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Der Preis

Mittwoch, 22.35: Debra ruft mich zu Hause an, was seltsam ist, weil wir dieser Tage kaum reden, nur noch mailen. Als ich ihre Stimme höre, weiß ich sofort, dass irgendwas nicht stimmt. Deshalb frage ich: Wie steht’s? Und mit einem tiefen Atemzug legt sie los: Ach, nur das Übliche, Jim wird über Ostern weg sein, um irgendeinen Deal unter Dach und Fach zu bringen, und sie muss die Kinder nach Suffolk zu ihrer Familie fahren, und ihr Vater hat einen Schlaganfall gehabt, und ihre Mutter tut so, als käme sie zurecht, aber sie schafft es nicht, und sie will Deb nicht damit belasten, weil Deb so viel zu tun hat und so eine wichtige Funktion innehat, und natürlich würde Deb sich gern um alles kümmern, aber sie hat in der Kanzlei so viel zu tun, wo sie es immer noch hinauszögern, ihr die volle Teilhaberschaft anzubieten, weil Pilbutt dieses Arschloch findet, «über meinem Engagement für die Kanzlei schwebe ein Fragezeichen», und sie hat diese Teilhaberschaft verdammt nochmal verdient, ehrlich, und dann hat Anka, das Kindermädchen, das bei ihnen ist, seit Felix ein Jahr alt ist, ihr Sachen gestohlen. Hat sie das mit dem Stehlen eigentlich schon erwähnt?

Nein, hat sie nicht.

Also, wenn sie ganz ehrlich sein soll, dann hatte sie es schon letzten Sommer gewusst, aber sie hatte es sich nicht eingestehen wollen, sie hat es nicht wissen wollen. Zuerst sind es nur kleine Bargeldbeträge gewesen, von denen sie dachte, sie hätte sie irgendwo im Haus liegen lassen, ganz begreiflich war ihr das nicht. Danach fingen andere Sachen an zu verschwinden, ein Walkman, ein silberner Bilderrahmen, diese niedliche kleine Kamera, die Jim aus Singapur mitgebracht hat. Na, die ganze Familie hat über den mopsenden Poltergeist Witze gemacht, und Deb hatte bessere Schlösser an den Türen anbringen lassen. Schließlich kann man ja nie wissen. Und dann, kurz vor Weihnachten, hat sie ihre Lederjacke verlegt, die wunderschöne, butterweiche von Nicole Farhi, deren Kauf überhaupt nicht zu rechtfertigen gewesen ist, und sie habe schwören können, dass sie sie nicht irgendwo liegen gelassen hat. Sie hat alle Restaurants angerufen, in denen sie gewesen ist, ihren Kleiderschrank geleert. Nichts. Mit Anka bittere Witze darüber gerissen, dass sie einen frühen Alzheimerschub habe, und Anka hat ihr eine Tasse Tee mit drei Stückchen Zucker gemacht – kein Wunder, dass Slovaken verfaulte Zähne haben – und ganz süß gesagt: «Ich glaube, Sie sind nur ein bisschen müde. Nicht verrückt.»

Deshalb hätte Debra es auch nie spitzgekriegt, wenn sie nicht eines Nachmittags schnell mal zwischen zwei Terminen zu Hause reingeschaut hätte. Als sie vor der Haustür nach den Schlüsseln fummelte, drehte sie sich um und sah Anka die Straße entlanggehen, sie schob Ruby im Buggy und trug die Lederjacke. Sie habe sich so schwach gefühlt, dass sie sich kaum noch rühren konnte, sagt Debra, aber sie schaffte es noch, sich hinter den Mülltonnen zu verstecken, damit Anka sie nicht entdeckte.

Dann, letzten Samstag, als Anka weg war, ist Deb in ihr Zimmer gegangen, wie eine Einbrecherin im eigenen Haus. Und da, im Schrank, und noch nicht mal ganz hinten versteckt, waren die Jacke und ein paar von Debs besseren Pullovern. In einer Schublade fand sie die Kamera und die Armbanduhr ihrer Großmutter, die mit dem kleinen silbernen Fisch als Minutenzeiger.

«Und was hast du zu ihr gesagt?»

«Nichts.»

«Aber, Deb, du musst was sagen.»

«Anka ist seit vier Jahren bei uns. Sie hat Felix an dem Tag ins Krankenhaus gebracht, an dem Ruby geboren wurde. Sie gehört zur Familie.»

