60.
»Sie finden mich bei meiner Nichte«, hatte Loewi geantwortet, als Schwarz ihn um ein Gespräch gebeten hatte.
Vor dem Haus der Hahns in der August-Exter-Straße stand ein Streifenwagen. Schwarz parkte seinen roten Alfa dahinter, stieg aus und bedeutete dem Uniformierten am Steuer, die Scheibe herunterzufahren.
»Was macht ihr hier?«
»Wie, was machen wir hier?«, sagte der Polizist verwirrt.
»Na, seid ihr zur Bewachung des Hauses abgestellt oder zum Schutz von Herrn Loewi?«
»Was geht denn Sie das an?«
»Lass dir mal seinen Ausweis zeigen«, sagte der Polizist auf dem Beifahrersitz.
Schwarz überhörte es, bedankte sich freundlich für die Auskunft und klingelte an der Haustür der Hahns.
Eva öffnete. Als sie ihn sah, strahlte sie.
Schwarz folgte ihr ins Haus und hörte Stimmengewirr. »Störe ich?«
»Im Gegenteil.« Sie fuhr voraus und öffnete die Tür zum Wohnzimmer, in dem sich gut zwanzig Leute aufhielten. »Das ist Herr Schwarz, ich habe euch von ihm erzählt.«
»Grüß Gott.«
Die meisten waren so beschäftigt, dass sie auf den Gruß des Ermittlers kaum oder nur mit einem freundlichen Nicken reagierten. Rebecca Loewi und ein paar andere Frauen saßen mit dem Handy am Ohr um den Tisch herum und sprachen wild durcheinander. »Du musst auf jeden Fall kommen und bring deinen Kurs mit.« – »Nein, wir sind streng überparteilich. Wir freuen uns, wenn Sie dabei sind, aber bitte ohne Hinweis auf Ihre Partei.« – »Wir brauchen unbedingt mehr Ordner, sonst bläst uns das KVR das Ganze in letzter Minute ab.« – »Aber sicher, Frau Berben, wenn Sie mit Ihrem guten Namen die Münchner zur Teilnahme aufrufen, hilft uns das sehr.«
Mirjam und Ilana knieten am Boden über einem Stoß Plakate.
München sagt Nein, las Schwarz. Die beiden Mädchen klebten auf jedes Plakat einen weißen Zettel mit der Aufschrift Samstag, 31. Mai 2008, 11 Uhr.
»Jetzt wissen wir wenigstens, in was für Kreisen unsere Tochter sich herumtreibt«, sagte Loewi und kam grinsend auf ihn zu.
Schwarz erfuhr, dass die Idee, auf die neue rechte Partei mit einer spontanen Kundgebung zu reagieren, von den Kusinen Mirjam Loewi und Eva Hahn stammte. Sie und ein paar enge Freunde wollten vor allem Leute, die sonst nie demonstrierten, gegen das menschenverachtende Programm der Rechten auf die Straße holen.
»Der Zuspruch ist unglaublich«, sagte Eva. »Alle sind so wütend auf diese Rassisten. Hier melden sich ganze Schulklassen und katholische und evangelische Gemeinden, die uns unterstützen wollen.«
»Wo soll die Demonstration denn stattfinden?«, fragte Schwarz.
»Vor dem Parteibüro der Rechten«, sagte Eva und entschuldigte sich: Sie müsse gleich einem Radiosender ein Telefoninterview geben.
Schwarz bat Loewi um ein Gespräch unter vier Augen. Sie gingen in den Flur.
»Sie sind nicht so leicht zu begeistern, was?«, sagte der Anwalt.
»Herr Loewi, ich mache mir große Sorgen. Seit heute Morgen befindet Tim Burger sich auf freiem Fuß! Er ist sofort untergetaucht.«
Loewi starrte ihn erschrocken an.
»Mit meinen Mitteln habe ich kaum eine Chance, ihn zu finden und im Auge zu behalten. Aber dafür hat selbst jemand wie Hauptkommissar Kolbinger nicht genügend Leute.«
»Was bedeutet das?«
»Sie müssen extrem vorsichtig sein. Sie dürfen auf gar keinen Fall zu dieser Demonstration gehen.«
»Ich? Wieso nicht?«
»Weil Burger damit rechnen kann, dass Leute wie Sie dabei sind.«
Loewi presste die Lippen zusammen und fuhr sich mit der Hand durch das dichte Haar. Dann schüttelte er den Kopf. »Meine Familie würde mir die Hölle heiß machen, wenn ich jetzt kneife.«
»Rebecca, Ilana und Mirjam müssen auch zu Hause bleiben. Alles andere wäre Wahnsinn. Diese Demonstration ist genau die Provokation, die jemanden wie Burger auf den Plan ruft.«
»Damals bei der Lichterkette gegen Ausländerfeindlichkeit hat es auch Drohungen aus der rechtsradikalen Szene gegeben, und am Ende ist nichts passiert, weil die Nazis Feiglinge sind.«
»Herr Loewi, Sie wissen, dass die Gruppe möglicherweise eine Handgranate besitzt. Burger wird nicht zögern, sie einzusetzen.«
Loewi schluckte. »Wir haben Polizeischutz.«
»Polizeischutz, toll. Meinen Sie, zwei schlecht bezahlte Polizisten stellen sich im Ernstfall einem Irren in den Weg, der ein Blutbad anrichten will? Eigentlich müssten Sie dafür sorgen, dass die ganze Demo abgesagt wird.«
»Ausgeschlossen.«
Sie schwiegen einen Weile.
»Ich verstehe Sie«, sagte Loewi schließlich.
Schwarz atmete auf.
»Sie nehmen Ihren Auftrag sehr ernst. – Wenn ich fair sein will, muss ich unsere Zusammenarbeit von mir aus beenden.«
Schwarz war wie vom Donner gerührt. »Sie kündigen mir?«
Loewi machte ein unglückliches Gesicht. »Nein, so dürfen Sie das nicht verstehen. Ich will Sie nur aus Ihrer Verantwortung entlassen.«
Dafür ist es zu spät, dachte Schwarz. Für mich gibt es kein Zurück mehr.
Da Loewi keinen Zweifel daran ließ, dass er es ernst meinte, musste Schwarz andere Mittel und Wege finden, das Schlimmste zu verhindern. Er nickte. »Es war schön, Sie und Ihre Familie kennen gelernt zu haben.«
»Aber Herr Schwarz, wir verlieren uns ja nicht aus den Augen. Und vielleicht sind Sie ja morgen auch dabei.«
Schwarz schüttelte den Kopf. »Ich kümmere mich lieber um meine Mutter. Sie liegt im Krankenhaus.« Er hätte Loewi gern mehr erzählt, aber dafür war jetzt nicht der richtige Moment.
Schwarz war schon im Begriff zu gehen, da fiel ihm noch etwas ein. Er kehrte in das Wohnzimmer zurück, das zum Organisationsbüro umfunktioniert worden war, und bat Eva, ihm für einige Stunden die CD mit der Klesmer-Musik zu leihen.