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Der erste Weihnachtsfeiertag
Also, wir haben die Zeit der Nächstenliebe und des Wohlgefallens ganz gut überstanden. Abgesehen von dem Mittagessen am ersten Weihnachtsfeiertag. Ich hab vergessen, was genau eigentlich die Geschichte des Boxing Day ist, wie man ihn in England nennt. Kann es wohl sein, dass der Name irgendwie auf das Gefühl anspielt, geliebte Menschen ins Freie bitten zu wollen, um ihnen per Faustschlag die Nase platt zu hauen?
Wie auch immer, es war alles meine Schuld, sagt Richard, und er hat nicht ganz Unrecht, ich rechtfertige mich aber damit, dass ich enorm provoziert worden bin. Immer wenn ich bei meinen Schwiegereltern bin, kommt es mir vor, als hätten sich meine Kinder in Handgranaten verwandelt. Jeden Augenblick kann sich die Sicherung lösen, und sie explodieren quer über die Chaiselongue oder sie räumen eine ganze Vitrine Worcester-Eierbecher aus. Rich und ich huschen hinter ihnen her und stürzen uns auf fallende Nippes wie Torwarte in einem verfluchten Weltmeisterschaftsspiel.
12.03: Barbara hat mich zum Nussdienst eingeteilt: Cashews, Pistazien, Erdnüsse für die älteren Kinder. Als ich die Glasschalen fülle, fällt mir auf, wie dankbar ich bin, mich nützlich machen zu können, während mir ein komplizierteres Gefühl Schmerzen in der Brust macht. Wie Sodbrennen, nur habe ich noch nicht gegessen. Weihnachten und die Shattocks sind für mich schwer zu ertragen: Hier liege ich am Busen einer relativ funktionalen Familie, und jedes grausige Weihnachtsfest meiner Kindheit hallt in meinen Knochen wider. Ich muss nur Harry Belafonte «Mary’s Boy Child» im Radio singen hören, und ich bin wieder zu Hause, mit Dad, der sich in die Küche schleicht, als er aus dem Pub zurückkommt, und irgendeine Friedensgabe für meine Mutter in den Händen hält: ein Spitzennachthemd aus Polyester in der falschen Größe, eine goldene Uhr, die er von einem Kumpel auf dem Markt gekriegt hat. Mein Vater hat seinen Auftritt immer inszeniert wie ein Star und alle verfügbare Luft im Raum für sich beansprucht. Julie und ich konnten nur flach atmend hinter der Couch hocken und darum beten, dass sie ihm wieder einmal vergeben würde, dass sie ihn zurücknehmen würde, damit wir Weihnachten so feiern konnten, wie es sich für eine Familie gehört, so wie Richards Familie es feiert.
Ich bringe Nüsse in das große L-förmige Wohnzimmer mit den Flügeltüren zum Garten. Heute findet der alljährliche Umtrunk bei den Shattocks statt. Ein strahlender Donald nimmt meinen Arm und stellt mich einem seiner Golfgenossen vor. Der Mann ist irgendwo in den Sechzigern und trägt ein Sportjackett und ein rotes Hemd mit einem Schlips, auf dem nur unwesentlich weniger los ist als auf dem Testbild.
«Jerry, darf ich dir meine Schwiegertochter Katharine vorstellen. Katharine ist eine Karrierefrau, musst du wissen. Hat ihren eigenen Namen behalten. Sehr modern.»
Jerry lebt auf. «Gehen Sie oft auf Geschäftsreisen, Katharine?»
«Ja, ich fliege oft in die Staaten und …»
«Und wer kümmert sich dann um Richard, wenn Sie weg sind?»
«Richard. Ich meine, Richard kümmert sich um sich selbst. Und um die Kinder. Und wir haben ein Kindermädchen, das die Kinder versorgt und … Naja, irgendwie läuft das.»
Jerry nickt leicht verstört, als hätte ich ihm von einem Minoischen Aquädukt berichtet. «Oh, das ist großartig. Kennen Sie Anita Roddick, meine Liebe?»
