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Arbeit

6 Uhr 37. «O lasset uns an Beete. O lasset uns an Beete. O lasset uns an Beete!» Ich werde gestreichelt, gerüttelt und, als das nichts nützt, von Emily mit Weihnachtsliedern wach gesungen. Sie steht an meiner Seite vom Bett, und sie will wissen, wo ihr Geschenk ist. «Du kannst ihre Liebe nicht kaufen», sagt meine Schwiegermutter, die dieses Problem offenbar niemals mit ausreichend Bargeld in der Tasche angegangen ist.

Einmal habe ich versucht, mit leeren Händen von einer Geschäftsreise zurückzukommen, aber auf dem Weg von Heathrow nach Hause hab ich die Nerven verloren und das Taxi in Hounslow halten lassen, wo ich in einem Toys’R’Us untergetaucht bin und meinem Jetlag noch ein toxisches Plastikflimmern hinzugefügt habe. Emilys globale Barbie-Sammlung ist so sensationell nuttig, dass es nur eine Frage der Zeit sein kann, bis sie zum Tracey-Emin-Ausstellungsstück wird. Flamenco-Barbie, AC-Milano-Barbie (Fußballtrikot, Hurenstiefelchen), Thai-Barbie – ein biegsames kleines Miststück, das sich hintenüber beugen und an den eigenen Zehen nuckeln kann – und die, die Richard «Klaus Barbie» nennt, eine Grauen gebietende Überblonde mit blinden blauen Augen in Reithosen und schwarzen Stiefeln.

«Mama», sagt Emily, ihr jüngstes Geschenk mit Kennerblick abschätzend, «diese Feen-Barbie könnte mit dem Zauberstab das kleine Jesuskind nicht mehr traurig machen.»

«Barbie kommt in der Geschichte vom Jesuskind nicht vor, Emily.»

Sie schießt ihren besten Hilary-Clinton-Blick auf mich ab, voller nobler Dies-tut-mir-mehr-weh-als-dir-Herablassung. «Doch nicht dieses Jesuskind», seufzt sie. «Ein anderes, Dummi.»

Wissen Sie, was man sich von einer Fünfjährigen nach einem Klientenbesuch erkaufen kann, ist vielleicht nicht Liebe oder Vergebung, zumindest aber eine Art Amnesie. Minutenlang, während das Verlangen, Vorwürfe zu machen, von dem Verlangen, in einem Anfall von Glückseligkeit ein Päckchen aufzureißen, niedergerungen wird. (Jede berufstätige Mutter, die behauptet, ihre Kinder nicht zu bestechen, kann ihrem Lebenslauf getrost das Attribut Lügnerin hinzufügen.) Emily hat jetzt ein Geschenk für jede treulose Episode ihrer Mutter, die mit ihrer Karriere Seitensprünge gemacht hat, ganz wie meine Mutter, die immer einen neuen Anhänger für ihr Armband bekommen hat, wenn mein Vater Seitensprünge mit anderen Frauen gemacht hat. Als Daddy uns verlassen hat, damals war ich dreizehn, konnte Mum die goldene Fessel an ihrem Handgelenk kaum noch hochkriegen.

Liege hier und denke, dass die Dinge viel schlimmer sein könnten, wenigstens ist mein Mann kein Alkoholiker und serienmäßiger Verführer, als Ben ins Schlafzimmer getappt kommt und ich meinen eigenen Augen nicht trauen mag.

«O Gott, Richard, was ist mit seinen Haaren passiert?»

Rich lugt über die Bettdecke, als ob er seinen Sohn, der im Januar ein Jahr alt wird, zum allerersten Mal wahrnimmt. «Ah. Paula ist mit ihm in diesem Laden an der Tankstelle gewesen. Meinte, es hängt ihm schon in die Augen.»

«Er sieht aus wie ein Hitlerjunge.»

«Na, das wächst ja wieder, ist doch klar. Und Paula fand, und ich natürlich auch, dass diese ganze Fauntleroy-Ringellöckchen-Geschichte … also, so sehen Kids heute nun mal nicht mehr aus, stimmt’s?»

«Er ist kein KID. Er ist mein Baby. Und ich will, dass er auch so aussieht. Wie ein Baby.»

In letzter Zeit ist mir aufgefallen, dass Rich eine Routinereaktion abspult, um mit meinen Wutanfällen klarzukommen. Es ist eine Art unterwürfiges Kopfeinziehen, eine Gleich-erfolgt-der-Atomangriff-Haltung, aber an diesem Morgen kann er ein leises Meutern nicht unterdrücken.

«Ich glaube, wir konnten so kurzfristig kein internationales Konferenzgespräch mit dem Frisör anberaumen.»

«Und was soll das jetzt heißen?»

«Das heißt, du musst lernen loszulassen, Kate.» Und mit einer geübten Handbewegung schnappt er sich das Baby, wischt ihm den eitrigen Rotz von der winzigen Nase und macht sich auf nach unten zum Frühstück.

 

7.15: Der Wechsel zwischen Arbeit und Zuhause erfordert manchmal ein derart abruptes Runterschalten, dass ich schwören könnte, manchmal die Zahnräder in meinem Hirn knirschen zu hören. Es dauert eine Weile, bis ich wieder auf der Wellenlänge der Kinder bin. Von guten Absichten überquellend, lege ich in Julie-Andrews-Manier los, ganz Tennisclubenthusiasmus und irre Singsang-Emphase.

«Und NUN, Kinder, was mögt ihr denn HEUTE zum FRÜH-stück essen?»

Emily und Ben dulden diese freundliche Fremde eine Weile, bis Ben es schlicht nicht mehr aushält und sich in seinem Hochstuhl aufstellt und mich in den Arm kneift, als ob er sich Klarheit darüber verschaffen will, dass ich es auch wirklich bin. Sie sind offensichtlich erleichtert, als im Laufe der nächsten zermürbenden halben Stunde die ätzende alte Schachtel wiederkehrt, die sie als Mama kennen. «Du isst Shreddies und damit fertig. Nein, wir haben keine Fruitibix. Ist mir ganz egal, was Daddy dir immer gegeben hat.»

Richard muss früh los. Eine Baustellenbegehung mit einem Kunden in Battersea. Ob ich die Übergabe mit Paula mache? Ja, aber nur, wenn ich Punkt 7 Uhr 45 weg kann.

 

7.57: Und da kommt sie mit den vielfältigen Entschuldigungen der wahrhaft Unwahrhaftigen. Der Verkehr, der Regen, der Stand der Sterne. Weißt ja, wie das ist, Kate. Das weiß ich tatsächlich. Ich gluckse und seufze mitfühlend in den dafür vorgesehenen Pausen, während mein Kindermädchen sich eine Tasse Kaffee macht und interesselos meine Zeitung durchblättert. Darauf hinzuweisen, dass es Paula in den 26 Monaten, in denen sie sich um unsere Kinder gekümmert hat, gelungen ist, jeden vierten Morgen zu spät zu kommen, würde einen Streit heraufbeschwören, und ein Streit würde die Luft verpesten, die meine Kinder atmen. Deshalb: nein, es gibt keinen Streit. Heute nicht. Drei Minuten, um die Bushaltestelle zu erreichen, die acht Minuten von hier entfernt ist.

 

8.27: Ich werde zu spät zur Arbeit kommen. Unanständig und ungeheuerlich zu spät. Die Busspur ist voll von Bussen. Vergiss den Bus. Mit lungenanstrengendem Sprint die City Road entlang und dann über den Finsbury Square, wo meine Absätze im Betreten-verboten-Gras versinken und ich mir das übliche laute Oi! von dem alten Knaben einfange, dessen Job es ist, einen dafür anzublöken, dass man übers Gras rennt.

«Oi, Miss! Könnsenich außenrum gehn wie alle annern?»

Angebrüllt zu werden ist peinlich, aber langsam macht es mir zu schaffen, dass ein kleiner, schändlicher Teil von mir es wirklich genießt, in der Öffentlichkeit Miss genannt zu werden. Mit fünfunddreißig Jahren, der Schwerkraft und zwei kleinen Kindern, die einen runterziehen, muss man die Komplimente nehmen, wie man sie kriegen kann. Außerdem, ich glaube, durch die Abkürzung spare ich zweieinhalb Minuten.

