3

Frohe Feiertage

Ich kann morgens mit zwei Kindern innerhalb von einer halben Stunde gewaschen und angezogen das Haus verlassen, ich kann mit neun verschiedenen Währungen in fünf verschiedenen Zeitzonen jonglieren, ich kann mich still und zielstrebig zum Orgasmus bringen, ich kann eine Mahlzeit im Stehen zubereiten und essen, während ich mit jemandem an der Westküste telefoniere, ich kann Ben «Weißt du, wie lieb ich dich hab?» vorlesen, während ich die Börsendaten auf dem Teletext überfliege, aber kann ich ein Taxi bekommen, das mich zum Flughafen fährt?

Aufgrund eines fortlaufenden Sparprogramms schickt mir Edwin Morgan Forster keinen Wagen mehr, der mich in Heathrow abliefert. Ich muss mir selbst einen bestellen. Gestern Abend habe ich bei einer Firma in unserem Stadtteil ein Taxi reserviert, das heute Morgen nicht aufgetaucht ist. Als ich angerufen habe, um mich zu beschweren, sagte der Typ am anderen Ende, er bedaure es sehr, aber sie könnten mir frühestens in einer halben Stunde einen Wagen vorbeischicken.

«Es ist viel los um diese Zeit, meine Liebe.»

Ich weiß, dass um diese Zeit viel los ist. Deshalb habe ich das Taxi gestern Abend vorbestellt.

Er sagt, er glaube, dass er mir vielleicht in zwanzig Minuten eines vorbeischicken kann. Lehne dieses unverschämte Angebot wutentbrannt ab und knalle den Hörer auf die Gabel. Bereue dies umgehend, denn die anderen Firmen, die ich anrufe, haben auch keinen Wagen zur Verfügung oder schlagen eine noch katastrophalere Wartezeit vor.

Bin völlig verzweifelt, als ich eine verdreckte bronzefarbene Karte unter der Fußmatte erspähe. Sie ist von einem Fuhrunternehmen, von dem ich noch nie gehört habe: «Pegasus, Ihr geflügelter Fahrer». Als ich die Nummer wähle, sagt mir der Kerl am anderen Ende, dass er sofort rüberkommt. Die Erleichterung ist von kurzer Dauer. Da wir uns hier in Hackney befinden, ist das, was an der Tür erscheint, Pegasus, Ihr bekiffter Fahrer. Im Winkel von etwa 45 Grad zum Bordstein steht Pegasus’ Streitwagen, ein Nissan Sunny, dessen Inneres durch undurchdringliche Schleier von Hasch und Nikotin verhangen ist. Steige ein, aber es ist technisch unmöglich, in diesem Taxi zu atmen, deshalb versuche ich, das Fenster runterzukurbeln und den Kopf rauszuhalten wie ein Hund.

«Fenster kaputt», merkt der Fahrer an, sachlich und ohne Bedauern.

«Und der Sicherheitsgurt?»

«Kaputt.»

«Ist Ihnen klar, dass das illegal ist?»

Im Rückspiegel bedeutet mir Pegasus mit einem mitleidigen Blick, endlich die Klappe zu halten.

Weil das Taxi nicht aufgetaucht ist, bin ich so nervös geworden, dass ich diesen blöden, blöden Streit mit Richard vom Zaun gebrochen habe. Er hat Paulas Weihnachts-Bonusscheck gefunden, den ich in Emilys Butterbrotdose versteckt hatte. Sagte, er könne einfach nicht begreifen, warum ich für das Weihnachtsgeschenk des Kindermädchens mehr Geld ausgebe als für den Rest der Familie zusammen.

Ich habe versucht, es ihm zu erklären. «Wenn ich nicht dafür sorge, dass Paula glücklich ist, dann wird sie gehen.»

«Wäre das denn wirklich so schlimm, Katie?»

«Ehrlich gesagt, es wäre einfacher, wenn du gehen würdest.»

«Aha, verstehe.»

