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Der Weihnachtstag
5.37: Wrothly, Yorkshire. Draußen ist es noch dunkel. Wir liegen alle vier kuschelnd und wie ein Krakenhaufen im Bett. Emily, halb wahnsinnig vor Weihnachtslüsternheit, zerreißt Papier. Ben spielt bu-kiek mit dem Abfall. Ich schenke Richard ein Paket luftgetrocknetes Rentier, zwei Paar schwedische Socken (hafergrützfarben), einen fünftägigen Weinverkostungskursus in Burgund und «Wie werde ich zur häuslichen Göttin» (Witz). Barbara und Donald schenken mir eine abwischbare Schürze mit Libertymuster und «Wie werde ich zur häuslichen Göttin» (kein Witz).
Richard schenkt mir:
1) Agent-Provocateur-Unterwäsche, roter BH mit erhabenen schwarzen Satintupfern und Halbschalenkörbchen, über welche die Brustwarzen hinüberspähen wie behelmte mittelalterliche Krieger über die Burgwehr. Dazu eine Strumpfhalter/Slip-Apparatur, die offensichtlich mit Hochseefischernetz abgesetzt ist.
2) Mitgliedschaft im National Trust.
Beides fällt in die Kategorie: bitte umtauschen. Emily schenkt mir einen phantastischen Reisewecker. Anstelle eines Alarmsignals spielt er eine Nachricht ab, die sie selber gesprochen hat: «Aufwachen, Mummy, wach auf, Schlafmütze.»
Wir schenken Emily einen Hamster (weiblich, wird aber Jesus getauft), ein Barbie-Fahrrad, ein Puppenhaus, einen ferngesteuerten Roboterhund und eine Menge anderer Sachen aus Plastik, die sie nicht braucht. Emily ist hingerissen von der Friedenstruppen-Barbie, die ich mir im Duty Free von Stockholm gegriffen habe, bis sie Paulas Geschenk aufmacht: Pipi-Baby, das ich ausdrücklich verboten hatte.
Wir riskieren hysterische Anfälle, indem wir versuchen, die Kinder die meisten ihrer Geschenke oben auspacken zu lassen, damit meine Schwiegereltern sich weniger über die schamlose großstädtische Prasserei («ihr werft mit eurem Geld um euch») und das frevelhafte Verwöhnen der jüngeren Generation entsetzen. («Zu meiner Zeit konnte man von Glück sagen, wenn man eine Puppe mit einem Porzellankopf bekam und eine Apfelsine.»)
Es ist schwieriger, über manches andere Stillschweigen zu bewahren. Zum Beispiel ist es schwierig, Großeltern vorzumachen, dass ein Kind nur gelegentlich Videos guckt, wenn das Kind beim Frühstück wortgetreu jeden einzelnen Song aus «Arielle» wiedergibt und strahlend hinzufügt, dass die DVD-Version noch ein Lied mehr beinhaltet. Bei Tisch mache ich noch eine weitere Konfliktquelle aus, als ich Emily ermahne, nicht mit dem Salz zu spielen.
«Emily, Großvater hat dich gebeten, das hinzustellen.»
«Nein, hab ich nicht», sagt Donald milde. «Ich hab ihr gesagt, sie soll es hinstellen. Das unterscheidet meine Generation von deiner, Kate: Wir sagen was, ihr bittet darum.»
Ein paar Minuten später, als ich am Herd stehe und Rührei mache, wird mir plötzlich bewusst, dass Barbara mir über die Schulter schaut. Sie verhehlt kaum, dass sie den Inhalt der Pfanne unglaublich findet. «Meine Güte, essen die Kinder etwa gern trockene Eier?»
«Ja, so mache ich sie immer.»
«Oh.»
Barbara ist besessen von der Nahrungsaufnahme meiner Familie, ob es nun darum geht, dass die Kinder zu wenig Gemüse zu sich nehmen oder um meinen eigenen befremdlichen Unwillen, mich dreimal am Tag durch ein dreigängiges Menü zu schaufeln. «Du musst bei Kräften bleiben, Katharine.» Und kein Familientreffen bei den Shattocks wäre vollkommen, ohne dass meine Schwiegermutter mich in die Alpenveilchenecke neben der Pantry drängte und mir zuzischte: «Richard sieht mager aus, Katharine. Findest du nicht, dass Richard mager aussieht?»