 

8.47: Edwin Morgan Forster, eine der ältesten und vornehmsten Institutionen der City, steht an der Ecke Broadgate und St. Antony’s Lane, eine Festung aus dem neunzehnten Jahrhundert mit einem großen vorspringenden Bug aus dem Glas des zwanzigsten Jahrhunderts, was aussieht, als sei ein Dampfer mit einem Warenhaus kollidiert und auf der anderen Seite wieder rausgekommen. Als ich mich dem Haupteingang nähere, drossele ich das Tempo und mache mich an die Überprüfung der Instrumente.

Schuhe, zusammenpassend, zwei? Checken.

Keine Cornflakes auf der Jacke? Checken.

Rock nicht in die Unterhose gesteckt? Checken.

BH unsichtbar? Checken.

Okay, ich gehe hinein. Schreite forsch durch das marmorne Atrium und lasse meinen Ausweis vor Gerald vom Sicherheitsdienst aufblitzen. Seit die Lobby von Edwin Morgan Forster, die mal so aussah wie eine Bank, vor 18 Monaten aufgemotzt worden ist, ähnelt sie einem von diesen Zoogehegen, die russische Konstruktivisten zur Unterbringung von Pinguinen entwerfen. Jede Oberfläche ist in einem augapfelerschütternden arktischen Weiß gehalten, mit Ausnahme der rückwärtigen Wand, die in dem Türkiston der Yardley-Geschenkseife angestrichen worden ist, für die meine Großtante Alice vor dreißig Jahren eine Vorliebe hatte, die jedoch vom Innenarchitekten als «ozeanische Farbe der Vision und Zukünftigkeit» beschrieben wurde. Für diese in Form gemeißelte Weisheit hat eine Firma, die dafür bezahlt wird, das Geld anderer Leute nutzbringend anzulegen, einen unbestätigten Betrag von siebenhundertundfünfzigtausend Dollar rausgerückt.

Ein schier unglaubliches Gebäude. Siebzehn Stockwerke und vier Fahrstühle. Geteilt durch vierhundertunddreißig Angestellte, kalkuliere sechs knopfdrückende Klotzköpfe, zwei Fieslinge, die die Tür nicht aufhalten, und Rosa Klebb mit dem Sandwichwagen ein – und das Ergebnis ist entweder eine Wartezeit von vier Minuten oder die Treppe. Ich nehme die Treppe.

Komme mit fuchsiarotem Gesicht im dreizehnten Stock an und stoße umgehend auf Robin Cooper-Clark, unseren nadelgestreiften Director of Investment. Die Kollision der Odeurs ist ebenso plötzlich wie überwältigend. Ich: Eau de Schweiß. Er: Floris Elite mit Untertönen von Winchester und Walnussarmaturenbrett.

Robin ist außergewöhnlich groß, und es ist eine seiner Gaben, dass er es schafft, auf einen herunterzuschauen, ohne tatsächlich auf einen herabzuschauen – man fühlt sich in keiner Weise klein. Es hat mich nicht überrascht, als ich einem Nachruf entnommen habe, dass sein Vater Bischof bei einem Militärorden war. Robin hat etwas sowohl Heiliges als auch Unverwüstliches an sich: Es hat Zeiten gegeben bei EMF, in denen ich gedacht habe, ohne seine Freundlichkeit und seinen leicht spöttischen Respekt müsste ich sterben.

«Bemerkenswerte Farbe, Kate, Ski laufen gewesen?» Robins Mundwinkel zucken nach oben und sind auf dem Weg zu einem Lächeln, als nach einem Blick Richtung Uhr über der Empfangstheke eine buschige graue Augenbraue ungläubig hochschnellt.

Kann ich es riskieren, so zu tun, als sei ich seit sieben da gewesen und nur mal eben auf einen Cappuccino gegangen? Ein Blick quer durchs Büro verrät mir, dass mein Assistent Guy bereits anspielungsvoll grinsend am Wasserspender steht. Mist. Guy muss mich im gleichen Augenblick entdeckt haben, denn über die gesenkten Köpfe der Trader mit ihren unters Kinn geklemmten Telefonen, über die Sekretärinnen und die Europa-Abteilung und das Global Equities Team in seinen lila Lewin-Hemden hinweg schallt wie die Stimme des Allmächtigen jene meines Assistenten: «Ich hab Ihnen die Unterlagen von Bengt Bergman auf Ihren Schreibtisch gelegt, Katharine», verkündet er. «Tut mir Leid, dass Sie wieder Probleme hatten reinzukommen.»

Man bemerke, wie das Wort «wieder» eingesetzt wird, der Tropfen Gift an der Spitze des Dolches. Kleiner Schleimer. Als wir Guy Chase vor drei Jahren die European Business School finanziert haben, war er ein Schlauberger vom Balliol College in einem vierteiligen Anzug mit einem Defizit an persönlicher Hygiene. Als er fertig war, trug er Armani (brikettfarbenen) und den Gesichtsausdruck von jemandem mit einem Magister in Blindem Ehrgeiz. Ich glaube, ich kann zu Recht behaupten, dass Guy der einzige Mann bei Edwin Morgan Forster ist, dem es gefällt, dass ich Kinder habe. Windpocken, Sommerferien, Weihnachtskonzerte, alles Gelegenheiten für Guy, in meiner Abwesenheit zu brillieren. Ich kann sehen, dass Robin Cooper-Clark mich jetzt erwartungsvoll anschaut. Nachdenken, Kate, nachdenken.

Eine Ausrede. Eine Ausrede, mit der man in der City durchkommt. Eine Ausrede aus der Kategorie, die meine Freundin, die Anwältin Debra, eine Männerentschuldigung nennt. Gestandene Manager, die schlechterdings entsetzt wären über Geschichten von einem nächtens erbrechenden Baby oder einem arbeitsunwilligen Kindermädchen (rätselhafterweise wird die Kinderbetreuung, obwohl sie von beiden Elternteilen bezahlt wird, immer dem Verantwortungsbereich der Frau zugerechnet), akzeptieren willig alles, was mit Verbrennungsmotoren zu tun hat.

«Das Auto ist liegen geblieben/die Scheibe ist eingeschlagen worden.»

«Sie hätten mal sehen sollen, was beim – bitte Schauplatz des Grauens einfügen – in der – bitte Straße einfügen – los war.»

Einer dieser Sätze genügt vollkommen. Die Diebstahlssicherung, der Autoalarm, beide sind jüngst eine wertvolle Ergänzung des männlichen Entschuldigungsrepertoires, und obwohl sie weibliche Züge zeigen (haarsträubend unberechenbar, schrill, lautstark), sind sie an eine Männer-Entschuldigung leicht anzuhängen und können zur Reparatur in die Werkstatt gebracht werden.

«Sie hätten mal das Chaos an der Dalston Junction sehen sollen», sage ich zu Robin, indem ich meine Gesichtszüge in eine Maske urbaner Resignation zwinge und mit ausschweifender Geste das ganze Ausmaß des automobilen Massakers umreiße. «Ein Irrer in einem weißen Lieferwagen. Ampeln waren nicht synchron geschaltet. Unglaublich. Da muss ich mindestens, na, zwanzig Minuten festgesteckt haben.»

Er nickt: «Autofahren in London versöhnt einen beinahe mit den öffentlichen Verkehrsmitteln.»

Für einen Herzschlag tritt eine Pause ein. Eine Pause, in der ich versuche, mich nach der Gesundheit von Jill Cooper-Clark zu erkundigen, bei der im Sommer Brustkrebs diagnostiziert worden ist. Aber Robin ist einer dieser Engländer, die von Geburt an mit einem Frühwarnsystem ausgestattet worden sind, das ihnen dabei hilft, alle Fragen persönlicher Natur zu orten und zu umgehen. Daher sagt er, als der Name seiner Frau mir schon auf den Lippen liegt: «Ich bitte Christine, für uns einen Termin zum Mittagessen zu vereinbaren, Kate. Am Old Bailey ist so ein Keller umgebaut worden, in dem zweifelsohne saftig gegrillter Zeuge serviert wird. Klingt doch ganz amüsant, finden Sie nicht auch?»

«Ja, ich wollte gerade fragen, wie …»

«Ausgezeichnet. Wir reden später.»