Hätte ich nicht so sagen sollen. Verdammte Müdigkeit. Man sagt immer, was man nicht sagen will, auch wenn man es gerade so empfindet. Danach hat Rich am Küchentisch gesessen und so getan, als hätte er im Architectural Digest was Faszinierendes zu lesen gefunden, und dabei hat er es geschafft, so auszusehen wie Trevor Howard am Ende von «Brief Encounter».

Wollte mich beim Abschied nicht mal angucken. Ben hingegen stellte sich in seinem Hochstuhl auf und fing an, nach einem Küsschen zu jodeln. Nein. Tut mir Leid. Nicht in einem sauberen Kostüm. Wie er wieder aussieht! Vollgeschmiert mit Marmelade und Aprikosenquark, seine persönliche Inszenierung des Sonnenaufgangs.

Der Wagen hält und fährt an und hält immer wieder auf der Euston Road. Wenn das eine der Hauptschlagadern Londons ist, dann braucht London einen Bypass. Seine Bürger sitzen in ihren Autos, und ihre Herzen werden von Wut zerfressen.

Als wir an King’s Cross vorbei sind, öffne ich meine Post. Eine Karte von Mum mit der Weihnachtsbeilage einer Zeitschrift: 26 Rezepte für ein wunderbares, stressfreies Weihnachtsfest! Mit wachsender Ungläubigkeit blättere ich es durch. Wie kann etwas Stressfreies das Karamelisieren einer Schalotte beinhalten?

Wir kriechen weiter westwärts über die Überführung und an den lachsfarbenen Doppelhäusern vorbei, die sich Meile um Meile aneinander reihen. Als ich in so einem Haus gewohnt habe, war Weihnachten noch eine ziemlich einfache Angelegenheit. Es gab einen Baum, einen pickligen Puter, Clementinen in einem orangen Netz, vielleicht noch ein paar Datteln, die in einem Palmblattkanu aneinander klebten, und eine große Dose Quality-Street-Bonbons, die von der ganzen Familie zusammen vor dem Fernseher gegessen wurde. Das große Geschenk stand immer unter dem Baum, ein Puppenhaus, Rollschuhe, vielleicht auch ein Fahrrad mit Stützrädern und einer Klingel, und am Fußende vom Bett hing immer der Strumpf, dessen aufregend unförmiges Gewicht man mit den Füßen befühlen konnte. Aber wie alles andere hat auch Weihnachten einen Zahn zugelegt. Jetzt gibt es Aufführungen vom «Nussknacker», für die man im August Karten vorbestellen muss, und Kelly Bronze. Als ich diesen Namen das erste Mal hörte, dachte ich, Kelly sei eine dieser aufblasbaren Baywatch-Puppen, aber es stellte sich heraus, dass sie die einzige Sorte Pute ist, die sich noch zu essen lohnt. Nachdem man erst mal eine Stunde in der Telefonwarteschleife des Supermarkts verbracht hat, um darum zu betteln, dass man auf die Warteliste für Kelly gesetzt wird, muss man das Vögelchen auch noch zu sich nach Hause holen und füllen. Meiner Weihnachtsbeilage zufolge ist die Füllung, die früher mal aus trockenen Brotkrümeln mit gehackter Zwiebel und einem Löffel muffigem Salbei bestand, mittlerweile zu «verwöhnte Gaumen belebender Porcinibutter mit rotem Reis und Preiselbeeren» mutiert.

Ich glaube nicht, dass wir in den Siebzigern Gaumen hatten, wir hatten Schleckermäuler und Sodbrennen, das behoben wurde, indem man Pastillen von der Farbe und Beschaffenheit von Grabsteinen lutschte. Guter Witz, wenn man drüber nachdenkt, nicht? Gerade, als Millionen von Frauen aus ihrer Hausfrauenrolle geflohen waren, gab es plötzlich Essen, das sich zu kochen lohnte. Denk bloß mal an all die phantastischen Sachen, die du machen könntest, Kate, wenn du je in deine Küche kämst.

 

8.43: Pegasus hat die «schnelle» Route hintenrum nach Heathrow gewählt. Daher sitzen wir eine Stunde und zwanzig Minuten vor Abflug vor einer Reihe koscherer Schlachterläden in Southall fest. Fühle mein Herz aufjaulen, Fuß tritt unsichtbares Gaspedal durch.

