genau durchgespielt haben.

Manchmal war ich kurz davor, dir endlich reinen Wein einzuschenken, aber ich habe es einfach nicht geschafft. Und je mehr Zeit vergangen ist, umso schwieriger wurde es und umso schwerer die Last.

Es hat was mit meinem Vater zu tun, dachte Schwarz. Er hatte es oft in Gedanken durchgespielt: War sein Vater ein Nazi gewesen oder seine Mutter Opfer einer Vergewaltigung geworden? Die Unsicherheit hatte ihn lange Zeit umgetrieben, aber er hatte nie direkt zu fragen gewagt. Dass es auch für seine Mutter schwer gewesen war, nicht darüber zu sprechen, war ihm nicht eingefallen.

Alles hat Anfang 1957 mit einer harmlosen Lüge begonnen. Von meiner Ankunft im Lager Föhrenwald im September 1945 bis dahin war ich eine anständige und vor allem ehrliche Frau gewesen. Und das bedeutete etwas in diesen schweren Jahren.

September 1945, da täuscht sie sich aber. Sie ist am 11. Oktober 1946 mit dem ersten Transport aus Karlsbad gekommen.

Ich hatte meinen Laden noch nicht lange eröffnet – du erinnerst dich an die gefärbten Kartoffeln, Anton –, da kam eine Frau zum Einkaufen, von der man erzählte, sie sei mit einem hohen Nazifunktionär verheiratet gewesen, der auf der Flucht vor den Russen unter einen Panzer geraten war. Sie trug einen nagelneuen Pelzmantel und kaufte zehn Kilo, ich schwöre es dir, zehn Kilo Kartoffeln und fünf Pfund Sauerkraut! Dabei fragte sie beiläufig, mit welchem Transport denn ich ins Lager gekommen sei. Nun wusste ich nicht nur, dass sie die Witwe einer Parteigröße war, sondern immer noch dem Führer, dem sie angeblich einmal die Hand geschüttelt hatte, nachtrauerte. Sie war damals, weiß Gott, nicht die Einzige. Sie fragte mich also nach dem Datum meiner Ankunft, und mir war bewusst, dass sie eine Stammkundin werden konnte, und zwar eine, die nicht ständig anschreiben ließ. Also sagte ich: am 11. Oktober 1946, gnädige Frau, mit hundert anderen Vertriebenen aus Karlsbad – wo es doch der September des Jahres zuvor gewesen war. Das war meine erste Lüge, mit ihr hat alles angefangen.

Schwarz spürte, dass seine Kopfhaut zu jucken begann. Er kratzte sich, stand auf, holte sich ein Glas Wasser und las weiter.

Anton, du ahnst nicht, was für eine Bedeutung dieses verschummelte Jahr hatte und noch bekommen sollte. Wie könntest du auch. Du weißt ja so wenig über mich.

War das etwa mein Fehler, Mama?

Und es ist allein meine Schuld. Ich hätte dir alles erzählen sollen. Aber dazu hätte ich so entsetzliche Geschichten ausgraben und mich an Bilder erinnern müssen, die mich beinahe für immer blind gemacht hätten.

Es war im Spätsommer 1942, als zwei freundliche Herren – das dachte ich zuerst wirklich, weil sie so korrekt auftraten – in unsere Wohnung in Karlsbad kamen. Also, eigentlich war es gar nicht unsere Wohnung, weil Mama und ich sie mit drei anderen Familien teilen mussten und nur ein Zimmer hatten. Mein Papa war damals schon zwei Jahre tot.

An diesem Nachmittag waren auch meine Tante Liesbeth und ihr Mann zu Besuch. Ich wurde in die Küche geschickt, aber ich schlich an die Tür, um zu lauschen. Ich hörte, wie die Stimmen der Männer laut und barsch wurden. Ich hörte meine Mutter verzweifelt schluchzen und Tante Liesbeth sie trösten. Ihr Mann sagte wie immer kein Wort.

Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen. Die Männer hatten meine weinende Mutter in die Mitte genommen und führten sie ab.

Bitte, sagte sie, lassen Sie mich wenigstens von meiner Tochter Abschied nehmen. Die Männer wollten es ihr verbieten, aber ich flog schon in Mamas Arme.

Du musst jetzt tapfer sein, flüsterte sie, weil ich auf eine Reise gehe. Ich komme mit, erklärte ich. Nein, sagte sie, du bleibst bei Tante Liesbeth, weil es eine sehr gefährliche Reise ist. Dann gehe ich erst recht mit, sagte ich, und passe auf dich auf.

Die Männer wurden ungeduldig.