 

Ich liebe meinen Job. Es hört sich nicht immer so an, aber das tue ich. Ich liebe den Adrenalinstoß, wenn die Aktien, auf die ich spekuliert habe, in die Höhe schnellen und Profite abwerfen. Es gibt mir einen Kick, dass ich eine der Hand voll Frauen in der Club Lounge des Flughafens bin, und wenn ich zurück komme, liebe ich es, Freunden die Horrorstorys von der Reise zu erzählen. Ich liebe die Hotels mit dem Zimmerservice, der erscheint wie ein Flaschengeist, und die unendlichen Weiten aus weißer Baumwolle, die mir den Schlaf geben, nach dem ich glühend verlange. (Als ich jünger war, wollte ich mit anderen Leuten ins Bett gehen, jetzt, wo ich zwei Kinder habe, ist mein inbrünstigster Wunsch, mit mir selbst für zwölf Stunden am Stück ins Bett zu gehen.) Am meisten liebe ich die Arbeit: die synapsenüberschwemmende Befriedigung darüber, gut zu sein, die Kontrolle zu haben, während der Rest des Lebens scheinbar im Chaos versinkt. Ich liebe die Tatsache, dass Zahlen das tun, was ich sage, und nie warum fragen.

 

9.03: Schalte meinen Computer ein und warte auf die Verbindung. Heute Morgen ist das Netzwerk so langsam, dass es schneller wäre, nach Hongkong zu fliegen und den verdammten Hang Seng persönlich abzuholen. Tippe mein Passwort ein – Ben Pampers – und gehe sofort bei Bloomberg rein, um nachzusehen, was die Märkte über Nacht so getrieben haben. Der Nikkei ist stabil, Brasiliens Bovespa tanzt seinen üblichen verrückten Samba, während der Ausdruck des Dow Jones aussieht wie der von einem Intensivpatienten, bei dem ein Wiederbelebungsversuch sinnlos wäre. Baby, it’s cold outside, und das liegt nicht allein an dem Nebel, der sich an die Bürohochhäuser vor meinem Fenster schmiegt.

Als Nächstes überprüfe ich die Währungen auf dramatische Bewegungen, dann gebe ich TOP ein und rufe die aktuellen Meldungen aller großen Finanzfirmen ab. Die Story des Tages handelt von Gayle Fender, einer Aktienhändlerin, oder besser: einer Ex-. Sie verklagt ihre Firma, Lawrence Herbert, auf Schadensersatz wegen sexueller Diskriminierung, weil männliche Kollegen einen weit besseren Bonus für weniger gute Ergebnisse erhalten haben als sie. Die Schlagzeile lautet: Eisjungfer zeigt Männern kalte Schulter. In den Medien sind die Frauen der City alle entweder Elisabeth die Erste oder Nachtclubtänzerinnen ohne festes Engagement. Die alte Geschichte von Jungfrau und Hure im Wall Street Journal verpackt.

Persönlich hat mich die Vorstellung, zur Eisjungfer zu werden, schon immer angesprochen, vielleicht kann man das Kostüm kaufen? Mit weißem Pelzbesatz, Stalaktitenabsätzen und passendem Eispickel. Wie dem auch sei, Gayle Fenders Geschichte wird so enden, wie alle diese Geschichten enden – mit einem «Kein Kommentar» wird sie den Gerichtssaal gesenkten Blickes durch einen Nebenausgang verlassen. Die City erstickt Abtrünnige: Wir haben so unsere Methoden, damit die Leute nicht reden. Es hat sich als äußerst effektiv erwiesen, ihnen mit Fünfzigpfundnoten das Maul zu stopfen.

Klicke die E-Mails an. Neunundvierzig Nachrichten in meiner Inbox seit meinem Abflug am Donnerstag. Überfliege sie und sortiere erst mal den Müll aus.

Probeabo einer neuen Investmentzeitschrift? Müll.

Sie sind zu einer Konferenz über die Globalisierung an den Genfer See eingeladen, um Ihr leibliches Wohl kümmert sich der weltberühmte Küchenchef Jean-Louis … Müll.

Die Abteilung für Personalentwicklung will wissen, ob ich in dem neuen EMF-Firmenvideo auftreten werde. Nur wenn ich meinen eigenen Trailer kriege, in dem John Cussack an den Bettpfosten gefesselt ist.

Möchte ich eine Karte für den armen Schlucker aus der Finanzbuchhaltung unterschreiben, der seinen Job losgeworden ist? (Jeff Brooks geht freiwillig, sagen sie, aber Unfreiwillige werden ihm bald folgen.) Ja.

Die oberste Nachricht auf meiner Inbox ist von Celia Harmsworth, Leiterin der Abteilung für Personalentwicklung. Da steht, dass mein Boss Rod Task verhindert ist, heute in der Mittagspause die Begrüßungsrede für die EMF-Trainees zu halten. Könnte ich bitte einspringen? «Wir würden uns sehr freuen, Sie ab 13 Uhr im Konferenzzimmer im 7. Stock zu sehen!»

Nein, nein, nein. Ich habe bis Freitag neun Fondsberichte zu schreiben. Außerdem muss ich um 14 Uhr 30 zu einem sehr wichtigen Krippenspiel.

Da nun die beruflichen Memos aus dem Weg sind, kann ich mich den echten E-Mails widmen, denen, die wirklich wichtig sind: Nachrichten von Freunden, Witzen und Geschichten, die um die Welt herum weitergereicht werden wie Bonbons. Wenn es wirklich wahr ist, was behauptet wird, dass nämlich meine Generation die ist, die nach Zeit hungert, dann sind E-Mails unser kleines Laster, unser Trostfutter. Es ist nicht leicht zu erklären, wie viel Unterstützung ich von meinen regelmäßigen Mailpartnern bekomme. Da ist Debra, meine beste Freundin vom College, jetzt zweifache Mutter und Anwältin bei Addison Pope, gleich gegenüber von der Bank von England und etwa zehn Minuten zu Fuß von Edwin Morgan Forster. Nicht, dass ich da je hinkäme, um sie zu besuchen. Sie könnte ebenso gut auf dem Pluto arbeiten. Und dann ist da Candy, meine Fondsmanagergenossin mit dem Schandmaul, Worldwide Web Whizz und stolzer Exportartikel aus Rockaway, New Jersey: Candace Marlene Stratton. Meine Waffenschwester und eine Frau, die stets über die jüngsten Trends auf dem internationalen Dessous-Markt orientiert ist. Meine Lieblingsfigur in der Literatur ist Rosalind in «Wie es euch gefällt», Candys Lieblingsfigur ist Elmore Leonard, der ein T-Shirt trägt, auf dem steht: «You’ve Obviously Mistaken Me For Someone Who Gives A Shit.»

Candy sitzt gleich da drüben, neben der Säule, zehn Meter von mir entfernt, und dennoch wechseln wir an einem normalen Arbeitstag kaum mehr als ein paar Worte laut. Aber auf dem Monitor gehen wir in unseren jeweiligen Köpfen permanent ein und aus, so wie es früher unter guten Nachbarn üblich war.

 

E-Mail an Kate Reddy, EMF
Von: Candy Stratton
K8,
Frage: Warum wiegen verheiratete Frauen mehr als Single-Frauen?
Antwort: Single-Frauen kommen nach Hause, sehen, was im Kühlschrank ist, und gehen ins Bett. Verheiratete Frauen kommen nach Hause, sehen, was im Bett ist, und gehen zum Kühlschrank.
Wie geht’s? Ich: Blasenentzündung. Zu viel SX xxx

 

An: Kate Reddy, EMF
Von: Debra Richardson, Addison Pope
Morgen,
Wie war Schwdn & NYC? Du Arme. Felix ist vom Tisch gefallen und hat sich den Arm an vier Stellen gebrochen (hätte nicht gedacht, dass es vier Stellen zum Brechen gibt). Albtraum. Sechs Stunden in der Ambulanz. Das gute alte Gesundheitssystem. Ruby hat gestern kundgetan, dass sie ihr Kindermädchen liebt, ihren Daddy, ihr Kaninchen, ihren Bruder, alle Teletubbys und ihre Mama. In dieser Reihenfolge. Schön zu wissen, dass es sich alles lohnt, nicht?
Denk dran: LUNCH am Freitag. Sag, dass du nicht absagen musst.
Deb xxx

 

An: Candy Stratton
Von: Kate Reddy
Wieder mal ein paar entspannende Tage verbracht. Stockholm, New York, Hackney. Bis in die frühen Morgenstunden wach gewesen und Mince Pies für Emilys Schulaufführung gefälscht. Frage nicht.
Pol Pot hat Ben einen furchtbaren Nazi-Haarschnitt verpasst, und ich wage nicht, mich zu beschweren, weil ich weg war. Und weg sein heißt, dass man alle mütterliche Autorität abtritt. Außerdem muss ich Rod «Task» Master auch noch daran erinnern, dass ich heute wegen der Aufführung früher gehe.
Irgendwelche Vorschläge, wie ich das anstelle, ohne tatsächlich die Worte
a) Kind
b) gehen
auszusprechen?
Deine K8 xxx
PS. Was ist SX? Vage Erinnerung.

