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Eine Meinungsänderung

Es ist still hier draußen auf dem Sims. Ich kann das Hupen und Zischen der City unter mir hören, aber es wird gedämpft durch die Höhe, erstickt von einer Decke aus Luft.

Ich bin jetzt ganz nahe an der Taube. Ich kann sie sehen, und sie kann mich sehen. Sie macht ein leises gurrendes Geräusch, und ein wütender Schauer läuft ihr über den Nacken. Jeder Instinkt gebietet ihr wegzufliegen, jeder, nur nicht der, der ihr sagt, dass sie bei ihrem Küken bleiben muss. Eins ist geschlüpft, während ich in Sussex war. Es war schwierig, das Kleine vom Büro aus zu sehen, aber aus dieser Nähe habe ich einen guten Blick drauf. Man kann sich einfach nicht vorstellen, dass dieses Wesen eines Tages fliegen können wird. Es sieht nicht aus wie ein Vogel, eher wie eine verzerrte Skizze von einem Vogel. Schrumpelig und kahl wie alles Neugeborene wirkt es uralt, tausend Jahre alt.

Ich habe versucht, das Fenster aufzumachen und rauszulangen, aber vor lauter Dreifachverglasung kriegt man keins der Fenster in Nestnähe auf. Mir blieb also nichts anderes übrig, ich musste aus dem nächstliegenden Fenster klettern. Und jetzt schiebe ich meine Sammlung großer Bücher den Sims entlang. Die Bände sind sorgfältig nach Größe und Haltbarkeit ausgewählt worden:

 

The Square Meal: Ein Restaurantführer für die City
Börsenprognosen 2000
CFBC’s Global Directions für 1997, 98 und 99
Ein Bericht über die Pharmazeutische Industrie
Ein Langenscheidt-Italienisch-Sprachkurs, den ich angefangen und nie zu Ende gebracht habe
Zehn Naturgesetze des erfolgreichen Zeit- und Lebensmanagements: Erprobte Strategien zur Erhöhung der Produktivität und des inneren Friedens

 

Letzteren sollen die Vögel unbedingt bekommen. Für den Fall, dass die da draußen nicht so ganz fit sind, hab ich noch Das Handbuch der zukünftigen Finanzwelt draufgelegt, ein Werk, das so tief und interessant ist wie ein Rammbock. Es geht darum, einen Schutzwall um die Taube und ihr Nest zu bauen.

Als ich auf dem Rückweg von Jills Beerdigung war, hat Guy mich angerufen. Gute Nachrichten, sagte er, der Mann von der Hausverwaltung habe ihm mitgeteilt, der Falkner werde morgen vorbeikommen. Ich war diejenige, die gewollt hat, dass der Falke kommt, und nun will ich um jeden Preis, dass er wegbleibt.

Unten auf der Piazza, dreizehn Stockwerke tiefer, wird die Menge auf mich aufmerksam, die ersten Pendler zeigen mit Fingern auf die Frau auf dem Fenstersims. Wahrscheinlich fragen sie sich, ob ich ein Opfer der Rezession oder einer Herzensangelegenheit bin. Ein Börsenmakler hat sich neulich morgens in Moorgate vor den Zug geworfen und es nicht geschafft, er ist in diese Senke zwischen den Gleisen gefallen und vom Rettungsteam rausgezogen worden. Alle sagten, was für ein Wunder das sei, aber ich hab mich gefragt, wie es sich wohl anfühlt, wenn es einem so schlecht geht, dass man allem ein Ende setzen möchte, und auch das nicht hinkriegt. Würde es einem vorkommen wie eine Wiedergeburt oder wie der lebendige Tod?

Hinter mir driftet Candys Stimme aus dem Büro heran, keck wie immer, aber mit einem Hauch von Sorge.

«Kate, komm sofort wieder rein.»

«Ich kann nicht.»

«Schätzchen, so was ist meistens nur ein Hilfeschrei. Wir lieben dich doch alle.»

«Ich schrei nicht um Hilfe, ich will die Taube verstecken.»

«Kate?»

«Ich muss ihr helfen.»

«Warum?»

«Der Falke kommt.»

Ich kann tatsächlich hören, wie Candy schnaubt. «Es kommt immerzu irgendein Scheißfalke. Ich kann es nicht fassen, dass wir hier über einen blöden Vogel reden. Komm auf der Stelle rein, Kate Reddy, oder ich rufe den Sicherheitsdienst.»