«Hören Sie mal, können Sie nicht schneller fahren? Ich muss unbedingt Zeit aufholen.»

Ein junger Typ in weißem Baumwollpyjama läuft vor uns auf die Straße, hat sich ein Lamm von der Größe eines Kindes um die Schultern gelegt. Mein Fahrer bremst abrupt ab, und vom Vordersitz ertönt ein lakonisches Nuscheln: «Als ich mich letztens erkundigt hab, war es noch verboten, Leute zu überfahren.»

Mache die Augen zu und konzentriere mich darauf, mich zu beruhigen. Wenn ich die Zeit effizient nutze, wird es mir nicht mehr so vorkommen, als sei alles außer Kontrolle: Rufe KwikToy (Spaß rund um die Uhr) per Handy an, um mich über die nicht eintreffenden lebenswichtigen Weihnachtsgeschenke zu beschweren.

«Vielen Dank, dass Sie sich für KwikToy entschieden haben. Leider sind zurzeit alle Leitungen besetzt. Wir rufen Sie in Kürze zurück.» Typisch.

Fange an, mich durch die ausgerissenen Gelben Seiten mit Zoohandlungen in Nordlondon zu arbeiten. Es überrascht mich nicht zu erfahren, dass wir landesweit eine Knappheit von Babyhamstern haben, wenn auch in Walthamstow noch einer übrig sein könnte. Ob ich an dem interessiert bin? Ja.

Als ich endlich zu KwikToy durchkomme, mag der umnachtete Angestellte nicht recht zugeben, dass meine Bestellung vorliegt. Erzähle ihm, dass ich zu den Hauptaktionären seiner Firma gehöre und dass wir dabei sind, unsere Investition einer Prüfung zu unterziehen.

«Na gut», lenkt er ein, «es gab Lieferschwierigkeiten aufgrund unvorhergesehener Nachfrage.»

Ich mache darauf aufmerksam, dass die Nachfrage wohl kaum als unvorhersehbar bezeichnet werden kann. «Die Geburt des kleinen Jesuskindes. Die feiern wir mittlerweile seit 2000 Jahren. Geschenke und Weihnachten. Weihnachten und Geschenke. Sagt Ihnen das irgendwas?»

«Hätten Sie gern einen Gutschein, Miss?»

«Nein, ich möchte keinen Gutschein. Ich möchte, dass mein Spielzeug ausgeliefert wird, und zwar sofort, damit meine Kinder zu Weihnachten etwas zum Auspacken haben.»

Pause, ein Piep und ein Hallen, als ich ihn rufen höre: «Ey, Jeff, irgendsone reiche Torte kreischt hier am Telefon rum wegen des Puppengeschirrs und dem Schäferhund auf Rollen. Wasssollichihrnsagn?»

 

9.17 Komme absolut rechtzeitig in Heathrow an. Beschließe, beim Fahrer wieder gutzumachen, dass ich ihn angeschrien habe. Frage nach seinem Namen.

«Winston», sagt er argwöhnisch.

«Danke, Winston. Das war wirklich eine prima Route. Ich heiße übrigens Kate. Toller Name … Winston. Wie Churchill?»

Er kostet den Moment aus, ehe er antwortet: «Wie Silcott.»

 

9.26: Pflüge durch eine übervölkerte Abflughalle, als mir einfällt, was ich noch vergessen habe. Muss zu Hause anrufen. Handy funktioniert nicht. Warum nicht? Versuche es am Münzfernsprecher, der drei Pfundmünzen schluckt und es nicht schafft, mich zu verbinden, jedoch mehrfach folgende Botschaft wiederholt: «Danke, dass Sie sich für British Telecom entschieden haben.»

Schließlich klappt es am Kreditkartentelefon neben dem Eincheckschalter, drei Angestellte in blauen Uniformen beobachten mich.

«Richard, hallo? Was du auch machst, vergiss die Strümpfe nicht.»

