50.

In ihrer Wohnung in Waldram waren nur das Gemeindeblatt und der Werbebrief eines Versicherers angekommen. Schwarz legte beides auf den Küchentisch. Er lüftete, stellte fest, dass die Pflanzen kürzlich gegossen worden waren, und entdeckte ein Stück Leberkäse im Kühlschrank. Er brachte es der Nachbarin und bedankte sich herzlich für ihre Hilfe.

Frau Klein, wie seine Mutter eine Vertriebene aus dem Egerland, wollte einen detaillierten Krankenbericht hören.

»Ein Schlaganfall«, sagte sie. »Das wäre für mich der Alptraum. Da ist man ja wie lebendig begraben.«

»Moment, meine Mutter liegt nicht im Wachkoma, Frau Klein.«

»Entschuldigung«, sagte sie und versprach, sich um alles zu kümmern, solange Hildegard in der Klinik lag.

Schwarz kehrte in die Wohnung zurück und setzte sich aufs Sofa. So eine Ungerechtigkeit, dachte er, ausgerechnet meine Mutter, die nie um eine freche Bemerkung verlegen war und immer spannende Geschichten erzählt hat, kann nicht mehr reden. Und die ganzen Langweiler, die nichts zu sagen haben, plappern munter weiter.

»Scheiße!«, schrie Schwarz und schleuderte den Schlüsselbund in die Ecke. Er betrachtete ihn eine Weile, dann stand er auf, um ihn aufzuheben.

Erst da fiel ihm ein kleiner Schlüssel auf.

Schwarz drehte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Er war kleiner als der Briefkastenschlüssel und nicht so flach wie der Schlüssel zum Fahrradschloss. Wahrscheinlich gehörte er zu irgendeinem Kästchen.

Schwarz sah sich um. Im alten Verkaufsregal mit den nur teilweise entfernten Preisschildern fand er ein Kästchen, in dem seine Mutter Briefmarken aufbewahrte, ein weiteres für Weckgummis, eines für Bonbons, eines mit Schmuck, den sie seines Wissens nie getragen hatte, und eines mit Kleingeld. Doch sie alle hatten keine Schlösser.

Mit dem Schlüssel in der Hand trat Schwarz ins Schlafzimmer seiner Mutter, das er seit Jahrzehnten nicht mehr betreten hatte. Es rührte ihn, dass auf ihrem Bett eine Puppe und ein Bär saßen.

Ich hätte sie öfter besuchen müssen, dachte er.

An der Wand gegenüber dem Bett hing ein angelaufener Spiegel, darunter stand ein schlichter Sekretär. In der obersten Schublade entdeckte Schwarz ein intarsienverziertes Kästchen. Der Schlüssel passte. Schwarz drehte ihn herum und schlug den Deckel zurück.

Er zog einen dicken Umschlag hervor. Nach meinem Tod zu öffnen stand darauf in der krakeligen Schrift seiner Mutter.

Er legte den Umschlag zurück, sie war ja nicht tot.

Nachdem er das Kästchen wieder verschlossen und zurückgestellt hatte, fragte er sich, wozu seine Mutter ihn sonst in ihr Haus geschickt haben mochte. Ihm fiel kein anderer vernünftiger Grund ein. Er lehnte an der Wand und schaute unschlüssig zu der Schublade mit dem Kästchen. Je länger er so dastand, umso überzeugter war er, dass er nur deswegen hier war.

Ja, es war ganz sicher der Wille seine Mutter gewesen, dass er den Umschlag öffnete. Wahrscheinlich hatte sie nach ihrem Schlaganfall den Wunsch, ihm schon jetzt etwas mitzuteilen.

Er holte das Kästchen aus seinem Versteck und zögerte erneut. Machte er sich etwas vor?

Schließlich ging er mit dem Umschlag ins Wohnzimmer, öffnete ihn vorsichtig und setzte sich mit einem Packen dicht beschriebener Seiten aufs Sofa.