Wohin geht die Reise denn?, fragte ich. Das weiß ich nicht, sagte meine Mutter, aber du wirst es hier gut haben. Ich bleibe nicht hier, schrie ich, und klammerte mich an ihr fest. Tante Liesbeth redete händeringend auf mich ein, der Onkel schwieg.

Jetzt aber los, Frau Schwarz!, befahl einer der Männer. Ich dachte nicht daran, meine Mutter allein gehen zu lassen, ich heulte und biss dem Onkel, der mich von ihr wegreißen wollte, sogar in die Hand. Dann kommst du halt auch mit, du Judenfratz, sagte einer der Männer.

Du Judenfratz? Schwarz las den letzten Satz noch einmal. Die Seiten begannen zu zittern, die Schrift verschwamm vor seinen Augen. So ein Unsinn, dachte er. Sie ist Egerländerin, eine von der Gmoi, eine Katholikin. Keine sehr eifrige, aber doch eine, die das Kreuzzeichen macht und das Vaterunser betet.

Du Judenfratz? Nein, das konnte nicht sein. Vermutlich war sie schon vor ihrem Schlaganfall nicht mehr ganz klar im Kopf gewesen. Er blickte wieder auf den Brief.

Das ist sicher ein Schock für dich, Anton. Oder du denkst, jetzt ist die Alte kurz vor ihrem Tod noch verrückt geworden.

Aber es ist die Wahrheit. Meine Mutter war Jüdin.

Sie war wie ich keine besonders religiöse Frau, und es war kein Problem für sie, ein Kind von einem Katholiken zu bekommen. Nur geheiratet hat sie ihn nie, denn den Namen ihrer jüdischen Familie wollte sie doch behalten.

Schwarz.

Sehr jüdisch, dachte Schwarz.

An jenem Nachmittag im Spätsommer 1942 stand ich nicht auf der Liste der beiden Männer, weil ich nur ein sogenannter Jüdischer Mischling war. Meine Tante und mein Onkel waren wie mein Vater Katholiken und sollten mich in Pflegschaft nehmen. Aber ich wollte meine Mama um keinen Preis hergeben, und so ist alles anders gekommen. Wir wurden zum Messepalast nach Prag gebracht und von dort einige Tage später im Viehwaggon nach Theresienstadt.

Aber darüber kann ich nicht schreiben, obwohl seither kein Tag vergangen ist, ohne dass ich daran gedachte hätte, an Theresienstadt, an Auschwitz, wo meine Mutter geblieben ist, und an Buchenwald, wo wir schließlich befreit wurden.

Aber du sollst wissen, wie es dazu gekommen ist, dass ich dir nicht nur das Schreckliche verheimlicht habe, sondern auch das Schöne und alles andere. Und wieso ich sogar in eine Egerländer Tracht geschlüpft bin und mit der Gmoi getanzt und gesungen habe. Ich hoffe so sehr, dass du mich wenigstens ein bisschen verstehst.

Ich hatte überlebt und war als DP, das bedeutet Displaced Person, ins Lager Föhrenwald gekommen. Aber dort wollte ich auf keinen Fall bleiben, inmitten eines Volkes, das so viele meiner Verwandten und Freunde ins Gas geschickt hatte.

Ich war siebzehn, grau im Gesicht wie eine alte Frau und wog keine vierzig Kilo. Trotzdem meldete ich mich begeistert für die militärische Ausbildung. Ich wollte für Israel kämpfen, für ein Land, in dem wir Juden für immer vor Demütigungen und Verfolgung sicher sein sollten. Du kennst das Hochland-Lager in Königsdorf, weißt aber wahrscheinlich nicht, dass es nicht für Ministranten und Pfadfinder, sondern für die HJ und den BDM errichtet wurde. Als der Nazispuk vorbei war, robbten dort wir mit unseren Gewehrattrappen durchs Unterholz. Ich war eine eifrige Kämpferin, denn ich hatte mich in Eli, meinen Ausbilder von der Hagana, verliebt. Er war der witzigste Kerl, der mir in meinem ganzen Leben begegnet ist. Und so zärtlich. Seit Mama und ich in Auschwitz getrennt worden waren, hatte mich kein Mensch mehr gestreichelt. Eli durfte mich sogar küssen und noch mehr. Ich war sicher, dass er mich in Israel heiraten würde. Er erzählte vom Leben im Kibbuz, und ich träumte von Orangenhainen, Ziegenherden und vor allem von unseren Kindern, vielen Kindern.