«Dessous?»

«Was?»

«Strümpfe. Spielst du auf Dessous an, Katie? Strumpfhalter, schwarze Spitze, sieben Zentimeter sahneweißer Schenkel – oder reden wir etwa über die langweiligen Behältnisse, in die der Weihnachtsmann seine Geschenke stopft?»

«Richard, hast du getrunken?»

«Das ist eine hervorragende Idee.» Als er den Hörer auflegt, könnte ich schwören, gehört zu haben, wie Paula Emily ein Hubbabubba anbietet.

MEINE TOCHTER KRIEGT KEIN KAUGUMMI.

 

An: Candy Stratton

Von: Kate Reddy, Stockholm

Klient droht, uns wegen Besorgnis erregender Wertentwicklung des Fonds fallen zu lassen. Hab eine Parabel erzählt: Edwin Morgan Forsters Asset Manager sind wie Bjørn Borg, halten sich brillant an der Grundlinie und spielen solide, da sie auf lange Sicht zuverlässige Gewinne erzielen wollen; sie sind keine schillernden Artisten, die im Nu ausbrennen, weil sie schnellen Profiten nachjagen und dann Doppelfehler machen. Schien er zu schlucken. Der Himmel weiß, warum.
Musste mich immer wieder aus Bengt Bergmans Konferenzraum aufs Chefetagenklo verdrücken und in einer Kabine einschließen, um auf dem Handy Zoohandlungen in Walthamstow anzurufen. Bis vor drei Tagen war in Emilys Briefen an den Weihnachtsmann von einem Hamster noch nicht die Rede gewesen. Aber plötzlich ist er ganz oben auf die Liste katapultiert worden.
Schwedische Klienten haben Namen wie aus einem schlechten Griff beim Scrabble. Sven Sjostrom pickte sich beim Lunch immerzu Rollmops von meinem Teller und sagte, er glaube leidenschaftlich an eine «noch engere europäische Vereinigung».
Natürlich muss ich neben dem einzigen politisch nicht korrekten Mann Skandinaviens sitzen. Würg, K8 xxx

 

An: Kate Reddy
Von: Candy Stratton
Sven Werde Ich Dich Wiedersehen?
Sven Werden Wir Stunden Des Glücks Miteinander Verbringen?
Nur zu, Schätzchen, das wird dich entspannen! Alles Liebe deine Cystitis xxx

 

An: Candy Stratton
Von: Kate Reddy
Das ist NICHT WITZIG. Denk dran, ich bin eine glücklich verheiratete Frau. Na gut, verheiratet bin ich jedenfalls.

 

An: Kate Reddy
Von: Debra Richardson
Habe gerade eine unaussprechliche Demütigung hinnehmen – besser anhören – müssen. Verhasste Schulsekretärin von Piper Place: (ich weiß, ich weiß, ich sollte mit diesem Ausbildungsunsinn aufhören.) Ja, Ruby könnte für einen Platz 2002 vorgemerkt werden. «Aber ich muss Sie warnen, Mrs. Richardson, es stehen über hundert kleine Mädchen auf unserer Liste, und wir halten uns strikt daran, Geschwistern den Vorzug zu geben.»
Hast du noch Semtex? Diesen selbstgefälligen Kühen muss Einhalt geboten werden.
Hast du auch Neuigkeiten?

 

An: Debra Richardson
Von: Kate Reddy
Habe Emily noch nirgendwo angemeldet. Wenn ich endlich dazu komme, muss ich wahrscheinlich mit dem Rektor schlafen, um überhaupt einen Platz für sie zu kriegen … Hab brennendere Probleme: Zwei Tage, um Ben das Schnullern abzugewöhnen, weil Schwiegermutter Schnuller für Werkzeug des Teufels hält, das nur von Zigeunern und kettenrauchenden niederen Lebensformen, die «ihre Kinder vor dem Videorecorder parken», eingesetzt wird. Was soll ich denn sonst in Yorkshire mit den Kindern machen?
Habe einen Hamster für Emily gefunden. Offenbar sind weibliche Hamster sehr aggressiv, beißen oder fressen ihre Jungen. Wie kann es nur angehen?