 

E-Mail an Kate Reddy
Von: Candy Stratton
Schatz, hör auf mit dem häusl. Göttin Scheiß. Schau andern Müttern in die Augen & sage: Ich hab zu tun & und ich bin stolz drauf oder du bist tot. Sag rod task, du hast ernsthafte Menstruationsschwierigkeiten. Ozzies haben bei Frauensachen die Hosen noch voller als Briten.
Bis später. xxx

 

Ich lasse den Blick durchs Büro schweifen und sehe Candy einen Schluck aus einer Dose nehmen, mit der sie mir fröhlich zuprostet. Bis vor kurzem beschränkte sich Candys Diät auf Cola, sowohl Light als auch die andere, und dabei blieb sie bleistiftdünn mit auffallenden Brüsten, was ihr viele Liebhaber einbrachte, aber nicht viel Liebe. Candy ist ein Jahr älter als ich und mit 36 eine eingefleischte Single, und manchmal beneide ich sie darum, dass sie die phantastischsten Sachen unternehmen kann, wie etwa nach der Arbeit noch was trinken zu gehen oder am Wochenende unbegleitet von einer wissbegierigen Fünfjährigen das Badezimmer aufzusuchen, oder nach einer durchwachten Nacht voll Sex hohläugig zur Arbeit zu kommen, statt nach einer mit dem kreischenden Produkt des Sex durchwachten Nacht hohläugig zur Arbeit zu kommen. Vor ein paar Jahren hat sich Candy mit einem Steuerberater von Andersen verlobt. Leider hat sie mit dem Abschluss für einen deutschen Rentenfonds so viel zu tun gehabt, dass sie ihn dreimal nacheinander versetzen musste. Beim dritten Mal wartete Bill in einem Restaurant in Smithfield auf sie und kam mit einer Krankenschwester am Nebentisch ins Gespräch. Sie haben im August geheiratet.

Candy sagt, sie wird sich um ihre Fortpflanzungsfähigkeit dennoch so lange keine Sorgen machen, bis Cartier anfängt, biologische Uhren herzustellen.

 

An: Debra Richardson, Addison Pope
Von: Kate Reddy, EMF
Liebe D, war heute Morgen so spät, dass ich jetzt nicht viel schreiben kann. Auf keinen Fall sage ich Lunch ab. Warum ist ehrliche Frauen-Entschuldigung immer weniger akzeptabel als falsche Männer-Entschuldigung?, fragt sich K8.

 

An: Kate Reddy
Von: Debra Richardson
Weil sie nicht daran erinnert werden wollen, dass du ein Leben hast, Dummerchen.
Bis Freitag. D xxx

 

Ich beschloss, Rod Task nicht persönlich auf das Frühergehen wegen Emilys Krippenspiel anzusprechen. Besser, es beiläufig als PS an eine geschäftliche E-Mail anzuhängen. Lass es mehr wie eine Tatsache des Lebens aussehen als wie einen Gefallen. Eben kommt Antwort.

 

An: Kate Reddy
Von: RodTask
Himmel, Katie, kommt mir vor wie gestern, dass du deine eigene Krippe hattest.
Klar, nimm dir die Zeit, die du brauchst, aber wir sollten gegen 17.30 reden. Und ich brauche dich, damit du nach Stockholm fährst und nochmal Svens Hand hältst. Passt Freitag, meine Schöne?
Prost, Rod.

 

Nein, Freitag passt nicht. Ich kann nicht fassen, dass er von mir erwartet, vor Weihnachten noch eine Geschäftsreise zu machen. Das bedeutet, dass ich die Weihnachtsfeier in der Firma verpasse, wieder das Lunch mit Debra absage und die Einkaufszeit einbüße, die ich fest eingeplant hatte.

Unser Büro ist ein Großraumbüro, aber der Marketing-Chef hat einen der beiden Räume mit Wänden, der andere gehört Robin Cooper-Clark. Als ich bei Rod einmarschiere, um meinen Protest kundzutun, ist das Büro leer, aber ich bleibe trotzdem ein paar Augenblicke, wegen der Aussicht durch das vom Boden zur Decke reichende Eckfenster. Direkt darunter liegt die Eislaufbahn von Broadgate, ein Teller aus Eis, der mitten zwischen die schwankenden Türme aus Beton und Stahl gestellt worden ist. Zu dieser Stunde ist es leer dort, bis auf einen einsamen Schlittschuhläufer, einen großen, dunklen Typen in einem grünen Sweatshirt, der etwas ins Eis ritzt, das ich zunächst für Achten halte. Als er aber eine lange Gerade abwärts fährt, wird mir klar, dass es ein großes Dollarzeichen ist. In dem Nebel, der sich langsam lichtet, sieht die City aus wie nach dem Blitzangriff der Deutschen, als der Rauch der Feuer abzog und auf magische Weise die Kuppel von St. Paul’s wieder sichtbar wurde. Wenn man in die andere Richtung schaut, sieht man den Turm der Canary Wharf zwinkern wie einen geilen Zyklopen.

Als ich aus Rods Zimmer komme, pralle ich mit Celia Harmsworth zusammen, doch keine der Parteien trägt Verletzungen davon, denn ich federe einfach an Celias unglaublicher Büste ab. Wenn englische Frauen einer bestimmten Schicht das Alter von fünfzig Jahren erreichen, haben sie keine Brüste mehr, sie haben einen Busen oder, abhängig davon, wie begütert sie sind oder wie antik ihr Stammbaum ist, eine Büste. Brüste treten paarweise auf, aber eine Büste ist immer Singular. Die Büste verbietet die Möglichkeit eines Dekolletés oder irgendeiner anderen Koketterie. Während Brüste rufen, Komm, spiel mit uns!, sagt die Büste, wie der Gummiring um einen Autoscooter: Weg da! Die Queen hat eine Büste – und Celia Harmsworth desgleichen.

«Katharine Reddy, immer in Eile!», schilt sie. Als Leiterin der Abteilung für Personalentwicklung ist Celia Harmsworth nichtsdestotrotz mühelos die am wenigsten menschliche Person im ganzen Haus, ohne Kinder, ohne Charme und kalt wie Chablis; sie hat eine Art an sich, die einem sofort vermittelt, dass man sowohl nutzlos als auch ausgenutzt ist. Als ich nach Emilys Geburt wieder zur Arbeit kam, stellte ich fest, dass Chris Bunce, Hedge-Fondsmanager und EMFs Spitzen-Großverdiener der letzten beiden Jahre, einen Schuss Wodka in die abgepumpte Milch gegeben hatte, die ich im Bürokühlschrank neben den Fahrstühlen deponiert hatte. Ich sprach Celia an und fragte sie von Frau zu Frau, welche Maßnahmen sie gegen einen solchen Bastard ergreifen würde, der, als ich ihn in Davy’s Bar zur Rede stellte, antwortete, dass es doch «nur ’n kleiner Jux» sei, Alkohol in die Nahrung für ein zwölf Wochen altes Baby zu geben.

Ich erinnere mich noch immer an den Anflug von Ekel auf Celias Gesicht, und der galt nicht dem Arschloch Bunce. «Setzen Sie Ihre weiblichen Listen ein, meine Liebe», hat sie gesagt.

Celia sagt mir, sie sei entzückt, dass ich in der Mittagspause zu den Trainees sprechen könne. «Rod sagt, Sie beherrschen diesen Vortrag im Schlaf. Ein paar Dias und ein paar Sandwiches, sie kennen ja den Ablauf, Kate. Und vergessen Sie nicht die Säulen unserer Firmenkultur, nein?»