Die Abreise unserer Gruppe aus Föhrenwald stand unmittelbar bevor, wir wurden von den anderen DPs sehr beneidet, weil wir so früh wegkamen. Im Lager gab es einen kleinen Schwarzmarkt, und ich brauchte noch feste Schuhe. Da sehe ich Eli bei einem Mann stehen, der immer die Challe verkauft hat. Er ist vielleicht zehn Meter entfernt, und ich will zu ihm laufen.

Aber Eli hält Esthers Hand. Sie ist fünf Jahre älter als ich und wunderschön.

Ich habe mich drei Tage lang in einem Heuschober versteckt, bis Eli und Esther endlich weg waren. Danach konnte ich nicht mehr essen. Eine ältere Polin hat sich um mich gekümmert und mir erklärt, dass alle Frauen in Eli verliebt waren und er sicher nicht ahnte, dass ich mich mit ihm verlobt fühlte.

Ich bin trotzdem krank geworden und habe ein Fieber bekommen, das nicht mehr weggehen wollte. Immer dachte ich, jetzt ist es vorbei, dann ist es von neuem aufgeflammt. Es war, als würden all die schrecklichen Bilder aus Theresienstadt, Auschwitz und Buchenwald in mir brennen.

Aber das Leben musste weitergehen, und nachdem ich einen jungen Bauern aus der Umgebung kennen gelernt hatte, verkaufte ich seine Waren auf dem Lagermarkt. Wir haben gut zusammengearbeitet, nach meiner Geschichte gefragt hat er mich kein einziges Mal.

Ich wollte immer noch nach Israel, aber erst, wenn ich wieder ganz gesund war. Ich muss stark für Israel sein, dachte ich. Doch ich wurde nicht gesund und irgendwann war es zu spät. Alle Freunde, die mit mir die Ausbildung im Hochlandlager gemacht hatten, waren weg.

Da habe auch ich Föhrenwald verlassen, bin eine Zeit lang bei Flüchtlingen untergeschlüpft und dann bei einer alten Dame in Wolfratshausen. Ich habe mich um ihren Haushalt gekümmert, aber obwohl es mir bei ihr nicht schlecht ging, hat es mich vor allem an jüdischen Festtagen immer nach Föhrenwald gezogen.

Dann wurden die letzten Juden nach München umgesiedelt und in Sozialbauten eingewiesen. Ich habe gesehen, wie sie abgeholt wurden und ein paar von ihnen um keinen Preis gehen wollten. Ich weiß nicht, warum ich nicht weinen konnte, und ich hatte immer noch Fieber.

Das war 1956. Inzwischen hatte die Kirche das Lagergelände erworben und verkaufte die Häuschen, eins für 3000 Mark an katholische Heimatvertriebene. Ich habe eine Familie aus Tachau gefunden und ihr einen kleinen Aufpreis bezahlt. Das war natürlich verboten, aber nun hatte ich ein eigenes Haus und konnte meinen Laden eröffnen – als Jüdin unter lauter Vertriebenen. Obwohl, ich war mir nie ganz sicher, ob ich wirklich die einzige Jüdin war. Manchmal meinte ich einen Blick aufzufangen, der bedeutete: Ich weiß, was du gesehen hast, und ich habe es auch gesehen.

Dann also tauchte die Naziwitwe in ihrem Pelzmantel auf. Und jetzt verstehst du auch, was ihre Frage für mich bedeutete. Wann sind Sie denn angekommen, Frau Schwarz? Hätte ich wahrheitsgemäß den September 1945 genannt, hätte sie womöglich begriffen, dass ich eine jüdische Überlebende war und keine Vertriebene aus dem Sudetengau, wie sie es immer noch nannte.

Das war meine erste Lüge, und wenn ich ehrlich zu mir bin, war es keine harmlose Lüge. Ich hatte mein Jüdischsein verleugnet. Und ich sollte es noch oft verleugnen.

Am nächsten Tag war mein Fieber weg. Für immer. Ich merkte es natürlich nicht gleich, es war schon öfter gesunken und wieder gestiegen. Aber einige Wochen später wurde mir klar, dass ich gesund geworden war, weil ich zu lügen begonnen hatte. Das war eine schreckliche Einsicht. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich dafür hasste, ja, bis heute hasse.

Schwarz war während des Lesens ganz heiß geworden, fast so, als wäre das rätselhafte Fieber seiner Mutter auf ihn übergesprungen. Er trat ans Fenster und ließ sich den Wind ins Gesicht wehen.

Hätte ich ihr aus ihrer Lebenslüge heraushelfen können, dachte er, wenn ich früher davon erfahren hätte? Hätte sie es überhaupt gewollt? Wie hätte unser Leben sich verändert?