«Familienmitglieder klauen dir in der Regel nicht deine Sachen und betrauern dann den Verlust mit dir.»

Ich bin schockiert, wie unbeteiligt die Stimme meiner Freundin klingt: der ganze Kampfgeist ausgetrieben.

«Ich hab darüber nachgedacht, Kate. Felix ist schon verunsichert genug, weil ich immer weg bin. Sein Ekzem wird immer schlimmer … Und er liebt Anka, das tut er wirklich.»

«Nun mach mal ’nen Punkt, sie ist eine Diebin und du bist ihr Boss. Im Job würdest du dir so was nicht bieten lassen.»

«Ich kann damit leben, dass sie mich beklaut, Kate. Ich kann nicht damit leben, wenn meine Kinder unglücklich sind. Genug von mir. Wie geht es dir?»

Ich hole tief Luft, und dann bremse ich mich. «Mir geht’s gut.»

Debra verabschiedet sich, aber nicht, ehe wir einen weiteren Lunchtermin vereinbart haben, den wir nicht einhalten werden. Ich schreibe ihren Namen trotzdem in meinen Kalender und male das doofe Smileygesicht drum herum, das Deb 1983 in unseren gemeinsamen Vorlesungsaufzeichnungen in Europäischer Geschichte immer an den Rand gemalt hat, wenn Josef Stalin erwähnt wurde. (Eine von uns musste in die Vorlesung, die andere durfte ausschlafen.)

Was ist der Preis, wenn man jemanden dafür bezahlt, den eigenen Kindern eine Mutter zu sein? Hat das je jemand durchkalkuliert? Ich rede nicht von Geld. Es kostet einen Haufen Geld, aber was ist mit dem anderen?

 

Donnerstag, 4.05: Emily weckt mich, um mir zu sagen, dass sie nicht schlafen kann. Und nun ist sie nicht allein damit. Ich fühle ihre Stirn, aber das Fieber ist nichts als die Aufregung wegen Disneyland/Paris, wohin wir uns im Laufe des Tages aufmachen werden, wenn ich all meine Sachen rechtzeitig erledigt kriege. Seit meine Tochter begriffen hat, dass das Schloss von Dornröschen am Ende ihrer Videos ein realer Ort ist, hat sie nach Disneyland gewollt.

Jetzt klettert sie neben mich ins Bett und flüstert: «Weiß Minnie Maus denn, wie ich heiße, Mama?» Natürlich, sage ich, und meine Tochter rollt sich auf Höhe meiner Lende ein und dämmert weg, während ich daliege und jede Sekunde wacher werde bei dem Versuch, mich an all das zu erinnern, das ich nicht vergessen darf: Ausweise, Tickets, Geld, Regenmäntel (selbstverständlich wird es regnen, es sind Feiertage), Puzzle/Buntstifte/Papier, falls wir im Tunnel stecken bleiben, gedörrte Aprikosen als nahrhaften Snack, Jelly Beans zur Bestechung, Schokoladenplätzchen für totale Zusammenbrüche.

Hat Mrs. Pankhurst nicht ein paar Worte darüber verloren, dass Frauen damit aufhören müssten, die den Männern dienende Kaste zu sein? Also, Emmeline, wir haben’s versucht, Mann, was haben wir’s versucht. Frauen machen jetzt dieselben Jobs wie Männer und sie machen sie genauso gut. Aber die ganze Zeit tragen Frauen Informationen mit sich herum, die ihnen einfach keine Ruhe lassen. Im Kopf einer berufstätigen Mutter, nehme ich mal an, geht’s jeden Tag so zu wie am Flughafen von Gatwick. Impfungen (impfen oder nicht impfen, das ist hier die Frage …), Stundenpläne, Schuhgrößen, Packen für die Ferien, Kinderbetreuung zirkulieren darin und warten auf weitere Instruktionen aus dem Kontrollturm. Wenn Frauen sie nicht sicher zur Landung brächten, na, dann würde die ganze Welt zum Teufel gehen, oder nicht?

 

12.27: Die Taube hat zwei Eier gelegt. Elliptisch im Profil und erstaunlich weiß mit einem leichten Blauschimmer. Mutter und Vater scheinen abwechselnd drauf zu sitzen. Das erinnert mich an die Schichten, die Richard und ich bei den Kindern schieben, wenn eins von ihnen krank ist.

