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Mein Treffen mit Jack

7.03: Ich verstecke mich mit meinem Koffer unten im Klo, damit Ben nichts merkt. Er ist nebenan in der Küche, wo Richard ihm sein Frühstück gibt. Ich will für mein Leben gern zu ihm, aber ich sage mir, dass es nicht fair ist, mir aus eigennützigen Motiven ein paar Minuten seiner Gegenwart zu stehlen, nur um dann ein untröstliches Baby zu hinterlassen. (Im Buch steht, Kinder überwinden die Trennungsangst etwa im Alter von zwei Jahren, aber für Mütter wird keine Altersangabe gemacht.) Das Beste ist, er sieht mich überhaupt nicht. Ich habe Zeit, den Raum eingehend unter die Lupe zu nehmen, und bemerke, dass grauer Staub wie ein Netz vor den Fenstern hängt. (Unsere Putzfrau Juanita leidet an Höhenangst und kann verständlicherweise nichts über Hüfthöhe sauber machen.) Und das Meerjungfrauenmosaik ist von unserem Fliesenleger unvollendet zurückgelassen worden, nachdem wir uns geweigert hatten, ihm noch mehr Geld zu geben. Nur Titten jetzt und kein Schwanz.

Durch die geschlossene Tür höre ich gedämpfte Brumbrums, gefolgt von Bens klebrigem Glucksen. Rich tut wohl so, als seien die Löffel voll Shreddies Autos, die in die Garage wollen, damit er den Mund aufmacht. Ein Hupen von draußen kündigt die Ankunft von Pegasus an.

Ich schlüpfe aus meinem eigenen Haus wie ein Dieb, als ein anklagendes «Wo-ho» von dem Volvo kommt, der gegenüber parkt. Angela Brunt, Boss der lokalen Muffia. Angela mit dem Gesicht eines Ford Anglia. Mit ihren vorstehenden Scheinwerfern in dem dreieckigen Schädel ist Angela heldenhaft unscheinbar. Es ist gerade erst sieben, was macht sie hier draußen? Wahrscheinlich kommt sie gerade von Davinas Japanischkurs vor Sonnenaufgang. Man braucht Angela nur dreißig Sekunden zu geben, und sie fragt mich, ob ich schon eine Schule für Emily gefunden habe.

«Hallo, Kate, lange nicht gesehen. Hast du inzwischen eine Schule für Emily?»

Fünf Sekunden! Ja, damit hat Angela ihren eigenen Weltrekord in Bildungsparanoia gebrochen. Ich habe Lust, ihr zu erzählen, dass wir die staatliche Grundschule um die Ecke in Erwägung ziehen. Mit etwas Glück führt das zu sofortigem Herzversagen. «Ich glaube, St. Stephen ist immer noch eine Möglichkeit, Angela.»

«Wirklich?» Die Scheinwerfer drehen sich verschreckt in ihren Fassungen. «Aber wie willst du sie dann mit elf noch in irgendeine ordentliche Schule kriegen? Hast du den letzten Bildungsbericht über St. Stephen gelesen?»

«Nein, ich …»

«Und ist dir klar, dass Schüler von staatlichen Schulen nach achtzehn Monaten dem privaten Bildungssektor zwei Komma vier Jahre hinterherhinken? Und das steigt auf drei Komma zwei an, bis sie neun sind.»

«Meine Herren, das hört sich schlimm an. Na, Richard und ich gucken uns Piper Place mal an, aber da scheint der Druck ziemlich stark zu sein. Ich finde, es ist das Wichtigste für Emily, dass sie glücklich ist, solange sie noch so klein ist.»

Vor dem Wort glücklich scheut Angela wie ein Pferd vor einer Klapperschlange. «Na gut, ich weiß, dass sie in Piper Place in der Oberstufe alle Magersucht kriegen», sagt sie strahlend, «aber sie bieten eine phantastisch abgerundete Erziehung.»

Klasse. Meine Tochter wird die erste abgerundete Anorektikerin der Welt sein. Zulassung für Oxford bei einem Gewicht von 36 Kilo, dann wird sie sich von ihrem Krankenbett erheben, um einen brillanten Abschluss in Philosophie, Politologie und Wirtschaft hinzulegen. Nach sechs Jahren im Job wird sie Mutter werden, die Berufstätigkeit aufgeben, weil ihr das alles zu viel wird, und ihre Vormittage in der Republik der Kaffeetanten verbringen, wo sie mit der fließend japanisch konversierenden Hausfrau Davina Brunt bei fettarmen Milchkaffees die Bewerbungsformulare für St. Paul dekodiert. Himmel, was ist bloß los mit diesen Frauen?