«Nein, ich …»
«Das muss man ihr lassen, nicht? Diese Haare. Verblüffend für ihr Alter. Und nicht ein Gramm zu viel auf den Rippen. Oft lassen sie sich ja gehen mit den Jahren, stimmt’s?»
«Wer?»
«Italienerinnen.»
«Ich habe nicht gewusst, dass Anita Roddick Italienerin ist.»
«Oh, naja. Bei uns in der Straße wohnt eine Frau, die war das Abbild der jungen Claudia Cardinale, bevor die Makkaroni mit Käse sie erwischt haben. Was hat Donald noch gesagt, in welcher Branche arbeiten Sie?»
«Ich bin Fondsmanagerin, ich investiere Geld im Auftrag von Rentenfonds und Firmen in …»
«Mit Bradford und Bingley kann man nicht viel falsch machen, sag ich immer. Festgeld für dreißig Tage, kommt man immer ran.»
«Das hört sich gut an.»
«Ich nehme an, Ihre Leute wollen den albernen Euro, was?»
«Nein …»
«Ich sag Ihnen mal was, Kate, ehe Sie es sich versehen, kriegt Gordon Brown uns dazu, dass wir mit einer Tasche voll deutscher Krautmark in den Pub ziehen. Wozu haben wir den Krieg gewonnen, sagen Sie mir das mal?»
Es gibt in solchen Gesprächen einen Punkt, an dem der Mensch, der man das restliche Jahr über ist, anfängt, sich luftschnappend durch die Schichten von Geschenkpapier und gesättigten Fettsäuren zu kämpfen und schließlich hervorbricht wie der Alien aus John Hursts Brust.
«Ehrlich gesagt, Jerry», sage ich lauter als beabsichtigt, «der Beitritt zum Euro wird davon abhängen, wie ausgeglichen die Haushalte der Länder sind. Außerdem wird die Weltwirtschaft von Alan Greenspan und der US Federal Reserve bestimmt, weswegen wir uns mehr auf die USA konzentrieren müssen als auf Europa.»
Jerry bäumt sich auf und rasselt in die Porzellanvitrine hinter ihm, die klingelt wie Schlittenglöckchen. «Tja, es war nett, mit Ihnen zu reden, meine Liebe. Richard ist doch ein Glückspilz, nicht wahr? Barbara, euer Richard hat es gut getroffen. Katharine hier könnte in Wer wird Millionär auftreten, sie hat Köpfchen und ein hübsches kleines Gesicht dazu.»
An ein Wasserglas voll halbtrockenen Sherry geklammert, gehe ich durch die Terrassentür nach draußen und lasse mich dankbar in die beißende Kälte fallen. Ich hocke mich in den Steingarten. Nun sag schon, Kate, warum hast du diesen gutmütigen alten Knaben da drinnen eben so fertig gemacht? Angeberei. Ich hab ihm gezeigt, dass ich nicht eine dieser Blondinen im Twinset bin. Er hat es nicht böse gemeint. Woher soll der arme Jerry wissen, was für eine Sorte Frau ich bin, was für eine seltsame neue Spezies? Zu Hause in London bei Edwin Morgan Forster halten sie mich für anormal, weil ich ein Leben außerhalb des Büros habe. Hier oben halten die Leute mich für eine Irre, weil ich einen Job habe anstelle eines Lebens.
Gestern habe ich Barbara erzählt, dass Brokkoli eins von Emilys Lieblingsgemüsen ist. Ich habe keine Ahnung, ob das stimmt. Bei EMF dagegen tue ich so, als würde ich jeden Tag vor der Arbeit die Financial Times lesen, aber wenn ich das tatsächlich täte, könnte ich mir nicht manchmal diese dreizehn Minuten im Bus mit Emily stehlen, in denen wir Wörter buchstabieren, plaudern und Händchen halten. Doppelagenten leben vom Lügen.