Ich überschlage das Ganze schnell. Wenn die Einführung inklusive Erfrischungen, sagen wir mal, eine Stunde dauert, habe ich noch dreißig Minuten, um ein Taxi zu finden, quer durch die City zu Emilys Schule zu fahren und rechtzeitig zur Aufführung da zu sein. Das sollte reichen. Ich glaube, ich schaffe es, solange sie mir nicht mit blöden Fragen kommen.

 

13.01: «Guten Tag, meine Damen und Herren, mein Name ist Kate Reddy und ich heiße Sie im 13. Stock herzlich willkommen. Für manche ist dreizehn eine Unglückszahl, nicht aber für Edwin Morgan Forster. Unsere Firma rangiert unter den ersten zehn Investmentfirmen Englands und unter den Top fünfzig weltweit, was das Volumen der Vermögenswerte betrifft. Wir sind fünf Jahre in Folge zum Money Manager des Jahres gewählt worden. Letztes Jahr haben wir einen Reingewinn von fünfhundert Millionen Pfund erwirtschaftet, was die Erklärung dafür liefert, dass bei diesen fabelhaften Thunfischsandwiches, die sie hier heute vor sich haben, absolut keine Kosten gescheut worden sind.»

Rod hat Recht. Ich kann diese Sache im Schlaf, ehrlich gesagt, ich mache sie größtenteils im Schlaf, denn jetzt setzt der Jetlag ein und meine Schädeldecke zieht sich zusammen und meine Beine fühlen sich an, als seien sie mit kaltem Wasser gefüllt.

«Sie sind, da bin ich sicher, bereits vertraut mit der Bezeichnung Fondsmanager. Ganz einfach ausgedrückt ist ein Fondsmanager ein Glücksspieler auf hohem Niveau. Mein Job ist es, Firmen weltweit zu studieren, einzuschätzen, wie sich die Märkte für ihre Produkte entwickeln, herauszufinden, welche Erfolge ihre Jockeys in ihren bisherigen sportlichen Laufbahnen vorzuweisen haben, einen ordentlichen Batzen Geld auf den Favoriten zu setzen und dann zum Teufel zu beten, dass er nicht beim ersten Hindernis vom Pferd kippt.»

Ringsherum im Raum wird gelacht, das mehr-als-dankbare Lachen von Einpaarundzwanzigjährigen, die hin- und hergerissen sind zwischen Arroganz, weil sie einen von sechs Traineeplätzen bei EMF ergattert haben, und Panik bis hin zum Einnässen, weil ihnen jemand auf die Schliche kommen könnte.

«Wenn die Pferde stürzen, auf die ich gesetzt habe, muss ich entscheiden, ob wir sie sofort erschießen oder ob es sich lohnt, das gebrochene Bein wieder gesund zu pflegen. Denken Sie daran, meine Damen und Herren, Mitleid kann kostspielig sein, ist aber nicht in jedem Fall Geldverschwendung.»

Vor zwölf Jahren war ich selber Trainee. Ich habe in einem Raum wie diesem gesessen, meine Beine abwechselnd übereinander geschlagen und gerade nebeneinander gestellt und gegrübelt, ob es wohl schlimmer war, auszusehen wie die Herzogin von Kent oder wie Sharon Stone. Ich war die einzige Frau in meinem Jahrgang und umgeben von Jungs, großen Jungsbestien, die sich in ihrem Nadelstreifenfell ganz zu Hause fühlten. Anders als ich: In dem schwarzen Crepe-Kostüm von Whistles, für das ich meine letzten vierzig Pfund hingeblättert hatte, sah ich aus wie die Schulinspektorin von Wolverhampton.

In diesem Jahr ist das Häuflein Novizen ziemlich typisch. Fünf Jungs, zwei Mädchen. Die Jungs flegeln immer irgendwo hinten, die Mädchen sitzen aufrecht in der ersten Reihe, mit gezücktem Stift, um Notizen zu machen, die sie niemals brauchen werden. Nach einer Weile kennt man die Typen. Sehen wir uns doch mal den Herrn Anarchisten da drüben an mit den Klettbandkoteletten und dem mürrischen Ausdruck eines Liam Gallagher. Heute im Anzug, aber mental trägt er noch immer Lederjacke. Dave war wahrscheinlich als Student im College eine Art politischer Aktivist. Er hat Wirtschaftswissenschaften studiert, damit er für den Kampf der Arbeiter gerüstet ist, und alle auf seinem Flur im Wohnheim moralisch unter Druck gesetzt, diesen ungenießbaren Kaffee aus Ruanda zu kaufen.

Im Moment sitzt er da und redet sich ein, dass er diese City-Scheiße nur zwei Jahre mitmachen wird, maximal fünf. Dann wird er ernsthaft Kohle gescheffelt haben und seinen humanitären Kreuzzug starten. Er tut mir beinahe Leid. Nach sieben Jahren lebt er nämlich in irgendeinem modernistischen Mausoleum in Notting Hill und finanziert das Schulgeld für zwei Kinder und eine Frau mit einer ruinösen Sucht nach Jimmy Choo. Dave wird vor dem miesen Fernsehprogramm wegdämmern wie der Rest von uns, mit einem unaufgeschlagenen Exemplar des New Statesman im Schoß.

Die drei anderen Kerle sind begüterte Typen mit rosigen Kiemen und Privatschul-Scheiteln. Der eine, Julian mit Namen, hat einen hyperaktiven Adamsapfel. Wie üblich sind die Mädchen ganz unverkennbar Frauen, während die Männer kaum mehr als Jungs sind. Die beiden weiblichen EMF-Trainees teilen das gesamte Spektrum des Frauseins unter sich auf, die eine ist ein stämmiges Mädchen vom Land mit einem milden Pfannkuchengesicht und einem Samthaarband, das die Tiara für Leute ihrer Klasse ist. Clarissa Sonstwer. Ein Blick auf die Liste glasierter Lebensläufe und ich sehe, dass Clarissa einen Abschluss in «Modern Studies» von der Universität Peterborough hat. Reinstes Hinterzimmermaterial. Muss die Nichte von einem Abteilungsleiter sein; mit so einem Abschluss bekommt man bei EMF keinen Fuß in die Tür, es sei denn, man ist eine Blutsverwandte des Geldes.

Das Mädchen neben ihr sieht interessanter aus. Geboren und aufgewachsen in Sri Lanka, aber ausgebildet im Cheltenham Ladies College und der London School of Economics, ist sie eine von diesen Enkelinnen des Empires, die am Ende so viel englischer sind als die Engländer – der Liebreiz ihrer Höflichkeit, ihre himmlisch intakte Grammatik. Mit ihren bemerkenswerten blattförmigen Augen, die mit festem Blick durch die Schildpattbrille sehen, und einer katzenartigen Körperhaltung ist Momo Gumeratne so hübsch, dass sie die Square Mile nicht ohne bewaffnete Leibwache betreten sollte.

Die Trainees erwidern mein wohlgefälliges Starren. Was sie wohl sehen? Blond, ordentliche Beine, gut genug in Form, um nicht als Mutter identifiziert zu werden. Sie würden auch nicht erraten, dass ich aus dem Norden komme (der Dialekt ist glatt gebügelt worden, als ich zum Studieren in den Süden gekommen bin). Vielleicht haben sie sogar ein wenig Angst vor mir. Neulich hat Rich gesagt, dass ich ihm manchmal Angst mache.

«Sicherlich haben alle hier schon mal den Hinweis gesehen, der in winzig kleinen Buchstaben, wie denen auf der untersten Zeile der Sehtesttafel beim Optiker, ganz unten auf Ihren Auszügen von der Bank oder Bausparkasse steht. ‹Denken Sie daran, dass der Wert Ihrer Investition sowohl sinken als auch steigen kann.› Ja? Also, genau so funktioniert das bei mir. Wenn ich die Falschen herauspicke, sinkt der Wert, deshalb tun wir bei EMF unser Bestes, damit das nicht geschieht, und meistens gelingt uns das auch. Aber wenn ich für drei Millionen Dollar Luftfahrtgesellschaftsaktien verkaufe, wie heute Morgen, finde ich es recht hilfreich, im Hinterkopf zu behalten, dass durch unsere Transaktion eine kleine alte Dame in Dumbarton plötzlich ohne Altersversorgung dastehen kann. Aber keine Sorge, Julian, Trainees dürfen nur im beschränkten Umfang Transaktionen vornehmen. Wir geben Ihnen 50 Riesen für den Anfang, nur zum Üben.»

