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Zu früh zurück

1.05: Schon mal darüber nachgedacht, wie viel Zeit man aufs Einschlafen verschwendet? Man muss sich an den Schlaf ranpirschen und fragen, ob er einen, bitte, bitte, einlässt. Es ist wie Schlangestehen vor einem Nachtclub, wo man versucht, den Blick des Türstehers zu erwischen, der immer in die andere Richtung guckt. Sieben Minuten Kissen aufschütteln und Mulden machen, der obligatorische Kampf um die Bettdecke. Ich nehme eine Kräuterschlaftablette, damit mir umgehend die Augen zufallen.

 

3.01: Kann nicht schlafen vor Sorge, dass die Tablette zu stark ist und ich den Wecker nicht höre und das Flugzeug verpasse. Ich schalte die Nachttischlampe an und lese die Zeitung. Neben mir grunzt Richard und dreht sich auf die andere Seite. Im Auslandsteil steht mehr über die amerikanische Top-Managerin, die schon vier Tage nach der Geburt ihrer Zwillinge wieder im Job war. Über eine Freisprechanlage hat sie eine Konferenz von ihrem Krankenhausbett aus geleitet. Sie heißt Elizabeth Quick. Nein, im Ernst. Wahrscheinlich eine Schwester von Hannah Hastig und Isabel Imperativ. «Liz Quick hat unter berufstätigen Müttern Starruhm erlangt», steht in dem Artikel, «Kritiker behaupten allerdings, die Mutterschaft werde sie von ihrem Job ablenken.»

Ich merke, wie mein ganzer Körper zusammenschrumpelt. Machen sich Leute wie Ms Quick überhaupt eine Vorstellung davon, dass ihre Heldentat, so zu tun, als habe sich nichts geändert, zu dem Knüppel wird, mit dem andere Frauen geprügelt werden?

Gott weiß, dass ich lieber den Mund halten sollte. Ich bin nach Emilys Geburt zu früh wieder zur Arbeit gegangen. Ich wusste es nicht besser. Woher auch? Dieses neue Leben ist beiden fremd. Mutter und Baby, beide sind Neugeborene. Vor den Kindern – mein Leben ist geteilt in Vorher und Nachher –, als ich noch Zeit hatte, sonntagnachmittags in die National Gallery zu gehen, habe ich immer gern vor dieser Madonna von Bellini gesessen, die vor irgendeinem Bauernhof in der Sonne sitzt und auf das herrliche Kind in ihrem Schoß hinabschaut. Ich habe immer gedacht, das sei heitere Gelassenheit in ihrem Blick. Jetzt sehe ich nur noch Erschöpfung und ein mildes Erstaunen. «Jesus, was hab ich nur gemacht?», fragt Maria Gottes Sohn. Aber er schläft, voll mit Milch, ein dickes Ärmchen selbstvergessen über das blaue Kleid seiner Mutter gestreckt.

Ich war die erste Frau auf der Investmentetage von Edwin Morgan Forster, die schwanger geworden ist. Im sechsten Monat rief James Entwhistle, Rod Tasks Vorgänger, mich in sein Büro und sagte, er könne mir nicht garantieren, dass er noch einen Job für mich habe, wenn ich aus dem Mutterschaftsurlaub käme. «Sie wissen ja, wie schnell sich die Dinge mit den Kunden entwickeln, Kate. Es ist nichts Persönliches.»

Der höfliche, belesene James. Ich nehme an, ich hätte aus dem Gesetzbuch zitieren können, aber nichts hassen sie mehr, als an ihre familienfreundliche Firmenkultur erinnert zu werden. (EMFs familienfreundliche Firmenkultur existiert, damit sie sagen können, dass sie eine haben, nicht damit Angestellte mit Familie sich darauf berufen. Männer würden das ohnehin niemals tun, und deshalb können Frauen, die ernst genommen werden wollen, das auch nicht.) «Selbstverständlich wird sich durch das Baby nichts ändern, James», hörte ich mich selbst sagen, und er notierte sich mit seinem goldenen Cartier-Füller etwas auf einem Block. «Engagement?», schrieb er und unterstrich es zweimal.

Ob ich die Anzahl meiner ausländischen Klienten reduzieren wolle? Natürlich nicht.

Ich hab nichts gewusst.

In der zweiunddreißigsten Woche ging ich zur Beratung ins Universitätskrankenhaus. Eine Routineuntersuchung. Die letzte hatte ich verpasst. (Genf, Konferenz, Nebel.) Der Arzt faltete seine Hände wie ein Kardinal und sagte mir, er werde mich krankschreiben, denn während der für die Hirnentwicklung des Fötus entscheidenden Wochen stünde ich zu sehr unter Druck. Ich sagte, das komme gar nicht infrage, ich hätte vor, bis zum Termin zu arbeiten, damit ich danach eine Weile mit dem Baby zu Hause bleiben könne.