Wenn Barbara mager sagt, klingt das Wort sofort fett: schwergewichtig, erdrückend, anklagend. Ich schließe meine Augen und versuche Reserven von Geduld und Verständnis zu mobilisieren, die ich nicht besitze. Die Frau vor mir hat meinen Mann mit Genen ausgestattet, die ihm lebenslang die Figur einer Kugelschreibermine garantieren, und sechsunddreißig Jahre später macht sie mir das zum Vorwurf. Ist das fair? Ich erhebe mich über solche Angriffe auf meine Tüchtigkeit als Ehefrau.
«Aber Richard ist dünn», protestiere ich. «Richard war schon mager, als wir uns kennen lernten. Das habe ich unter anderem an ihm geliebt.»
«Er ist immer schlank gewesen», lenkt Barbara ein, «aber jetzt ist gar nichts mehr von ihm übrig. Gleich als er aus dem Auto gestiegen ist, hat Cheryl gesagt: ‹Sieht Richard nicht völlig abgezehrt aus, Barbara?›»
Cheryl ist meine Schwägerin. Ehe sie Peter geheiratet hat, Richards Buchhalter-Bruder, hatte Cheryl irgendeinen Job bei der Bausparkasse. Seit sie drei Söhne bekommen hat, den ersten 1989, ist Cheryl ein Mitglied der Muffia, dem mächtigen Geheimbund organisierter, zu Hause bleibender Mütter. Sowohl Cheryl als auch Barbara behandeln Männer wie Zuchtvieh, das sorgfältiger Pflege bedarf. Kein Weihnachten bei den Shattocks wäre vollkommen, wenn Cheryl nicht fragte, ob ich meinen Cashmere-Rollkragenpullover von Joseph in den British Homestores gekauft habe oder ob es wirklich in Ordnung ist, dass Richard die Kinder oben GANZ ALLEIN badet.
Peter hilft viel weniger mit als Richard, aber über die Jahre habe ich beobachtet, wie Cheryl seine Nutzlosigkeit in praktischen Dingen fördert und das Resultat sogar genießt. Peter spielt eine wichtige Rolle in Cheryls Leben: als Das Kreuz, das mir auferlegt wurde. Jede Märtyrerin braucht einen Peter, der im Laufe der Zeit darauf trainiert werden kann, seine eigenen Unterhosen nicht wieder zu erkennen.
Dinge, die ich in London für selbstverständlich halte, werden hier als außer Rand und Band geratene Gleichmacherei betrachtet. «Somme», sagt Richard verbissen triumphierend, als er mit einer vollen Windel durch die Küche geht, deren Aprikosenparfümierung auf aussichtslosem Posten gegen den Gestank darinnen ankämpft. (Rich hat ein Bewertungssystem für Bens Windeln entwickelt: ein kleineres Geschäft ist ein Tant Pis, eine durchschnittliche Ladung ist ein Croque Manure, während eine einen Kleiderwechsel nebst sieben Öltüchern fordernde Sache eine Somme ist. Einmal, wirklich nur einmal, ist ein Krakatau aufgetreten. Schon in Ordnung, nur nicht auf einem griechischen Flughafen.)
«Zu unserer Zeit haben die Väter natürlich keinen Finger gerührt», sagt Barbara zurückweichend. «Donald wäre einer Windel nicht zu nahe gekommen. Hätte einen riesigen Bogen darum gemacht.»
«Richard ist phantastisch», sage ich vorsichtig. «Ohne ihn würde ich es nicht schaffen.»
Barbara nimmt eine rote Zwiebel und viertelt sie energisch. «Männer, man muss schon ein bisschen auf sie Acht geben. Sind zarte Pflänzchen», sinniert sie und drückt das Messerblatt auf die Zwiebel, bis diese leise vor sich hin weint. «Kannst du diese Soße mal umrühren, Katharine?» Cheryl kommt rein und fängt an, Käsestangen und Pastetenhüllen für den Umtrunk morgen aufzutauen.
Ich fühle mich so allein, wenn Barbara und Cheryl in der Küche miteinander zwitschern, obwohl ich zwischen ihnen stehe. Ich nehme an, so ist es jahrhundertelang gewesen. Frauen tun, was zu tun ist, und tauschen konspirative Blicke und gönnerhafte Seufzer aus, wenn es um Männer geht. Aber ich bin der Muffia nie beigetreten, ich kenne den Code nicht, die Passwörter, den besonderen Händedruck. Ich erwarte von einem Mann, von meinem Mann, dass er Frauenarbeit macht, denn wenn er sie nicht macht, kann ich keine Männerarbeit machen. Und hier oben in Yorkshire zerfällt der Stolz darüber, dass ich es tatsächlich hinkriege, dass ich es schaffe, unser Leben in der Spur zu halten, wenn auch nur so gerade eben, und wird zu Unbehagen. Plötzlich wird mir klar, dass eine Familie sehr viel Fürsorge braucht, den Schmierstoff, der alles butterweich laufen lässt, wohingegen meine kleine Familie gerade so vor sich hin rumpelt – mit kreischenden Bremsen.