Das Rot von Julians Wangen erhitzt sich von geräucherter Forelle bis zu Erdbeere, und die Hand des stämmigen Mädchens schießt nach oben: «Könnten Sie mir sagen, warum Sie diese Aktien heute verkauft haben?»

«Das ist eine sehr gute Frage, Clarissa. Also, wir hatten für vier Millionen Dollar gekauft, und der Preis war in die Höhe gegangen und stieg weiter, aber wir hatten schon viel Geld verdient, und ich wusste aus den Handelszeitungen, dass die Luftfahrtgesellschaften schlechten Zeiten entgegengehen. Es ist der Job des Fondsmanagers, das Geld des Klienten herauszuholen, bevor die Aktie nachgibt. Immerzu versuche ich die guten Dinge, die geschehen könnten, gegen den Kurs eines allmächtigen, total genervten Gottes auszubalancieren, der möglicherweise gleich um die Ecke lauert.»

Nach meinen Erfahrungen hat ein Edwin-Morgan-Forster-Trainee die härteste Prüfung noch nicht bestanden, wenn er die Grundlagen des Investmentgeschäfts begriffen oder einen Parkausweis für den Firmenparkplatz ergattert hat. Nein, es zeigt sich erst, aus welchem Holz jemand geschnitzt ist, wenn er das Mission Statement der Firma das erste Mal hört und dabei keine Miene verzieht. Intern ist es als «die Fünf Säulen der Weisheit» bekannt, aber das Mission Statement ist Unternehmerhokuspokus allererster Güte. (Welche Verwirrung des Intellekts hat stahlharte Kapitalisten des 20. Jahrhunderts dazu gebracht, Slogans nachzuplappern, die vor ihnen von maoistischen Bauern skandiert worden sind, die nicht einmal ein eigenes Fahrrad besitzen durften?)

«Und unsere fünf Säulen der Firmenkultur sind:

1) Zusammenhalt!
2) Ehrlichkeit untereinander!
3) Beste Resultate!
4) Klientenbetreuung!
5) Der Wille zum Erfolg!

Ich sehe, wie Dave mannhaft versucht, ein verächtliches Grinsen zu unterdrücken. Guter Junge. Ein Blick auf die Uhr. Mist. Ich muss los. «Gut, wenn es keine Fragen mehr gibt …»

Verdammt. Dieses andere Mädchen hat jetzt die Hand oben. Wenigstens kann man sich darauf verlassen, dass Männer keine Fragen stellen. Sogar wenn sie nichts wissen, so wie dieser Haufen hier, aber schon gar nicht auf meinem Level, denn wenn man da eine Frage stellt, gibt man zu, dass es immer noch Dinge auf der Welt gibt, die den eigenen Horizont übersteigen.

«Es tut mir furchtbar Leid», fängt die junge Frau aus Sri Lanka an, als ob sie sich für eine Verfehlung entschuldigen möchte, die sie noch zu begehen hat. «Ich weiß, EMF hat … also, als Frau, Ms. Reddy, könnten Sie mir ehrlich sagen, wie Sie es finden, in diesem Job zu arbeiten?»

«Nun gut, Ms.?»

«Momo Gumeratne.»

«Gut, Momo, es gibt hier sechzig Fondsmanager, und nur drei von uns sind Frauen. EMF hat ein Gleichstellungsprinzip, und wenn weiterhin Trainees wie Sie zu uns durchdringen, könnten wir es tatsächlich irgendwann in die Praxis umsetzen.

Außerdem meine ich der Presse entnommen zu haben, dass die Japaner an einem Apparat arbeiten, der Babys das Heranwachsen außerhalb des Mutterleibes ermöglichen wird. Bis Sie so weit sind, Kinder haben zu wollen, Ms. Gumeratne, müsste dieses Projekt erfolgreich abgeschlossen sein, sodass wir dann das erste Mittagspausenbaby begrüßen können. Glauben Sie mir, das würde alle bei Edwin Morgan Forster sehr glücklich machen.»

Ich nehme an, damit ist die Fragestunde beendet, aber Momo ist nicht so zart besaitet, wie ich dachte. Ihre kaffeefarbene Haut ist von Schamesröte überzogen, als sie wieder die Hand hebt. Und als ich mich umdrehe und meine Tasche nehme, um damit deutlich zu machen, dass die Sitzung beendet ist, fängt sie an zu sprechen:

«Es tut mir wirklich Leid, Ms Reddy. Aber darf ich Sie fragen, ob Sie selber Kinder haben?» Nein, darfst du nicht. «Ja, letztes Mal, als ich nachgesehen habe, waren es zwei. Und darf ich vorschlagen, Ms Gumeratne, dass Sie Ihre Sätze nicht mit ‹es tut mir Leid› anfangen? Es gibt eine Menge Formulierungen, die Sie in diesem Hause nützlich finden werden, aber ‹tut mir Leid› ist nicht darunter. Gut, wenn das jetzt alles war, dann muss ich wirklich gehen, es sind Märkte zu beobachten – Gewinner herauszupicken, und es ist Kapital zu managen! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren, und bitte kommen Sie doch auf mich zu, wenn sie mich im Hause sehen, dann frage ich Sie die Fünf Säulen der Weisheit ab. Wenn Sie sehr viel Glück haben, mache ich Sie mit meiner ganz persönlichen sechsten Säule vertraut.»

Sie sehen mich dümmlich an.

«Die Säule Nummer sechs: Wenn Geld auf Ihre Berührung reagiert, dann gibt es keine Grenzen für das, was eine Frau in der City erreichen kann. Geld kennt Ihr Geschlecht nicht.»

 

14.17: Am Taxistand vor Warburg erwischt man immer einen Wagen. An jedem beliebigen Tag – nur heute nicht. Heute nehmen alle Taxifahrer an einer Rallye mit dem Motto «Komm zu spät, Kate» teil. Nachdem ich sieben Minuten lang am Rinnstein nicht hysterisch geworden bin, werfe ich mich vor ein Taxi, dessen Lampe nicht leuchtet. Der Fahrer weicht mir aus. Ich sage ihm, dass ich den Betrag auf dem Taxameter verdoppele, wenn er mich zu Emilys Schule bringt, ohne seine Bremsen zu benutzen. Als ich auf dem Rücksitz lauere, während wir uns durch die engen, verstopften Straßen schlängeln, spüre ich meinen Puls am Hals und an den Handgelenken hüpfen wie eine Heuschrecke.

 

14.49: Das Parkett in der Aula von Emilys Schule ist offenkundig zu dem alleinigen Zweck gelegt worden, zu spät kommende berufstätige Mütter in Pumps bloßzustellen. Ich klick-klacke in dem Augenblick herein, als der Engel Gabriel der Jungfrau Maria, die Wolle aus dem neben ihr stehenden Esel zupft, die große Nachricht überbringt. Maria wird von Genevieve Law gespielt, Tochter von Alexandra Law, Elternvertreterin der Klasse und Supermutter, mit anderen Worten, prononciert nichtberufstätig. Zwischen den Supermüttern läuft ein beinharter Kampf um die Hauptrollen, die es für ihre Nachkommen zu erringen gilt. Glauben Sie mir, diese Frauen haben den Sitz im Aufsichtsrat oder die Stelle in der Fernsehredaktion nicht aufgegeben, damit der kleine Joshua den Bruder des Wirtes in einem Polohemd von Gap spielt.

«Letztes Jahr war es perfekt für ihn, ein Schaf zu spielen», kakeln sie, «aber dieses Weihnachten fanden wir wirklich, dass ihn seine Rolle etwas mehr fordern sollte.»

Als die drei Weisen, ein mickriger rothaariger Junge, der von zwei kleinen Mädchen mitgeschleift wird, mit ihren Geschenken für das Jesuskind über die Bühne gehen, öffnet sich die Aulatür hinter uns mit einem verräterischen Jaulen. Hundert Paar Augen schwenken herum und richten sich auf eine Frau mit hochrotem Gesicht, einer Supermarkt-Tragetüte und einer Aktentasche. Sieht aus wie Amy Redmans Mutter. Sie windet sich unterwürfig und entschuldigend durch die hintere Reihe, und Alexandra Law schscht sie lautstark an. Mein instinktives Mitgefühl mit dieser mir artverwandten Kreatur wird nahezu umgehend von einer hässlichen Dankbarkeitsaufwallung abgelöst, denn dank ihr bin ich nun nicht mehr diejenige, die als Letzte gekommen ist. (Ich will ja nicht, dass andere berufstätige Mütter über Gebühr leiden. Ganz bestimmt nicht. Ich muss einfach nur wissen, dass wir alle ungefähr in gleichem Umfang Dinge vergeigen.)