 

2.17: Schneesturm. Flug nach Hause verschoben. Wertvolle Stunden, die dem Lastminute-Shopping in London vorbehalten waren, schmelzen dahin. Durchsuche den Laden im Stockholmer Flughafen nach Weihnachtsgeschenken. Was würde Richard wohl besser gefallen? Luftgetrocknetes Rentier oder weihnachtliches Video mit dem Titel: «Schwedische Teens ganz heiß im Schnee»? Weigere mich immer noch, Emily dieses Ekel erregende, vor sich hin kleckernde Pipi-Baby aus dem Frühstücksfernsehen zu kaufen. Schließe Kompromiss und kaufe die schwedische Barbieversion, ein kerngesundes Individuum, wahrscheinlich Sozialdemokratin, gewandet in Friedenstruppenkhaki.

 

HEILIGABEND, die Büros von Edwin Morgan Forster

Ich hätte wissen können, wie es um meine Gehaltsverhandlungen stand, als Rod Task hinter meinen Stuhl trat, die Luft über meinen Schultern dreimal tätschelte wie ein Tierarzt, der eine Katze auf eine Impfung vorbereitet, und mich als ein «hoch geschätztes Mitglied des Teams» bezeichnete. Es war mitten am Nachmittag, der Tiefpunkt des Tages, und der Himmel über Broadgate hatte die Farbe von Tee.

Rod erklärte, dass es dieses Jahr keinen Bonus geben würde – den Bonus, auf den ich gezählt hatte, um den Umbau des Hauses abzuschließen und so vieles andere. Es seien harte Zeiten für alle, sagte er, aber die wirklich großartige Neuigkeit sei, dass sie mir eine große neue Herausforderung geben würden.

«Wir glauben, dass du diejenige bist, die die Klientenbetreuung übernehmen sollte, Katie, weil du es so verdammt gut machst. Außerdem hast du die schöneren Beine.»

Rod ist ein bärbeißiger, zottiger Australier mit einer Stimme, die andere Typen dazu nutzen, einen Barkeeper auf sich aufmerksam zu machen. Als er seine Zentner vor dreieinhalb Jahren aus Sydney hier rüberhievte, um bei EMF den Posten des Marketing-Chefs zu übernehmen – und der erschlaffenden englische Firma zu einem Hoch zu verhelfen –, dachte ich wirklich, ich müsse gehen. Seine Unfähigkeit, mir in die Augen zu blicken – und das nicht nur, weil ich ein Stück größer bin als er – die Art, wie er Teile meines Körpers kommentierte, als stünden sie im Angebot, seine Angewohnheit, jede Konferenz mit der Aufforderung zu beenden: «Und geht raus und reißt euch den verdammten Arsch auf!»

Mir würde also nichts anderes übrig bleiben als zu gehen. Aber dann kam Emily in die erste Trotzphase, und ich kaufte ein Buch mit dem Titel «Wie zähme ich mein Kleinkind». Es war eine Offenbarung. Die Vorschläge, wie mit kleinen, wütenden, unreifen Persönlichkeiten umzugehen war, die keine Vorstellung von Grenzen haben und ihre Mutter permanent provozieren, ließen sich perfekt auf meinen Boss übertragen. Anstatt ihn wie einen Vorgesetzten zu behandeln, ging ich mit ihm um wie mit einem schwierigen kleinen Jungen. Immer wenn er im Begriff war, etwas Unartiges zu tun, tat ich mein Bestes, um ihn abzulenken. Wenn ich wollte, dass er etwas Bestimmtes tat, ließ ich es immer so aussehen, als sei es seine eigene Idee gewesen.

Wie dem auch sei, Rod teilt mir mit, dass ich ab heute die Verantwortung für die Salinger Foundation übernehme. Mit Sitz in New York. Mit einem Chief Executive namens Jack Abelhammer. Zweihundert-Millionen-Dollar-Geschäft, da muss schon jemand von meinem Kaliber ran. Natürlich kann ich mich über die Feiertage mit dem Portfolio vertraut machen, außerdem werde ich weiterhin all meine alten Klienten hüten, während Rod eine geeignete Person findet, die diese Aufgabe von mir übernehmen kann.