15.12 Uhr: Die ganze Familie – Donald, Barbara, die übrigen Erwachsenen und eine Auswahl Enkelkinder – knirscht über ein Feld und bahnt sich ihren Weg zwischen friesischen Milchkühen. Starker Frost hat die Kuhfladen in steife Hauben verwandelt, auf die die Kinder springen, um die giftgrüne Flüssigkeit darunter zu befreien. Ein Himmel wie ein Brilloschwamm – die Wolken werden plötzlich von einem unerklärlichen Sonnenstrahl durchbohrt. Staune gerade darüber, wie die Sonne die Hügel vor mir in Wärme taucht, als mein Handy klingelt. Simultan reißen die Kühe und Barbara lang bewimperte Augen auf, ganz Elizabeth Taylor, wenn sie die Schockierte spielt.
«Was ist das für ein schreckliches Geräusch, Katharine?»
«Tut mir Leid, Barbara, das ist mein Telefon. Hallo? Ja, hallo?»
Eine Männerstimme wird vom Satelliten hinunter in die Dales geschmettert. Es ist Jack Abelhammer, der amerikanische Klient, den Rod mir als Trostpreis dafür gegeben hat, dass ich keine Gehaltserhöhung kriege. In seiner Stimme liegt WASP-ischer Zorn. (Amis können es nicht fassen, dass Briten diese faule Angewohnheit haben, zwischen Weihnachten und Neujahr eine ganze Woche frei zu nehmen.) Ich habe Mr. Abelhammer zwar noch persönlich kennen zu lernen, aber er klingt, als sei er dazu fähig, seinem Namen Ehre zu machen, und ich werde diejenige sein, die in den Boden gerammt wird.
«Um Himmels willen, Katharine Reddy, es ist kein Mensch in Ihrem Büro. Ich versuche seit zwei Stunden, jemanden zu erreichen. Haben Sie gesehen, was mit der Toki Rubber Company los ist?»
«Ich glaube, das ist mir entgangen, Mr. Abelhammer. Setzen Sie mich ins Bild.» Spiel auf Zeit, Kate. Spiel auf Zeit.
EMF hat vor kurzem ein unfangreiches Aktienpaket von Toki Rubber in Japan für Jack Abelhammers Fonds gekauft. Nun stellt sich heraus, dass dem Genie, das diesen Deal gemacht hat, entgangen ist, dass Toki Rubber im Besitz einer kleinen amerikanischen Firma ist, die Matratzen für Kinderbetten herstellt. Eben die Matratzen, die in den Staaten vom Markt genommen worden sind, nachdem Wissenschaftler festgestellt haben, dass sie möglicherweise mit dem plötzlichen Kindstod in Verbindung gebracht werden könnten. Scheiße. Scheiße. Scheiße.
Abelhammer sagt, als die Börse in Tokio gestern öffnete, ist die Aktie eingebrochen, 15 Prozent Verlust. Total abgestürzt. Ich spüre, wie mein Magen zu einer dieser Prozentzahl entsprechenden Talfahrt ansetzt.
«Diese Aktien sind von Ihnen wärmstens empfohlen worden», bellt Abelhammer. Ich stelle ihn mir vor, einen grimmigen Tycoon in irgendeinem New Yorker Turm. «Was genau beabsichtigen Sie in dieser Angelegenheit zu unternehmen? Miss Reddy, hören Sie mich?»
Ein paar aus ihren Tagträumen aufgeschreckte Milchkühe sind herübergewandert, um meine geliehene Barbourjacke forschend zu beknabbern. Ich darf meinen wichtigsten Klienten nicht wissen lassen, dass ich gerade von einer Kuh abgeleckt werde.