Auf der Bühne leitet das wacklige Winseln von Blockflöten das abschließende Lied ein. Zu diesem großen Anlass zeigt Emily dieselbe tintenäugige Konzentration, dasselbe fragende Puckern der Stirn, das sie schon hatte, als sie aus dem Mutterleib kam. Ich erinnere mich noch, dass sie sich ein paar Minuten lang im Kreißsaal umgesehen hat, als ob sie sagen wollte: «Nein, sagt’s mir nicht, ich hab’s gleich.» Heute Nachmittag, flankiert von zappeligen Jungs, von denen einer eindeutig ein Klo braucht, singt mein Mädchen das Weihnachtslied, ohne auch nur über ein einziges Wort zu stolpern, und ich spüre, wie mich der Stolz in die Rippen stößt.

Warum ist es nur so viel anrührender, wenn kleine Kinder in einem Affenzahn «Ich steh an deiner Krippen hier» singen, als wenn der gesamte Chor vom King’s College das Lied in der richtigen Tonart anstimmt? Grabe in einer entfernten Ecke meiner Manteltasche und stoße auf ein Taschentuch.

 

15.41: Bei den dem Anlass gemäßen Erfrischungen verstecken sich ein paar Väter hinter Videokameras, aber in der Aula wimmelt es von Müttern, lauter Motten, die die kleinen Lichter ihres Lebens umflattern. Bei Schulveranstaltungen sehen andere Frauen für mich immer wie richtige Mütter aus, ich fühle mich nie alt genug für diese Bezeichnung oder gar ausreichend qualifiziert. Ich merke, wie mein Körper, einem Pantomimen gleich, eine übertrieben mütterliche Gestik annimmt. Der Beweis dafür, dass ich eine Mutter bin, klammert sich jedoch fest an meine linke Hand und besteht darauf, dass ich ihren Heiligenschein im Haar trage. Emily ist eindeutig erleichtert und dankbar, dass Mummy es geschafft hat. Letztes Jahr musste ich in letzter Minute ausscheren, da Verhandlungen in eine kritische Phase getreten waren und ich ein Flugzeug in die Staaten erwischen musste. Ich habe ihr eine tönende Schneekugel mit der Silhouette von New York mitgebracht, die ich mir bei Saks in der Fifth Avenue geschnappt hatte. Zum Trost, aber es war kein Trost. Die Male, die man es nicht schafft, bleiben so viel hartnäckiger in Erinnerung als die Male, die man es geschafft hat.

Ich möchte mich unbedingt wegstehlen und im Büro anrufen, aber vor Alexandra Law gibt es kein Entkommen. Sie nimmt hingerissene Kritiken für Genevieves Jungfrau Maria und ihre selbst gebackenen Nürnberger Lebkuchen entgegen. Alexandra nimmt einen von meinen Mince Pies, sticht einen misstrauischen Fingernagel in den ihn krönenden Hügel von Puderzucker, ehe sie sich alles auf einen Satz in den Mund schiebt und durch einen Krümelhagel ihr Urteil kundtut. «Sen-schat-schionelle Mince Pies, Kate. Hast du die Trockenfrüchte in Brandy oder in Grappa eingelegt?»

«Ach, ein bisschen hiervon, ein bisschen davon, Alex, du kennst das ja.»

Sie nickt. «Ich hab dran gedacht, nächstes Jahr alle zu bitten, Stollen zu machen. Was hältst du davon? Hast du ein gutes Rezept?»

«Nein, aber ich kenne einen Supermarkt, der eins hat.»

«Ha-ha-ha-ha! Sehr gut! Ha! Ha! Ha!»

Alexandra ist die einzige Frau, die ich kenne, die lacht, als würde sie es ablesen. Freudlos, keuchend, Schultern wie Ted Heath. Jetzt fragt sie mich gleich, ob ich inzwischen Teilzeit arbeite.

«Und, arbeitest du jetzt Teilzeit? Nein. Immer noch voll? Gott im Himmel! Ich weiß nicht, wie du das schaffst, ehrlich. Ach, hallo, Claire, ich sage gerade zu Kate, ich weiß nicht, wie sie das schafft. Kannst du dir das vorstellen?»

 

19.27: Die Anstrengung, ein Engel zu sein, fordert ihren Tribut von Emily. Sie ist so fertig, dass ich schätze, ich kann drei Seiten von ihrer Gutenachtgeschichte überschlagen, ohne dass sie es merkt. Muss den E-Mail-Rückstand abarbeiten. Aber gerade, als ich die entsprechenden Seiten umblättere, geht ein argwöhnisches Auge auf.

«Mummy, du hast einen Fehler gemacht.»

«Tatsächlich?»

«Du hast das Stück ausgelassen, wo Ferkel in Kängas Tasche springt!»

«Ach du liebe Zeit, hab ich das?»

«Macht nichts, Mummy. Wir können ja einfach nochmal von vorne anfangen.»

 

20.11: Der Anrufbeantworter, der auf dem Tisch neben dem Fernseher steht, ist voll. Jemand antwortet im Westküstendialekt auf meinen Anruf bei KwikToy wegen der ungelieferten Weihnachtsgeschenke: «Bedauerlicherweise werden die bestellten Posten aufgrund unvorhergesehener Nachfrage nun erst zum Jahresende lieferbar sein.»

Himmel. Sind die denn wahnsinnig geworden?

Darauf folgt eine Nachricht meiner Mutter, die den größten Teil des Bandes einnimmt. Meine Mutter traut der modernen Technologie nicht und lässt immer noch Pausen für die Antworten der Person am anderen Ende der Leitung. Sie hat angerufen, weil sie sagen wollte, wir sollten uns keine Sorgen machen, sie werde Weihnachten sicher gut ohne uns zurechtkommen. Irgendwie ist das schmerzhafter, als jede Beschwerde es sein könnte. Eins von diesen Knockout-Spielen, die Mütter im Laufe der Jahrhunderte perfektioniert haben: Zuerst machen sie einem Schuldgefühle, dann nervt es, dass man sich Schuldgefühle hat einreden lassen, wonach es einem nur noch schlechter geht.

«Ich hab Bücher für Emily und Ben mit der Post geschickt und eine Kleinigkeit für dich und Richard. Ich hoffe, es ist das Richtige.» Sie hat immer Angst, keine Freude zu bereiten.

Nach dem müde-vorwurfsvollen Ton meiner Mutter ist es eine Erleichterung, die Stimme von Jill Cooper-Clark zu hören, die mir frohe Weihnachten wünscht. Tut ihr Leid, dass sie es dieses Jahr mit den Weihnachtskarten nicht geschafft hat, sie war etwas schlapp – Lachen –, obwohl ihr neuer Spezialist wenigstens aussieht wie Dirk Bogarde. Sie wünscht uns alles Gute und bittet mich darum, doch irgendwann einmal anzurufen.

Am Ende höre ich eine Stimme, die derart bar jeder menschlichen Wärme ist, dass ich sie kaum erkenne: Janine, eine frühere Börsenmakler-Freundin. Janine hat ihre Arbeit letztes Jahr aufgegeben, als die Firma ihres Mannes an der Börse ganz nach oben schoss und Graham zu der Sorte Reichtum kam, die einem eine Yacht namens Tabitha beschert, die vormals einem Vetter von Aristoteles Onassis gehört hat. Als Janine noch arbeitete, waren wir Verbündete und in der kampfermatteten Kameraderie derjenigen verschworen, die einen Haushalt zu führen haben, während sie sich auf Männerterritorium durchzuschlagen versuchen, ohne von Heckenschützen erledigt zu werden. Dieser Tage besucht Janine Nachmittagskurse im Chelsea Physic Garden und lernt, wie man das Optimum aus seinen Blumenkästen herausholt. Sie ist im Besitz von Sommer- und Winterbezügen für ihre Sofas, die jeweils zur korrekten Jahreszeit gewechselt werden, und vor kurzem hat sie alle Familienfotos in gepolsterten Alben arrangiert, die auf dem Beistelltisch in ihrem Wohnzimmer den milden Duft von Leder und Zufriedenheit ausdünsten. Als ich Janine letztes Mal gefragt habe, was sie so macht, gurrte sie ein wenig und sagte: «Ach, du weißt schon, ich puzzele so herum.» Nein, ich weiß nicht. Herumpuzzeln und ich, wir sind einander meines Wissens noch nicht vorgestellt worden.