Ich frage Rod, wie Abelhammer so ist.

«Guter Schwung.»

«Wie bitte?»

«An seiner Feinmotorik muss er mal arbeiten.»

«Oh, Golf.»

«Woran hast du denn gedacht, Katie? Sex?»

 

Streng genommen fangen die Feiertage erst an, nachdem für heute der Auspfiff ertönt ist, aber das Büro liegt praktisch verlassen da. Inoffiziell befinden wir uns jetzt in der toten Phase zwischen einem Lunch, bei dem reichlich Alkohol geflossen ist, und einer hochprozentigen Teestunde. Als ich wieder an meinen Schreibtisch zurückkehre, sitzt Candy auf der Heizung vorm Fenster und streckt ihre Beine über meine Stuhllehne. Sie trägt eine unglaublich scharfe scharlachrote Bluse, lila Netzstrümpfe – und in ihrem Haar ist Goldlametta.

«Okay, lass mich raten», sagt sie. «Er hat auf dich geschissen, und du hast angeboten, ihm den Arsch zu wischen?»

«Entschuldige bitte mal.» Ich packe ihre Fußgelenke und werfe ihre Füße vom Stuhl. «Eigentlich ist es sehr gut gelaufen. Rod findet, dass meine Fähigkeiten in der Klientenbetreuung einer der größten Aktivposten sind, deshalb bekomme ich diese große Foundation ganz für mich allein, als Vertrauensbeweis.

«Na klar.» Wenn Candy lacht, kann man einen flüchtigen Blick auf einen Mund voll beneidenswerter amerikanischer Zähne erhaschen.

«Guck mich nicht so an.»

«Kate, ein großer Vertrauensbeweis hat hier immer mindestens vier Nullen vor dem Komma, das weißt du. Was hat er sonst noch gesagt?»

Ich habe keine Zeit zu antworten, weil Candy ihren Finger an die Lippen legt, denn Chris Bunce, das amtierende Arschloch, wankt mit einem üppigen Lunch unter dem Gürtel an uns vorbei zum Herrenklo. Als Kokser im großen Stil bringt Bunce es fertig, gleichzeitig mager und aufgebläht auszusehen. Seit ich ihm klargemacht habe, in aller Höflichkeit, dass ich am Inhalt seiner Boxershorts kein Interesse habe, ist die sexuelle Spannung kleinen Verbalattacken gewichen, und gelegentlich wird auch mal eine Runde mit scharfer Munition ausgefochten, wenn ich einen Deal bekommen habe, den er haben wollte. (Für Typen wie Bunce ist eine Abfuhr eine Beleidigung, die mit Zinseszins zurückgezahlt werden muss, wie die Schulden der Dritten Welt.)

Candy dreht den Kopf in seine Richtung, als er sich entfernt. «Es kommt wirklich eine Menge Dreck zu EMF rein, auf die eine oder andere Weise. Hast du auch angeboten, das Büro sauber zu machen?»

«Wofür hältst du mich? Rod hat gesagt, dass niemand einen Bonus kriegt.»

«Und du hast ihm geglaubt?» Candy schließt die Augen und seufzt ein Lächeln. «Das liebe ich so an dir, Kate. Die cleverste weibliche Wirtschaftsexpertin seit Maynard Keynes, und du glaubst noch immer, die tun dir einen Gefallen, wenn sie dich ausbeuten.»

«Candy, Maynard Keynes war ein Mann.»

Sie schüttelt den Kopf, und das Lametta glitzert im Licht. «War er nicht. Er war ein Früchtchen. Ich seh das so, Frauen müssen alle historischen Größen für sich reklamieren, die eine so weibliche Seite haben wie wir.»