«Um Sie mache ich mir eigentlich keine Sorgen, Mrs. Shattock», sagte er kühl, «ich denke an das Kind, mit dem Sie schwanger sind, und an den Schaden, den Sie ihm zufügen.» Ich habe so geweint, als ich auf die Gower Street hinausging, dass ich fast von einem Milchwagen überfahren worden wäre.

Also habe ich es ruhig angehen lassen. Ich habe es ruhiger angehen lassen. Technisch gesehen, hätte ich im siebenten Monat aufhören müssen zu fliegen, aber mit einem beigen Kleid mit Bindegürtel kam ich bis zum achten Monat über die Runden. Die Kugel wurde schließlich so groß, dass ich eine Dreivierteldrehung machen musste, um aus dem Fahrstuhl zu kommen. Bei Sitzungen wurden Witze darüber gerissen, dass der Boden auf der Etage wegen meines Gewichts verstärkt werden müsse, und ich hab am lautesten gelacht. Jedes Mal, wenn ich an ihm vorbeiging, pfiff Chris Bunce den Elefantenmarsch aus dem Dschungelbuch: «Hup two three, four, Keep it up two three, four!» Scheißkerl.

Ich hatte mich zu einem Geburtsvorbereitungskurs angemeldet, hab es aber nie geschafft, rechtzeitig um 19.30 da zu sein. Schließlich ging ich zu einem Geburtswochenende in Stoke-Newington, das von Beth geleitet wurde: Haferkekse, Walmusik, ein Bauch aus Kleiderbügeln und ein Baby aus einem Strumpf über einem Tennisball. Beth forderte uns dazu auf, Gespräche mit unserer Vagina zu führen. Ich sagte ihr, dass wir nicht miteinander sprechen – und sie dachte, das sei ein Witz. Sie hatte ein Lachen wie ein Elch.

Richard hasste den Kurs aus tiefstem Herzen. Er konnte es nicht fassen, dass er seine Schuhe ausziehen musste, aber das mit der Stoppuhr gefiel ihm. Man hätte schwören können, er sei beim Grand Prix von Monaco.

«Wie ich dich kenne, Kate», sagte er, «wirst du die schnellsten Wehen in der Geschichte der Menschheit haben.»

Beth sagte, wenn wir nur regelmäßig die hechelnden Atemzüge übten, die sie uns beigebracht hatte, dann hätten wir die Möglichkeit, damit den Schmerz zu beherrschen. Und ich übte sie hingebungsvoll, an der Kasse, im Bad, vor dem Schlafengehen. Ich hab nichts gewusst.

Auf der Rolltreppe der U-Bahn-Station hatte ich einen Fruchtblasensprung, ich bespritzte den Burberry eines japanischen Analysten, der sich überschwänglich entschuldigte. Per Handy sagte ich meinen Lunchtermin mit einem Kunden ab und nahm mir ein Taxi ins Krankenhaus. Dort boten sie mir eine Epiduralanästhesie an, aber ich habe sie nicht genommen. Ich war das Miststück, das die Gehirnentwicklung ihres Kindes gefährdet hatte – schmerzstillende Mittel abzulehnen war meine Art zu zeigen, wie Leid es mir tat. Ich wollte dem Baby beweisen, dass seine Mutter bereit wäre, um seinetwillen etwas durchzustehen. Es war ein Meer von Schmerzen, und ich bin wieder und wieder hineingetaucht. Das Wasser war hart, es schlug einen nieder wie eine Welle auf einem Bootsdeck, und wenn man gerade wieder auf die Beine gekommen war, schlug sie nur nochmal zu.

Nach fünfundzwanzig Stunden Wehen legte Rich die Stoppuhr hin und sagte der Hebamme, dass wir einen Arzt sehen wollten. Sofort. Im Operationssaal hörte ich den Chirurgen während meines Not-Kaiserschnitts sagen: «Nur keine Sorge, das fühlt sich so an, als ob ich in ihrem Bauch ein wenig aufräume.» Tat es nicht. Es fühlte sich an, als sei das Baby eine Eiche, die mit den Wurzeln aus lehmigem Boden gezogen werden sollte. Ziehen und drehen und nochmal ziehen. Schließlich kletterte einer der jungen Ärzte auf den Operationstisch, setzte sich rittlings auf mich und zog sie an den Füßen heraus. Er hielt sie hoch wie einen aus dem Meer gezogenen Fisch, eine blutgesprenkelte Meerjungfrau. Ein Mädchen.