«Gut, Mr. Abelhammer, auf alle Fälle gilt es, übereilte Reaktionen zu vermeiden. Es liegt auf der Hand, dass ich für eine gründliche Analyse der Situation ein paar Tage brauchen werde. Und selbstverständlich werde ich mich mit unserem Japan-Analysten beraten. Ihnen ist wahrscheinlich bewusst, dass es in der Branche keinen Besseren gibt als Roy.» (Eine glatte Lüge: Kokser Roy Romford ist zurzeit mit einer Clubtänzerin, die er in der Farrington Road aufgegabelt hat, auf Vögelferien in Dubai. Die Chancen, diesen erbärmlichen Schmutzfinken aus dem Bett zu kriegen, sind gleich null.) «Und ich werde mich mit Ihnen in Verbindung setzen, sobald ich einen Vorgehensplan entwickelt habe.»
Über die Koppel, in Abelhammers eisiges transatlantisches Schweigen hinein, driftet die Stimme meiner Schwiegermutter, klar wie Domglocken: «Also wirklich, diese Amerikaner! Absolut keinen Sinn für Tradition.»
19.35 Uhr: Wieder im Haus, reibe Dung von Emilys Petit-Bateau-Hosen. Lila Feincord. (Paula hat anscheinend für eine Woche in Florida gepackt, nicht für Yorkshire. Hätte den Koffer selber packen sollen.) Cheryl kommt in die Waschküche und verzieht das Gesicht. Ihre Kinder hatten braune Regenhosen aus Polyester an. «Die finde ich furchtbar praktisch.»
2.35 Uhr: Eine Gestalt beugt sich über unser Bett. Setze mich auf, taste blind nach dem Lichtschalter. Es ist mein Schwiegervater.
«Katharine, da ist ein Mr. Hokusai am Telefon, er ruft aus Tokio an. Scheint unbedingt mit dir sprechen zu wollen. Könntest du so freundlich sein und das Gespräch im Arbeitszimmer annehmen?»
Donalds Stimme ist beängstigend ruhig, als würde er all das unterdrücken, was er möglicherweise sagen könnte. Als ich in meinem Nachthemd an ihm vorbeistolpere, zieht er eine silberne Augenbraue hoch. Sehe mich im Flurspiegel. Begreife, dass ich kein Nachthemd anhabe. Trage Agent-Provocateur-BH.
3.57 Uhr: Emily kotzt. Aufregung, glaube ich. Zu viele Smarties und eine große und ungewohnte Portion Mummy. Ich hab gerade das Gespräch mit dem japanischen Gummihersteller beendet und schlüpfe neben einem schnarchenden Richard ins Bett, als ein markerschütternder Schrei aus dem Nebenzimmer dringt. Ich gehe rüber und finde Emily im Bett sitzend vor, die linke Hand auf dem Ohr. Überall ist Erbrochenes, auf dem Nachthemd, ihrer Bettdecke – o Gott! Barbaras Bettdecke –, ihrer Kuscheldecke, ihrem Schaf, ihrem Nilpferd, sogar in ihrem Haar. Sie schaut mich mit anklagendem Entsetzen an: Emily hasst jedweden Verlust von Würde.
«Mir ist schlecht, Mummy. Mach, dass ich nicht mehr spucken muss», bittet sie. Ich trage sie über den Flur ins Badezimmer und halte sie über die Toilette, sodass sie den Beckenrand nicht berührt, meine Mutter hat es auch immer so für mich gemacht. Ich spüre, wie kühl meine Hand auf ihrer Stirn ist, fühle, wie ihr Bauch plötzlich hart wird und sich dann entspannt, während das, was noch drinnen ist, herauskommt. Nachdem ich uns beide ausgezogen habe, nehmen wir ein stilles Bad miteinander, und ich kämme ihr die Preiselbeeren aus dem Haar.
Nachdem ich saubere Nachtwäsche geholt, das Bettzeug gewechselt und Em zugedeckt habe, schabe ich den ganzen Matsch von Barbaras Bettbezug und weiche ihn in der Badewanne ein. Ich lege mich neben dem Bett meines Kindes auf den Boden und überschlage, welche Verluste ins Haus stehen, wenn Abelhammer so wütend ist, dass die Salinger Foundation Edwin Morgan Forster feuert. Zweihundert Millionen Dollar. Köpfe werden rollen. Und meiner ist nicht mal getönt. Keine Zeit gehabt. Gestern hat Emily mir ein Bild gezeigt, das sie von mir gemalt hat.