Janine ruft an, weil sie wissen will, ob wir zu ihrem Silvesterdinner kommen. Tut ihr Leid, uns stören zu müssen. Hört sich nicht so an, als ob es ihr Leid tut. Sie verspritzt das Gift einer verärgerten Gastgeberin.

Was für ein Silvester-Dinner? Minutenlange Ausgrabungen auf dem Flurtisch – Flugblätter vom Tandoori-Takeaway, trockenes Laub, ein einzelner brauner Handschuh – bringen einen Stapel ungeöffneter Weihnachtspost zum Vorschein. Ich blättere die Umschläge durch, bis ich auf den mit Janines sorgfältiger Handschrift stoße. Er enthält eine Karte mit einer Fotomontage von Graham, Janine und ihren absolut sorgenfreien Kindern plus einer Einladung zum Dinner. U.a.w.g. bis 10. Dezember.

Jetzt mache ich, was ich bei solchen Gelegenheiten immer mache: Ich schiebe die Schuld auf Richard. (Es muss nicht sein Fehler sein, aber irgendwer muss Schuld haben, oder wie ist das Leben sonst auszuhalten?) Auf dem Küchenfußboden kniend, bastelt Rich für Ben ein Rentier aus Pappe und aus etwas, das so aussieht wie der fehlende Handschuh. Ich sage ihm, dass wir nicht mal mehr in der Lage sind, die Veranstaltungen abzusagen, an denen wir nicht teilnehmen können: Unsere gesellschaftliche Ächtung ist beinahe perfekt. Plötzlich überkommt mich ein Verlangen danach, eine der Frauen zu sein, die Einladungen postwendend beantworten, auf dickem, sahneweißem Briefpapier mit einer William-Morris-Bordüre. Und mit dem Füllfederhalter, nicht mit irgendeinem ausgetrockneten türkisen Filzer, den ich aus Emilys Federmäppchen gerissen habe.

Rich zuckt die Achseln. «Hör doch auf, Kate. Du würdest den Verstand verlieren.»

Vielleicht, aber es wäre schön, die Wahl zu haben.

 

23.57: Das Bad. Mein liebster Ort auf Erden. Ich beuge mich über die Wanne und räume die Pingu-Figuren und die abgewrackte Galeere weg und löse die Plastikbuchstaben vom Rand ab, die sich, seit die Vokale das Klo hinuntergespült worden sind, zu zornigen kroatischen Flüchen reihen (scrtzchk!). Ich hebe den dreckverklebten, halb trockenen Barbie-Waschlappen auf, der mittlerweile nach Kaulquappen riecht, wenn mich meine vage Erinnerung an selbige nicht trügt. Dann, ich fange an einer Ecke an, löse ich die Anti-Rutsch-Matte vom Wannenboden, deren Saugnäpfe sich noch einen Augenblick festhalten, bevor sie mit einem indignierten Rülpser den Widerstand aufgeben.

Als Nächstes durchsuche ich den Badezimmerschrank nach einem entspannenden Badeöl – Lavendel, Seegurke, Bergamotte –, aber wie immer sind mir die stressreduzierenden Essenzen ausgegangen, und ich muss mich mit etwas Schäumendem namens Vitality in Schockgrün bescheiden. Dann lasse ich das Wasser einlaufen, heißer als erträglich, so heiß, dass mein Körper es beim Reinsteigen irrtümlich für kalt hält. Lehne mich zurück, die Nasenlöcher blähen sich über der Wasseroberfläche wie die eines Alligators. Ich sehe die Frau an, die geschwind in dem anlaufenden Spiegel neben mir vernebelt wird, und denke: das ist ihre Zeit, ihre Zeit für sich allein, wenn man den übersehenen Plastikdinosaurier Barney nicht einrechnet, der plötzlich mit seinem Serienkillergrinsen zwischen ihren Beinen auftaucht.

Das Badezimmer ist uralt, das Porzellan von graublauen Adern durchzogen. Uns ist das Geld ausgegangen, nachdem wir die Küche renoviert hatten, deshalb befindet sich das Haus in einem aufsteigenden Verfallszustand. Küche von Terence Conran, Wohnzimmer von Ikea, Bad Marke Edelschimmel. Ohne Kontaktlinsen und im Kerzenschein gemahnt das lepröse Blättern der Wände mehr an einen Tempel der Vestalinnen und weniger an das Nichtvorhandensein eines Dampfabzugs für fünf Riesen.

Als der Schaum auf meiner Hand schmilzt, treten schuppige Stellen an meinen Fingerknöcheln hervor. Hinter dem rechten Ohr hat es mich auch schon erwischt. Stressekzem, hat die Krankenschwester in der Firma gesagt. «Haben Sie sich mal Gedanken darüber gemacht, was den Druck in Ihren unterschiedlichen Lebensbereichen mindern könnte, Kate?» Okay, lassen Sie mich nachdenken: eine Hirntransplantation, ein Lottogewinn, ein umprogrammierter Ehemann, der begreift, dass Sachen, die unten an der Treppe abgestellt worden sind, für gewöhnlich die Treppe hochgetragen werden müssen.

Ich weiß nicht, wie ich so weitermachen soll. Weiß auch nicht, wie ich damit aufhören soll. Frage mich immer wieder, ob ich bei der Einführung heute nicht zu hart zu diesem Mädchen aus Sri Lanka war. Momo Sonstwer? Wirkte ziemlich nett. Sie hat mich aufgefordert, ehrlich zu sein. Hätte ich das sein sollen? Habe ihr erzählt, dass man bei EMF nur vorankommt, wenn man sich so aufführt wie die Jungs. Wenn man sich aber aufführt wie die Jungs, dann sagen sie, man sei bissig und schwierig, also benimmt man sich wie eine Frau, damit Sie sagen, man sei sentimental und schwierig. Schwierig ist ihre Bezeichnung für alles, was nicht so ist wie sie. Na ja, sie wird es lernen.

Wenn ich in ihrem Alter gewusst hätte, was ich heute weiß, hätte ich dann je Kinder bekommen? Schließe meine Augen und versuche mir eine Welt ohne Emily und Ben vorzustellen: eine Welt ohne Musik und Blitze.

Ich versinke im Wasser und versuche meine Gedanken treiben zu lassen, aber sie bleiben am Gehirn kleben wie Blutegel.

 

Nicht vergessen

Mit Paula reden und ihr feste Richtlinien hinsichtlich Kinderhaarschnitten und Pünktlichkeit vorgeben. Mit Rod Task reden und feste Richtlinien hinsichtlich meiner Rolle gegenüber Klienten vorgeben. D. H. ICH BIN NICHT IHRE NOTFALL-GEISHA. Gehaltserhöhung: Sprechen Sie mir nach: Ich Werde Keine Extra-Aufgaben Ohne Extra-Geld Übernehmen. Angebot einholen für Treppenläufer. Weihnachtsbaum kaufen und edle Lichterkette (John Lewis oder Ikea?). Geschenk für Richard («Wie werde ich zur Göttin des Haushalts?»). Schwiegereltern (Käselaib oder Alpenpflanzen wie aus der farbigen Beilage der Sunday Times: Wo hab ich den Zeitungsausschnitt hingelegt?). Strumpfgeschenke für E&B. Geleefrüchte für Onkel Alf. Pastillen gegen Reisekrankheit? Paula bitten, Sachen aus der Reinigung zu holen. Was kostet eine Einkaufshilfe? Beckenboden. Zusammenziehen. Glasur & Garnierung für den Weihnachtskuchen: zu spät, was Fertiges zum Belegen kaufen. Briefmarken für Karten: Erste Klasse × 30. Ben den Schnuller abgewöhnen! Roo nicht vergessen! KwikToy, die absolut nutzlose verdammte Geschenkfirma, anrufen und mit Klage drohen. Abstrich! Strähnen! Hamster? 

Working Mum
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