Am Ende dieses Tages muss ich vier Berichte geschrieben, eine unglaubliche Menge Aktien abgestoßen (bei einbrechenden Märkten gehört es zur Politik der Firma, mehr auf Bares zu setzen) und eine Schar Schokoladenenten bei Thornton’s gekauft haben. Außerdem bereiten Momo und ich uns auf die Schlacht um einen weiteren ethischen Fond in Italien vor. Und ich hab von Jack heute Morgen noch nicht mal gehört und sehne mich danach, den kleinen Briefumschlag rechts oben auf dem Monitor aufblinken zu sehen, der mir sagt, dass er da draußen ist und an mich denkt, so wie ich an ihn denke.

(Was war das für ein Gefühl – vorher? Bevor ich auf Nachrichten von ihm gewartet habe. Ich tu nichts als warten. Entweder warten und seine letzte Nachricht lesen oder die Antwort darauf verfassen und dann wieder warten. Das ist kein Leben mehr, nur noch ein andauerndes Warten. Die Ungeduld ist wie Hunger. Auf den Bildschirm starren, die Wörter heraufbeschwören, ihn zum Sprechen bringen.)

 

Von: Kate Reddy
An: Jack Abelhammer
Jack, bist du da?

 

Von: Kate Reddy
An: Jack Abelhammer
WAS DENKST DU? Verdammt nochmal, sag was!!

 

Von: Kate Reddy
An: Jack Abelhammer
Hab ich was Verkehrtes gesagt?

 

Von: Kate Reddy
An: Jack Abelhammer
Hallo?

 

Von: Kate Reddy
An: Jack Abelhammer
Was kann es denn Wichtigeres geben, als mit mir zu reden?
xxxxxxxxxxxxx

 

Von: Jack Abelhammer
An: Kate Reddy
Dein Sklave bin ich, nimmer darf ich ruhn,
Um deines Winks gewärtig stets zu sein.
Wertlos ist meine Zeit und all mein Tun,
Bis du mich rufst, sie deinem Dienst zu weihn.

 

Von: Kate Reddy
An: Jack Abelhammer
Okay, ich vergebe dir. Das ist wunderschön. Sonett von Bill Gatespeare, stimmt’s. Aber lass uns eines klarstellen: nochmal ein Schweigen dieser Länge, und du bist in großen Schwierigkeiten. Genauer gesagt, du bist ein toter Mann.
Das ist ein Versprechen xxxx

 

Von: Jack Abelhammer
An: Kate Reddy
Ich finde Bill Gatespeare hat die emotionale Software für jede Gelegenheit … Was dich angeht, Katharine, bin ich bereits in großen Schwierigkeiten. Sollte meine Fondsmanagerin persönlich erscheinen, um mich umzubringen, werde ich sterben wie ein Mann.
Ich wusste, dass du mit den Kindern nach Disneyland fährst, deshalb dachte ich, dass du mit den Vorbereitungen alle Hände voll zu tun hast und Botschaften nicht willkommen sind. Ich versuche mir vorzustellen, dass du ohne mich glücklich bist, ohne dass es mich unglücklich macht.
Noch wag ich, dich durch Eifersucht zu kränken,
Wo du jetzt weilst, und was dein Treiben ist;
Still harrt dein Knecht, wagt traurig nur zu denken,
Wie du beglückst die andern, wo du bist.
Du schreibst liebevoll über die Kinder, wie Emily liest, wie Ben versucht mit dir zu reden, und ich weiß, dass du eine großartige Mutter bist. Du merkst so viel. Meine Mutter ist zu Hause geblieben, sie spielte Bridge und trank Wodka Martinis mit ihren Freundinnen. Sie war den ganzen Tag da, aber nie für uns drei. Romantisiere bloß nicht die Rolle der zu Hause bleibenden Mutter – man kann’s verbocken, ob man nun weit weg oder nah dran ist.
Weißt du, da du in meinem Kopf lebst, bist du sehr gut transportierbar. Ich stelle fest, dass ich die ganze Zeit mit dir rede. Das Schlimmste ist, dass ich anfange zu denken, dass du mich hören kannst.
Jack xxxxxxx

 

Von: Kate Reddy
An: Jack Abelhammer
Ich kann dich hören. 
Working Mum
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