«Tut mir Leid, Angela. Ich muss los. Muss ein Flugzeug erwischen.»

Ich kämpfe noch immer mit den gichtsteifen Türangeln des Taxis, als Angela ihren letzten Schuss abgibt. «Hör mal, Kate, wenn du es ernst meinst mit Piper Place, dann kann ich dir die Nummer von diesem Psychologen geben. Alle gehen zu ihm. Er wird sie dazu bringen, die richtigen Antworten zu geben und beim Vorstellungstermin die richtige Art Bild zu malen.»

Ich atme tief und dankbar die süße, ganjageschwängerte Luft auf dem Rücksitz von Winstons Taxi ein. Das versetzt mich zurück in mildere Tage, eine Zeit vor den Kindern, als es fast Pflicht war, verantwortungslos zu sein.

 

GOTT, WIE ICH mich nach Gesprächen mit Angela Brunt verabscheue. Ich spüre, wie mich Angelas mütterlicher Ehrgeiz infiziert wie ein Grippevirus. Man versucht ihn abzuwehren, man versucht sich an die Zuversicht zu klammern, dass das eigene Kind schon gut zurechtkommen wird, ohne mit Fakten genudelt zu werden wie ein für foie gras bestimmtes Gänseküken. Aber eines Tages ist das Immunsystem etwas geschwächt, und Zong!, Angela ist drinnen mit ihren Bildungsberichten und ihrer durchschnittlichen Lesefähigkeit und der Telefonnummer von ihrem Psychologen. Wissen Sie, was wirklich erbärmlich ist? Am Ende werde ich Emily wahrscheinlich auf dem Anorexeum einschulen: Die Angst davor, was ein irrwitzig leistungsorientierter Unterricht meinem Kind antun könnte, wird noch in den Schatten gestellt von der Furcht, dass sie zu kurz kommen könnte und ich schuld daran bin. Und der Wettlauf fängt jedes Jahr früher an: In unserem Bezirk gibt es tatsächlich einen Kindergarten, in dem eine Wand den Impressionisten gewidmet ist. Die Mütter haben zögerlich zur Kenntnis genommen, dass sie Liebe nicht für Geld kaufen können, aber sie glauben, dass man für Geld Monet kaufen kann, und das reicht ihnen. Erschöpfte berufstätige Mütter schicken ihre Töchter in Stress-Akademien. Vielleicht ist das das Einzige, was wir noch verstehen. Stress. Erfolg.

 

9.28: «Was hat die Frau für ein Problem?»

«Bitte?»

Winston mustert mich im Rückspiegel. In seinen Augen, so braun, dass sie fast schwarz sind, blitzt ein Lachen.

«Angela? Ach, weiß nicht. Urbane Angst, frustrierte Frau, die ein Ersatzleben durch ihre Kinder führt, nicht genug Oralsex. Das Übliche.»

Winstons Lachen füllt das Taxi. Tief und grobkörnig, erschüttert es meinen Solarplexus, und für einen Augenblick beruhigt es mich.

Dichter Verkehr auf dem Weg zum Flughafen – und ich habe reichlich Zeit, über mein bevorstehendes Treffen mit Jack Abelhammer zu brüten. Als ich gestern Abend mit Rod Task gesprochen habe, hat er gesagt: «Jack scheint ziemlich gespannt darauf zu sein, dich kennen zu lernen, Katie.»

«Das liegt wohl daran, dass Greenspan die Zinsen um einen halben Prozentpunkt gesenkt hat», improvisierte ich. Ich konnte meinem Boss ja kaum erzählen, dass ich meinem Klienten eine E-Mail geschickt habe, in der ich ungebührliches Verhalten und eine Woche im Bett in Aussicht gestellt hatte.

Irgendwie kann ich nicht damit aufhören, mich zu kratzen. Gestern Abend habe ich mir die Haare mit einem neuen Shampoo gewaschen: eine allergische Reaktion? Oder vielleicht habe ich mir auf dem Rücksitz von Pegasus eine niedrige Lebensform zugezogen, einen Pilz etwa. Dieses prähistorische Taxi könnte ohne Schwierigkeiten die Brutstätte von jeder Menge wirbelloser Tierarten sein.

Aber die Musik, die hier zirkuliert, ist am entgegengesetzten Ende der Entwicklung angesiedelt. Der Klang der Trompeten, von Pauken und Becken synkopisch unterlegt, erinnert mich an Rhapsody in Blue.

«Ist das Gershwin, Winston?»

Er schüttelt den Kopf. «Ravel.» Mein Taxifahrer hört Ravel?