«Oh, hab ich einen hübschen braunen Hut auf?», habe ich ausgerufen.
«Nein, Dummi, deine Haare sind oben drauf braun und unten gelb.»
Ich bin erstaunt, als ich spüre, wie mir große Kleinmädchentränen über die Wangen rollen und mir warm in die Ohren tropfen.
8.51: Tauche auf. Fühle mich wie ein Taucher in Bleistiefeln. Emily schläft noch. Berühre ihre Stirn, ist viel kühler. Unten schleudert Barbara schmallippig geladene Blicke Richtung Küchenuhr. «Katharine, ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel, aber du tätest wirklich besser daran, etwas Make-up aufzulegen, bevor du herunterkommst. Wir wollen doch nicht, dass Richard denkt, wir hätten aufgehört, uns Mühe zu geben, nicht wahr? So was haben sie nämlich bald raus, diese Männer.»
Ich sage ihr, tut mir Leid, aber ich war die halbe Nacht wach wegen Emily und habe überhaupt nicht richtig geschlafen. Ich spüre ihren Blick: dieses kühle, abschätzende Starren wie damals, als Richard mich das erste Mal mit nach Hause gebracht hat. So könnte man eine Milchkuh auf der Auktion mustern.
«Ach, ich weiß ja, dass du selbst in deinen besten Zeiten ein bisschen piepsig aussiehst, meine Liebe», gibt sie munter zu. «Aber ein bisschen Rouge kann Wunder wirken. Ich persönlich halte eine Menge von Helena Rubinsteins ‹Autumn Bonfire›. Eine Tasse Tee?»
Ich hab mich wirklich nicht als Haupternährerin der Familie hinstellen wollen beim Lunch am zweiten Weihnachtsfeiertag. Es kam einfach so heraus. Wir redeten ganz allgemein über Vorsätze fürs neue Jahr, und Donald – aufrecht, aber mit leiser Melancholie in der Stimme wie Bernard Hepton in Colditz – sagte, vielleicht könnte Katherine in den kommenden zwölf Monaten ja etwas weniger arbeiten. Das an sich wäre ganz in Ordnung gewesen, galant, freundlich, sogar fürsorglich, wenn meine Schwägerin nicht prustend hinzugefügt hätte: «Damit die Kinder sie bei einer Gegenüberstellung wenigstens erkennen können.»
Uff. Offensichtlich hatte Cheryl ein Glas Rotwein zu viel gehabt, und ich hätte mich darüber hinwegsetzen müssen. Aber nach drei Tagen erzwungener ehefraulicher Demut fühlte ich mich nicht mehr in der Lage dazu, mich über irgendetwas hinwegzusetzen. Und so geschah es, dass ich einen Satz mit den Worten begann: «Als die Brötchenverdienerin in unserem Haushalt …» Ein Satz, den ich nie beendet habe, denn als ich in die Tischrunde der verschreckten Gesichter blickte, schien es mir geraten, ihn einfach halb verklingen zu lassen.
Donald schob sich die Brille auf die Nase und tat sich Pastinaken auf, von denen ich weiß, dass er sie nicht ausstehen kann. Barbara griff sich an den Hals, als ob sie aufsteigende Schreckensröte verdecken wollte. Wenn ich verkündet hätte, dass ich Brustimplantate habe oder lesbisch bin oder dass ich Alan Bennett nicht mag, hätte es nicht schlimmer sein können. Denn all dies sind Verstöße gegen die Naturgesetze.
Rich machte indessen ritterliche Anstrengungen, meine Äußerung zu überspielen, und reichte die Soße herum. «Kate, dein Problem ist», sagte er später in unserem Zimmer zu mir, als ich eine Tasche für meine Krisenbesprechung in London packte, «dass du denkst, wenn die Leute nur die Fakten kennen, dann werden sie deine Analyse kaufen. Aber sie wollen deine Fakten nicht. Diese Leute – Eltern – kommen in ein Alter, in dem neue Informationen ihnen Angst machen und nicht weiterhelfen. Sie wollen nicht wissen, dass du mehr verdienst als ich. Für meinen Vater ist das im wahrsten Sinne des Wortes undenkbar.»