Er kehrte noch einmal zum Sofa zurück, um die letzten Seiten zu lesen. Auf ihnen war eher anekdotenhaft beschrieben, wie aus der Jüdin Hildegard Schwarz nach und nach eine waschechte Egerländerin geworden war.

Wie ist es möglich, fragte Schwarz sich, dass kein Mensch an ihrer Legende gezweifelt hat? Die Antwort fand er auf der vorletzten Seite.

Wir Karlsbader Juden hatten ab 1938 kaum noch Kontakt zur übrigen Bevölkerung. Es war also ziemlich unwahrscheinlich, dass mich in Föhrenwald einer der Vertriebenen erkennen würde. Außerdem hatte ich bei meiner Deportation, obwohl ich schon vierzehn war, wie ein kleines Mädchen ausgesehen und bei der Ankunft der Vertriebenen in Föhrenwald wie eine kranke, nicht mehr ganz junge Frau. Trotzdem gab es Schwachpunkte in meiner Geschichte, wie zum Beispiel die Oblaten.

Nein! Die sind auch erfunden? Das kannst du mir nicht antun, Mama!

Meine Eltern hatten fünfzehn Jahre lang ein vom internationalen Kurpublikum sehr geschätztes Restaurant mit österreichischer Küche betrieben. Da mein Vater persönlich am Herd gestanden hatte, sah meine Mutter sich nach seinem Tod zur Schließung des Lokals gezwungen. Sie eröffnete in einer engen Seitengasse einen Imbiss, der anfangs recht gut lief. Doch nachdem die Nazis sich das Sudentenland einverleibt hatten, durfte sie nur noch für Juden kochen. Die allerdings waren zum größten Teil vor den Deutschen nach Böhmen und Mähren geflohen. Ende 1939 wurde meine Mutter enteignet und musste sogar ihr Geschirr und Besteck abliefern. Von da an lebten wir von ihren kümmerlichen Ersparnissen und den milden Gaben unserer christlichen Verwandtschaft.

Das war die traurige Wirklichkeit, Anton. Kann man es mir verübeln, dass ich mir mit meinen Lügen einen bescheidenen Traum erschaffen habe? Ich habe ja selbst irgendwann an die kleine, aber feine Oblatenbäckerei Schwarz, die Liebhaber in ganz Europa beliefert hat, geglaubt. Ich habe den Geschmack unserer Oblaten auf der Zunge gespürt. Nur deshalb konnte ich ihn dir so genau beschreiben.

Aber sie hat sich doch am Oblaten-Ofen ihres Vaters den linken Unterarm verbrannt. Die Narbe hat sie doch heute noch! Schwarz hatte plötzlich einen furchtbare Ahnung. Die Nummer, dachte er.

Und ist es wirklich so schlimm, dass ich ein paar Egerländer Dialektwörter in meinen Wortschatz aufgenommen habe? Ja, ich habe als eine vom Unterland mit denen vom Oberland geflirtet, und ich habe mich sogar noch einmal verliebt. In einen Rudolf aus Elbogen. Er war ein großzügiger Mann, aber er hatte auch seine Prinzipien und wollte heiraten. Spätestens auf dem Standesamt wäre der ganze Schwindel aufgeflogen und eine Jüdin hätte der Rudolf, der in der Notkirche die Lesung vortrug, dann doch nicht genommen. Da hieß Föhrenwald übrigens schon Waldram, nach einem katholischen Heiligen, damit bloß keiner auf die Idee kam, die neuen Bewohner mit ihren jüdischen Vorgängern in Verbindung zu bringen.

Ach ja, und dann waren da noch die Briefe von der Jüdischen Gemeinde in München in den sechziger und siebziger Jahren, Einladungen anlässlich der hohen Feiertage, zu Rosch Haschana, Jom Kippur und Pessach. Es gab wohl jemanden, der meine Geschichte kannte. Ich habe nie erfahren, wer es war, und als mich schließlich eine Gemeindesekretärin persönlich anrief, habe ich sehr unfreundlich reagiert. Da muss eine Verwechslung vorliegen, habe ich gesagt, ich kenne überhaupt keine Juden. Heute denke ich, dass ich verrückt gewesen sein muss. Denn manchmal liege ich in meinem Bett und habe eine schreckliche Sehnsucht nach unserem jüdischen Leben in Karlsbad.

Warum bloß habe ich alle von mir weggestoßen und am Ende auch dich verloren, Anton? Ich hätte dir doch nur die Wahrheit sagen müssen. Du hättest mich bestimmt verstanden.

»Du hast mich nicht verloren«, sagte Schwarz mit erstickter Stimme.