Wir fahren an der Hoover-Fabrik vorbei, als der langsame Satz beginnt. Er ist das Traurigste, was ich je gehört habe. Mitten drin setzt eine Flöte ein und haucht über das Klavier hinweg, wenn ich die Augen schließe, sehe ich einen Vogel über dem Meer schweben.

 

New York, Büro der Salinger Foundation

15.00 – an der Ostküste: Komme mit schwirrendem Kopf im Büro von Abelhammer dem Schrecklichen an, das gleich um die Ecke vom Wall Street Center liegt. Befinde mich in Begleitung von Guy, der keine Symptome von Jetlag zeigt. Im Gegenteil, Guy ist geradezu widerlich auf Touren und spürt die Fluktuationen des Nasdaq besser als seinen eigenen Puls.

Ich habe mir ein angemessen abtörnendes Outfit für die Vorstellung bei Abelhammer ausgesucht. Züchtig, anthrazit, kniebedeckend, die Schuhe einer sizilianischen Witwe: Der Look ist Maria von Trapp, ehe sie diese Schlafzimmergardinen zerschnitten hat.

Mein Beschluss, die Temperatur dieses Meetings ein paar Grad unter Null zu halten, schmilzt, als Jack Abelhammer eintritt. Anstelle des grauhaarigen Brooks-Brothers-Patriziers, den ich mir vorgestellt hatte, steht ein lässiger, gut gekleideter Typ etwa meines Alters vor mir, mit einem George-Clooney-Lächeln, das seine Augen erreicht, ehe die Mundwinkel so recht bei der Sache sind. Scheiße. Scheiße.

«Kate Reddy», sagt Abelhammer der Schreckliche, «es ist mir wirklich eine Freude, all die Zahlen, die Sie mir geschickt haben, mit einem Gesicht verbinden zu können.»

Soso. Ich informiere Salinger über die Entwicklung des Fonds während der letzten sechs Monate. Alles läuft bestens, bis eine von Jacks jungen Consultants – ein mürrischer Agent-Scully-Rotschopf – ihr Drahtgestell auf der Nase hochschiebt und sagt: «Darf ich fragen, warum Sie ein derartiges Gewicht auf Japan legen, wenn Ihre Prognosen für Japan so verhalten sind?»

«Ah, das ist eine Frage, die Umsicht verrät. Eine für Sie, Guy.»

Ich übergebe elegant an meinen Assistenten, nehme Platz und lehne mich zurück, um zu beobachten, wie der kleine Kriecher sich aus dieser Sache rauswindet. Checke lässig das Handy.

 

SMS von Paula Potts an Kate Reddy

Emly nch Hs gschckt wrdn. NISSEN.

Familie mss bhndlt wrdn.

Du auch!

Prost, Paula

 

Ich fasse es nicht, was ich da lese. Ich bin über den Atlantik gereist und habe Läuse eingeschleppt. Entschuldige mich und spurte aufs Klo. Im tiefseegrünen Licht des Waschraums für leitende Angestellte versuche ich meine Haare Strähne für Strähne zu untersuchen. Wie sehen Nissen aus? Mache eine Traube von Eiern in Scheitelnähe aus, sind vielleicht nur Schuppen. Kämme mir wie besessen die Haare.

Unmöglich, den vorab vereinbarten Termin für das Essen mit Abelhammer abzusagen. Kann nicht gut notfallmäßige Ungezieferbekämpfung als Entschuldigung anführen.

 

Brody’s Seafood Restaurant

19.30: Beim Essen sitze ich so aufrecht wie Queen Mary und halte Abstand zum Tisch. Habe eine quälende Vision von sich emsig in das Clam Chowder des Klienten abseilenden Nissen.

«Darf ich Sie in Ihr Hotel zurückbringen, Kate?», fragt Jack.

«Hm, gern, aber könnten wir an einem Drugstore halten. Ich brauche noch was.»

Seine Augenbrauen heben sich erwartungsvoll.

«Ich meine Shampoo. Ich muss mir die Haare waschen.»

«Jetzt? Sie wollen sich jetzt sofort die Haare waschen?»

«Ja. Ich muss mir London aus den Haaren wringen.»

Dasisses, Mädchen. Phantasievoll, aber nicht zu phantasievoll.

 

Gründe dafür, keine Affäre mit

Abelhammer anzufangen

  1. Habe Beine seit Halloween nicht epiliert.
  2. Nissen könnten auf seinen makellosen Harvard-Business-School-Schnitt überspringen.
  3. Wichtiger Klient, ergo unprofessionell.
  4. Bin verheiratet.
     

Sollte die Reihenfolge nicht eine ganz andere sein? 

Working Mum
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