Während der nächsten Tage trafen viele Blumensträuße ein, aber der größte stammte von Edwin Morgan Forster. Es war so ein üppiges Arrangement, wie man es vor Heldengedenksteinen ablegt, mannshohe Disteln und Riesenlilien, die die Luft mit ihrem Pfeffer schwängerten und das Baby zum Niesen brachten. Gott, wie ich diese Blumen hasste, wie sie uns die Luft wegnahmen, ihr und mir. Ich gab sie der Hebamme, die sie schulterte und auf dem Motorroller mit nach Hause nahm.

Nach sechsunddreißig Stunden fragte die Nachthebamme, eine Irin, weichere und musikalischere Stimme als die von der Tagesschicht, ob sie jetzt das Baby nehmen solle, damit ich mich ausruhen könne. Als ich das ablehnte, sagte sie: «Wenn man eine gute Mutter sein will, Katharine, dann braucht man dazu vor allen Dingen genug Kraft.» Und sie schob meine Tochter in ihrem kleinen Plexiglas-Aquarium davon.

Kopfüber stürzte ich in einen Minenschacht der Erschöpfung. Stunden später – es fühlte sich an wie Minuten – hörte ich sie weinen. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht gewusst, dass ich das Weinen meines Kindes kannte, aber als ich es hörte, wusste ich, dass ich es immer erkennen würde, ich würde es von jedem anderen Weinen auf der Welt unterscheiden können. Von irgendwoher, einen braunen Korridor entlang, rief sie mich zu sich. Ich hängte mir den Katheter über den einen Arm, legte die andere Hand schützend über die Naht und humpelte in ihre Richtung, geleitet von dem Sonar, das ich als kostenlose Zugabe zur Mutterschaft bekommen hatte. Als ich im Babyzimmer ankam, hatte sie aufgehört zu brüllen und starrte verzückt auf eine Papierlaterne an der Decke. Noch nie zuvor hatte ich Freude und Furcht in dieser Kombination erfahren: Es war unmöglich zu sagen, wo der Schmerz aufhörte und die Liebe begann.

«Sie müssen ihr einen Namen geben», schalt die lächelnde Hebamme. «Wir können sie doch nicht Baby nennen, das ist nicht richtig.»

Ich hatte an Genevieve gedacht, aber das erschien mir zu groß für die Trägerin des Namens. «Meine Großmutter hieß Emily, bei ihr hab ich mich immer geborgen gefühlt.»

«Oh, Emily ist schön, lassen Sie es uns damit mal versuchen.»

Wir versuchten es damit, und sie drehte ihren Kopf, hin zu ihrem Namen – und damit war die Sache beschlossen.

Drei Wochen später rief James Entwhistle an und bot mir einen Job in der Strategie-Abteilung an. Ein unbedeutender Job, der nirgendwo hinführen würde. Ich nahm dankbar an und legte auf. Ich würde ihn später umbringen. Später, da würde ich sie alle miteinander umbringen. Aber erst musste ich meine Tochter baden.

Auf den Tag genau neun Wochen nach meinem Kaiserschnitt war ich wieder im Büro. Am ersten Morgen stand ich so neben mir, dass ich tatsächlich eine Nummer wählte und fragte, ob ich mit Kate Reddy sprechen könne. Und ein Mann sagte, er glaube, Kate sei noch nicht wieder da. Und er hatte Recht. Ich glaube, sie war ein ganzes Jahr lang nicht so richtig da, und die alte Kate, die von vor den Kindern, ist nie zurückgekommen. Aber sie hat ihre Rolle, da zu sein, so überzeugend gespielt, dass vielleicht nur eine Mutter sie durchschaut hätte.

Ich habe trotzdem gestillt und in der Mittagspause ein Taxi nach Hause genommen, um sie zu füttern. Aber fünf Tage später sagten sie mir, dass ich nach Mailand fliegen müsse – und ich habe doch noch gestillt. Das ganze Wochenende versuchte ich Emily an die Flasche zu gewöhnen. Ich habe gedrängelt und gebettelt und schließlich einer Frau aus Fulham hundert Pfund gezahlt, um meine Tochter zu entwöhnen. Ich kann mich noch an das Geschrei erinnern, ihre Lungen waren wund vor Wut, und Richard stand im Garten und rauchte.

«Sie nimmt die Flasche, wenn sie wirklich am Verhungern ist», erklärte die Frau und ja, ihr persönlich wäre es am liebsten in bar. Manchmal glaube ich, dass Emily mir das nie richtig vergeben hat.

Auf der Fahrt zum Flughafen lief im Radio dieser Stevie-Wonder-Song «Isn’t she lovely …». Der, bei dem man am Anfang das Baby weinen hört. Und plötzlich war meine Bluse von Milch durchweicht.

Ich hab nichts gewusst. 
Working Mum
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