«Und für dich?»
Er guckt runter auf seine Schnürbänder. «Also, ehrlich gesagt, ich tu mich auch ziemlich schwer damit.»
13.06 Uhr, 27. Dezember: Die Heizung im Zug nach London ist ausgefallen, die Fenster des leeren Wagens sind vereist, es ist, als reise man in einem Eisbonbon. Ich stelle mich in die Schlange vor dem Bistrotresen. Die mitreisenden Weihnachtsflüchtlinge sind allesamt scharf auf Alkohol. Entweder haben sie keine Familien oder sie sind auf der Flucht vor zu viel Familie, beides sind einsame und zügellose Zustände.
Ich kaufe vier Miniaturflaschen, Whisky, Bailey’s, Bailey’s und Tia Maria. Als ich gerade wieder ein paar Sekunden lang auf meinem Platz bin, höre ich das Handy in meiner Tasche zirpen. An der Nummer sehe ich, dass es Rod Task ist. Bevor ich mich melde, halte ich den Hörer auf Sicherheitsabstand zu meinem Ohr.
«Okay, kannst du mir erklären, wie wir dazu kommen, diesen Scheißhaufen von Aktien von diesem beschissenen japanischen Pissverein zu kaufen, der Scheißmatratzen macht, die kleine Kinder killen? Pisse im Pott, Katie. Hast du mich verstanden?»
Ich sage Rod, dass ich wünschte, ich könnte ihn hören, aber leider sei die Verbindung gestört und der Zug würde jetzt in einen Tunnel fahren. Lege auf. Während ich den zweiten Bailey’s mit Whisky mische, geht mir auf, dass der Grund dafür, dass ich Salinger als Klienten gekriegt habe, vielleicht der ist, dass jemand wusste, dass Toki Rubber kippen würde und die ganze Sache schleunigst auf mich abgeschoben hat. Naiv, Kate, total naiv.
Ein paar Sekunden später ruft Rod wieder an, damit er und ich ein Konferenzgespräch mit dem fürchterlichen Abelhammer in New York führen können. Während ich über eine Distanz von dreieinhalbtausend Meilen einen Klienten beruhige, kann ich beobachten, wie meine Worte in dampfenden Kräuseln heißer Luft aufsteigen. Mit einem behandschuhten Finger ritze ich ein Wort auf die vereiste Fensterscheibe: RICH.
«Sie hoffen wohl auf einen Lotteriegewinn, was, meine Liebe?», sagt der Zugsteward, der das Leergut einsammelt, und zeigt auf das Fenster.
«Was? Oh, ich habe nicht an Geld gedacht», sage ich. «Rich ist ein Mann. Rich ist mein Mann.»
Nicht vergessen: Neujahrsvorsätze
Verhältnis Arbeit – Leben austarieren, zwecks gesünderer, glücklicherer Existenz. Stunde früher aufstehen, um verfügbare Zeit zu maximieren. Mehr Zeit mit den Kindern verbringen. Lernen, mit den Kindern ich selbst zu sein. Richard nicht als selbstverständlich nehmen! Häufiger Gäste einladen – sonntags zum Lunch usw. Entspannendes Hobby?? Italienisch lernen. Annehmlichkeiten Londons nutzen: Theater, Tate Gallery etc. Damit aufhören, die Anti-Stressbehandlungen abzusagen. Geschenkeschublade einrichten wie ordentlich organisierte Mutter. Versuchen, wieder Größe 36 zu erreichen. Persönlichen Trainer? Freunde anrufen und hoffen, dass sie sich an mich erinnern. Ginseng, fetter Fisch, kein Weizen. Sex? Neue Geschirrspülmaschine. Helena Rubinsteins Autumn Bonfire.