 

18.09: Es dauert mindestens zwei Stunden, das Auto für die Reise nach Norden zu meinen Schwiegereltern zu packen. Während der ersten Stunde sammelt Richard sämtliche Babyhabseligkeiten in den Kofferraum. (Louis XIV reiste mit leichterem Gepäck als Ben.) Dann kommt der Augenblick, wo er den Schlüssel für die Gepäckbox finden muss, die wie ein umgedrehtes Boot auf dem Dach sitzt. «Wo haben wir ihn hingelegt, Kate?» Nach zehn Minuten Fluchen und dem Ausleeren sämtlicher Schubladen im Haus findet Richard den Schlüssel in seiner Jackentasche.

Nachdem Richard mich dazu aufgefordert hat, die Kinder «jetzt sofort» ins Auto zu setzen, folgen zwanzig Minuten fieberhaften Entladens, da er «nur sichergehen» will, dass er den Sterilisierapparat auch wirklich eingepackt hat, den er, «da bin ich todsicher», neben den Reservereifen gequetscht hat. Darauf folgt ein wildes Wiedereinpacken, das von «Scheiße! Scheiße!»-Rufen unterbrochen wird, während Gegenstände in willkürlicher Reihenfolge aufeinander gepresst und die Überbleibsel in allen verfügbaren Fußraum vorne und hinten gerammt werden. Die abwischbare Wickelauflage, der am Tisch festzuklemmende Reisehochstuhl mit seinem Begleiter, dem ausklappbaren Reisebett. Lätzchen, Melaminschüsseln mit der Kleinen Lok. Schlafanzüge. Emilys Kuscheldecke, ein tragischer Fetzen gelber Wolle, der aussieht, als ob er mehrfach von einem Schwerlaster überfahren worden wäre. Der ganze Zoo nächtlicher Trostspender, Bens geliebtes Roo, ein Schaf, ein Nilpferd in einem Tutu, ein Wombat, das Roy Hattersley erschreckend ähnlich sieht. Bens Schnuller (die um jeden Preis vor Richards Eltern versteckt werden müssen). Emilys Überraschungshamster wird im Kofferraum verstaut.

Wie Kosmonauten kurz vor dem Start sind Emily und Ben in ihren Sitzen festgeschnallt, doch ihr zufriedenes Genörgel geht schon in Handgreiflichkeiten über. In einem Augenblick der Schwäche – wann habe ich je einen Augenblick der Stärke? – habe ich das Weihnachtskonfekt, das für den Weihnachtsmorgen vorgesehen war, aufgemacht, und jedem ein paar in Folie gewickelte Stücke gegeben, damit sie ruhig sind. Das Ergebnis ist, dass Emily, die vor einer Viertelstunde noch einen weißen Schlafanzug anhatte, jetzt aussieht wie ein Dalmatiner mit dunkelbrauner Schnauze.

Richard, der ansonsten für elfeinhalb Monate im Jahr geradezu heroisch gleichgültig ist, was Aussehen und Präsentation seiner Nachkommen angeht, fragt mich plötzlich, warum Emily und Ben so verschmiert sind. Was soll seine Mutter bloß denken?

Wische die Kinder mit feuchten Reinigungstüchern ab. Vier Stunden auf der A1 liegen vor uns. Das Auto ist so überladen, dass es schwankt wie ein Schiff.

«Sind wir noch in England?», kommt es mit ungläubiger Stimme von hinten.

«Ja.»

«Sind wir schon bei Oma?»

«Nein.»

«Aber ich will jetzt bei Oma sein.»

Auf der Höhe von Hatfield bringen beide Kinder eine Fuge für Schreien und Wimmern zur Aufführung. Drehe die Weihnachtslieder vom Band bis zum Anschlag auf, und Richard und ich singen aus voller Kehle mit. (Rich ist der Countertenor, während ich den Jessye-Norman-Part übernehme.) In der Nähe von Peterborough, 80 Meilen von London entfernt, windet sich ein kleiner, quälender Gedanke aus dem Komposthaufen, der zurzeit den Inhalt meines Kopfes ausmacht.

«Rich, hast du daran gedacht, Roo einzupacken?»

«Ich wusste nicht, dass ich an Roo denken sollte. Ich dachte, du denkst an Roo.»