Richard kommt wieder in die Küche, ohne Windel, legt mir den Arm um die Taille, setzt mich auf das Chromgeländer vor dem Herd. Er legt seinen Kopf in die Kuhle an meinem Hals und fängt an, mein Haar zu zwirbeln. Genau wie Ben.
«Glücklich, Liebling?»
Klingt wie eine Frage, ist aber in Wirklichkeit eine Antwort. Rich ist hier glücklich, das merke ich, mit den geschäftigen Frauen und dem Dunst vom Backen, und weil ich nicht alle fünf Minuten am Telefon hänge. «Zu Hause fühlt er sich am wohlsten, unser Richard», sagt Barbara stolz.
Ich sage Richard, und das ist nur halb scherzhaft gemeint, dass er es viel besser hätte, wenn er eine nette höhere Tochter mit einem Händchen für Mince Pies geheiratet hätte.
«Ebendas habe ich nicht getan, weil ich vor Langeweile gestorben wäre. Außerdem», sagt er, streichelt mir über die Wange und steckt mir eine lose Haarsträhne hinters Ohr, «falls wir Mince Pies brauchen, kenne ich da eine unglaubliche Frau, die welche fälscht.»
Nach dem Weihnachtsessen mit den Shattocks möchte ich mich einfach nur mit Leonardo DiCaprio in Titanic vor den Fernseher kuscheln, aber stattdessen muss ich Ben wie ein Schatten durchs Wohnzimmer folgen, wo er sich auf kleine Tischchen mit spindeldünnen Beinen wirft, an Lampenkabeln kaut oder sich Fäuste voll silberner Mandeln grapscht. Ich wäge ab, was gefährlicher ist, ihm die silbernen Mandeln zu verweigern und damit einen peinlichen Wutanfall auszulösen (Kann sie denn nicht mal ihr eigenes Kind unter Kontrolle behalten?), oder ihn gewähren zu lassen und dabei sein Leben und den Teppich von Barbara und Donald zu riskieren, weil er sie in den falschen Hals kriegen könnte.
Ich kann entkommen, als Ben seinen Mittagsschlaf macht. Mit dem Laptop auf dem Bett liegend, komponiere ich eine E-Mail für eine andere Welt.
Von: Kate Reddy, Wrothly, Yorkshire
An: Debra Richardson
Liebste Debs, wie war’s bei dir?
Alles, was zu einem englischen Weihnachten gehört, befindet sich hier: Würstchen im Schlafrock, Weihnachtslieder, subtile Anklagen. Schwiegermutter hat alle Hände voll zu tun, Notfallrationen für den von der Cityschlampe (das bin ich) schnöde vernachlässigten Sohn zusammenzustellen.
Du weißt ja, ich sage immer, dass ich bei meinen Kindern sein möchte. Ich möchte wirklich bei meinen Kindern sein. Manchmal, wenn ich abends zu spät nach Hause komme, um Emily ins Bett zu bringen, gehe ich an den Wäschekorb und ICH RIECHE AN IHREN KLEIDERN. So fehlen sie mir. Das habe ich noch nie jemandem erzählt. Und wenn ich mit ihnen zusammen bin, so wie jetzt, dann brauchen sie mich einfach zu sehr. Es ist, als wollte man eine ganze Liebesaffäre in ein langes Wochenende pressen – Leidenschaft, Küsse, bittere Tränen, ich liebe dich, verlass mich nicht, hol mir was zu trinken, du liebst ihn mehr als mich, bring mich ins Bett, du hast so schönes Haar, schmus mit mir, ich hasse dich.
Erledigt & irre & muss so schnell wie möglich wieder zur Arbeit, um mich auszuruhen. Was ist das nur für eine Mutter, die Angst vor ihren eigenen Kindern hat.
Deine K8 xxxxx
Ich will Senden anklicken, klicke aber Löschen. Es gibt Dinge, die kann man nicht gestehen, nicht mal der besten Freundin. Nicht mal sich selbst.