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Vor dem Mutterschaftsgericht

Eine lastende Stille wie in der Kirche erfüllt den eichengetäfelten Saal. Im Zeugenstand befindet sich eine blonde Mittdreißigerin in einem weißen Nachthemd, unter dem sich ein roter BH deutlich abzeichnet. Sie steht den hohen Herren des Gerichts gegenüber und legt den Kopf zur Seite wie ein Jagdhund, der Witterung aufgenommen hat. Die Frau wirkt müde, aber widerspenstig. Hin und wieder jedoch, wenn sie sich hinter ihrem rechten Ohr kratzt, könnte man nachvollziehen, wenn sie meinten, sie sei den Tränen nahe.

«Katharine Reddy», dröhnt der Richter, «Sie stehen heute Nacht vor dem Mutterschaftsgericht, da Sie beschuldigt werden, eine berufstätige Mutter zu sein, die ihre Kinder mit materiellen Gütern überhäuft, statt bei ihnen zu Hause zu bleiben. Worauf plädieren Sie?»

«Nicht schuldig», sagt die Frau.

Der Vertreter der Anklage springt auf. «Würden Sie, Mrs. Shattock, denn das ist, so meine ich, Ihr korrekter Name, würden Sie dem Gericht bitte mitteilen, was Sie Ihren Kindern Emily und Benjamin zu Weihnachten geschenkt haben?»

«Also, ich kann mich nicht mehr so genau erinnern.»

«Sie kann sich nicht erinnern», sagt der Vertreter der Anklage verächtlich. «Aber es würde wohl den Tatsachen entsprechen zu sagen, dass Geschenke im Wert von annähernd 400 Pfund Sterling erworben wurden, nicht wahr?»

«Ich bin mir nicht ganz sicher …»

«Für zwei kleine Kinder, Mrs. Shattock. Vier. Hun. Dert. Pfund. Liege ich richtig in meinem Verständnis, dass Sie, nachdem Sie Ihrer Tochter Emily erklärt haben, der Weihnachtsmann werde ihr entweder ein Barbie-Fahrrad oder ein Puppenhaus oder einen Hamster in einem Käfig mit abnehmbarem Wasserspender bringen, entsprechende Vorkehrungen getroffen und ihr alle der drei oben genannten Objekte gekauft haben, inklusive eines Beanie-Babys, an dem sie während eines kurzen Aufenthalts an einer Tankstelle vor Newark Interesse bekundet hatte?»

«Ja, aber ich habe das Puppenhaus zuerst gekauft, und dann hat sie an den Weihnachtsmann geschrieben, dass sie sich einen Hamster wünscht …»

«Trifft es ebenfalls zu, dass Sie, als Ihre Schwiegermutter, Mrs. Barbara Shattock, Sie fragte, ob Emily Brokkoli möge, sagten, dass Brokkoli Emilys absolutes Lieblingsgemüse sei? Obwohl Sie die Frage zu diesem Zeitpunkt nicht mit Sicherheit beantworten konnten?»

«Ja, aber ich konnte der Mutter meines Mannes doch unmöglich erzählen, dass ich nicht weiß, ob mein Kind Brokkoli mag.»

«Warum nicht?»

«Mütter wissen so etwas.»

«Sprechen Sie lauter!», fordert der Richter.

«Ich sagte, Mütter wissen so etwas.»

«Und Sie wissen es nicht.»

Die Frau spürt, wie sich ihre Kehle zusammenschnürt, und als sie schluckt, bleibt ihr Mund trocken mit einem dünnen, pappigen Belag. So, denkt sie, würde es schmecken, wenn man seine eigenen Worte essen müsste. Als sie wieder anfängt zu sprechen, spricht sie sehr leise.

«Manchmal weiß ich nicht, was die Kinder mögen», gibt sie zu. «Damit will ich sagen, die Dinge ändern sich von einem Tag auf den anderen, sogar von Stunde zu Stunde. Ben mochte keinen Fisch, und dann plötzlich … Sehen Sie, ich bin nicht immer da, wenn Sie sich verändern. Aber wenn ich Barbara das erzählen würde, dann würde sie denken, dass ich keine richtige Mutter bin.»

Der Vertreter der Anklage wendet sich an die Jury, und über sein langes, bleiches Gesicht zuckt ein verkniffenes selbstgefälliges Grinsen: «Das Gericht möge bemerken, dass die Angeklagte es vorzieht zu lügen, damit ihr keine Vorwürfe gemacht werden.»

Die Frau schüttelt heftig den Kopf. Sie appelliert an den Richter. «Nein, nein, nein. Das ist äußerst ungerecht. Es geht nicht um die Vorwürfe, Euer Ehren. Wenn ich so etwas zugebe, fühlt es sich an wie Scham, eine tiefe, animalische Scham, so als ob man seine eigenen Hände oder sein Gesicht nicht wiedererkennen kann. Sehen Sie, es ist völlig ausgeschlossen, dass Richard, das ist mein Mann, weiß, ob Emily Brokkoli mag oder nicht, aber dass er das nicht weiß, gilt anscheinend als normal. Wenn eine Mutter es nicht weiß, gilt das als unnatürlich.»

«Genau», sagt der Richter und notiert die Wörter «unnatürlich» und «Mutter» und unterstreicht sie.

«Selbstverständlich», sagt die Frau schnell, denn sie fürchtet, bereits zu viel gesagt zu haben, «selbstverständlich will ich meine Kinder nicht verwöhnen.»

Wir sehen, dass sie innehält. Sie scheint nachzudenken. Natürlich will sie ihre Kinder verwöhnen. Unbedingt. Sie muss daran glauben können, dass ihre Kinder, jedenfalls was das betrifft, besser dran sind, wenn sie nicht bei ihnen bleibt. Sie will, dass Emily und Ben all die Dinge haben, die sie nie gehabt hat. Aber das kann sie den Männern im Gericht nicht sagen. Haben die etwa eine blasse Ahnung davon, wie es ist, den ersten Schultag mit einer Strickjacke im falschen Grauton anzutreten, weil die eigene Mutter sie aus dem Oxfam-Laden hat, während alle anderen Mütter eine aus der neuen stahlgrauen Kollektion von Wyatt & Moore gekauft haben? Nichts wissen sie. Sie weiß, dass sie nicht wissen, wie es ist, wenn man nichts hat.

Die Frau räuspert sich und versucht den kühlen, sachlichen Ton zu finden, den Männer respektieren. Dabei hilft ihr die Erfahrung. «Was glauben Sie, warum ich so viel arbeite? Doch nur, weil ich meinen Kindern kaufen möchte, was ihnen Freude macht.»

Der Richter lugt über den Brillenrand: «Mrs. Shattock, mit den philosophischen Implikationen dieses Problems wollen wir uns hier nicht beschäftigen.»

«Naja, vielleicht sollten Sie das aber», sagt die Frau und reibt heftig hinter ihrem rechten Ohr. «Es gehört mehr dazu, eine gute Mutter zu sein, als die genaue Kenntnis der Gemüsevorlieben.»

«Ruhe. Ruhe im Gerichtssaal!», sagt der Richter. «Rufen Sie Richard Shattock herein.»

O nein, bitte, lass sie nicht Richard aufrufen. Rich würde nicht gegen mich aussagen, oder doch?

Working Mum
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