 

WIE JEDE ANDERE Familie haben auch die Shattocks ihre Weihnachtsbräuche. Einer davon ist, dass ich alle Geschenke für meine Seite der Familie kaufe, und dass ich die Geschenke für unsere Kinder und unsere beiden Patenkinder kaufe, und dass ich Geschenke für Richard kaufe und Geschenke für Richards Eltern und seinen Bruder Peter und Peters Frau Cheryl und ihre drei Kinder und Richards Onkel Alf, der jeden zweiten Feiertag aus Matlock rüberkommt und ganz wild auf Rugby ist und dessen Zähne es nur mit weichem Schokoladenkonfekt aufnehmen können.

«Was haben wir eigentlich für Dad?», fragt Rich zwangsläufig auf der Fahrt nach Yorkshire. Das eheliche wir, mit dem gemeint ist du, was so viel bedeutet wie ich.

Ich kaufe das Geschenkpapier und den Tesafilm und ich wickele die Geschenke ein. Ich kaufe die Karten und ein großes Blatt Briefmarken, zweite Klasse. Bis ich alle Karten geschrieben und Richs Unterschrift gefälscht habe und irgendetwas Warmherziges, aber Heiteres darüber geschrieben habe, etwa wie die Zeit doch dahinfliegt und wir im neuen Jahr auf jeden Fall von uns hören lassen werden (Lüge), ist es zu spät für Zweite-Klasse-Post, deshalb stelle ich mich in die Schlange am Postschalter und kaufe Erste-Klasse-Briefmarken, von denen ich jede einzelne anlecke und aufklebe. Dann kämpfe ich mich durch die Lebensmittelabteilung von Selfridge’s und kaufe Käse und diese kleinen Florentiner, die Barbara so gern mag.

Und dann kommen wir bei Barbara und Donald an, laden die Sachen aus dem Auto aus und legen alle Geschenke unter den Baum und bringen Ess- und Trinkbares in die Küche, und sie rufen im Chor: «O Richard, vielen Dank, dass du den Wein besorgt hast. Du hättest dir nicht so viel Mühe machen sollen.»

Ist es möglich, aus Mangel an Dankbarkeit zu sterben?

 

Mitternachtsmesse, St. Mary’s, Wrothly

Das Gras auf dem Dorfanger ist heute Nacht so gefroren, dass es beinahe Musik macht. Wir rischeln und rascheln von der alten Mühle der Shattocks zu der winzigen normannischen Kirche. Drinnen sind die Bänke voll, die Luft ist drückend und dumpf und von weingeschwängertem Atem erfüllt. Ich weiß, dass man die Trunkenbolde, die nur dieses eine Mal im Jahr in die Kirche gehen, scheel ansehen sollte, aber wie ich so neben Richard stehe, fällt mir auf, dass ich sie mag, dass ich sie sogar sehr beneide. Ihre lautstarken Versuche, leise zu sein, und mein Gefühl, dass sie auf der Suche nach Wärme und Licht und menschlichem Mitgefühl hergekommen sind.

Ich reiße mich zusammen, das tu ich wirklich, bis wir zu dieser Zeile in O Little Town of Bethlehem kommen, wo ich mir beide Handschuhe auf die Augen drücken muss.

«Above thy deep and dreamless sleep the silent stars go by.»

Über deinem tiefen und traumlosen Schlaf ziehen die stillen Sternlein vorbei.

Working Mum
titlepage.xhtml
jacket.xhtml
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_000.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_001.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_002.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_003.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_004.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_005.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_006.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_007.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_008.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_009.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_010.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_011.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_012.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_013.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_014.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_015.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_016.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_017.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_018.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_019.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_020.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_021.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_022.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_023.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_024.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_025.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_026.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_027.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_028.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_029.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_030.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_031.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_032.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_033.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_034.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_035.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_036.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_037.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_038.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_039.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_040.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_041.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_042.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_043.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_044.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_045.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_046.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_047.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_048.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_049.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_050.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_051.html
CR!RTHH6BX2DS45KERRMMGX2P1C2DM5_split_052.html