Durch die Scheibe verfolgt eine Gruppe EMF-Angestellter meine Bemühungen und bricht in ironischen Jubel aus, als ich einen weiteren Band in Position bugsiere. Mein Blick fällt auf meine Hand, der Ehering glitzert, das Ekzem zieht sich die Knöchel entlang, und ich denke daran, was passieren würde, wenn ich fiele – Sehnen, Haut, Blut. Nein, gar nicht dran denken, nur die Festung mit Zehn Naturgesetze des erfolgreichen Zeit- und Lebensmanagements fertig stellen. Als ich über den Sims zurückkrieche, kann ich Candy sehen, die sich aus dem Fenster lehnt, und hinter ihr Guy. Furcht liegt nicht auf dem Gesicht meines Assistenten, aber etwas, das aussieht wie Hoffnung.

 

Von: Debra Richardson
An: Kate Reddy
Jim ist schon das zweite Wochenende in Folge weg. Bin mir nicht sicher, ob ich die Kinder ermorde, ehe sie mich ermorden. Er hat es mir überlassen, die Party für seinen 40. Geburtstag vorzubereiten – sagte bloß, ich solle «die üblichen Verdächtigen» einladen. Wie kommt es, dass er seinen Kopf von allem, was mit Heim und Familie zu tun hat, freimachen kann, wenn er an einem großen Deal dran ist – und ich nicht?
Ich nehme an, du hast erfasst, dass ich ein ganz klein wenig die Schnauze voll von ihm habe. Kennst du irgendwelche hinreißenden männlichen Singles? …
NEIN, BEANTWORTE DIESE FRAGE NICHT

 

Von: Kate Reddy
An: Debra Richardson
Frage: Was solltest du machen, wenn du siehst, dass dein Ex sich vor Schmerzen am Boden windet?
Antwort: Drück noch einmal ab, man kann ja nie wissen.
Du musst auf den Tisch hauen, sag Jim, dass dein Job kein Zeitvertreib ist. Er muss seinen Anteil tun etc. Übrigens, Richard ist zwar sehr hilfsbereit, aber letztendlich muss ich doch alles nochmal machen, nachdem er damit fertig ist … vielleicht ist es besser, wenn du es gleich selber erledigst???
Mache mir Sorgen um dich. Mache mir auch Sorgen um Candy. Hab ich dir erzählt, dass sie schwanger ist? Sie will nicht mal drüber reden. Tut so, als ob nichts mit ihr wäre. Komme mir selber ziemlich verrückt vor seit Jills Beerdigung. Habe auch gerade meinen Ruf als Firmenirre konsolidiert, indem ich auf den Fenstersims geklettert bin, um ein Taubenbaby zu retten.
Was ist der Sinn des Lebens? Bitte baldigst um Ratxxxxxxx

 

12.17: Momo und ich haben es geschafft. Rod hat die Nachricht letzte Nacht bekommen. Wir haben das Final in New Jersey gewonnen. Momo ist so aufgeregt, dass ihre Füße vom Boden abheben. Wie Emily macht sie buchstäblich Luftsprünge vor Freude.

«Du hast es geschafft, Kate, du hast es geschafft!»

«Nein, wir haben es geschafft. Du und ich, gemeinsam.»

Zum Feiern führt Rod das gesamte Team zum Lunch in ein Lokal im Leadenhall Market aus. Hier hat sich viel verändert, seit ich das letzte Mal hier war. Sandstein war offensichtlich das Material des letzten Jahres, jetzt ist alles aus glänzendem Glas, das sich in Form von pseudojapanischen Brücken über Bäche voller mauloffen starrender Karpfen schwingt, die nicht entscheiden können, ob sie Kunst oder Tellergericht sein sollen.

Rod wälzt sich neben mir auf einen Hocker; Chris Bunce sitzt Momo gegenüber. Gefällt mir überhaupt nicht, wie er sie ansieht, lüstern, verschlagen, mit feuchten Lippen, aber ihr scheint es Spaß zu machen, mit ihm zu flirten und die Macht auszuprobieren, die ihr neues Selbstbewusstsein mit sich bringt. Ich bemerke, wie ich die Salinger Foundation mehrmals erwähne, allein um des Vergnügens willen, Jacks Namen laut sagen zu können. Ich liebe es, seinen Namen zu hören oder zu sehen – auf Lastwagen, als Schriftzug an Läden. Jack Nicholson, Jack und die Bohnenstange. Sogar der Außenminister ist für mich attraktiver geworden, da er Jack heißt.

«Katie, was ist mit der Scheißtaube?», will Rod wissen, als der Hummer kommt. «Willst du sie als Brieftaube oder als Braten?»

«Ach, das war nur eine Aktion zur Propagierung ethischer Fonds. Gehört zu meinem neuen Auftrag, mich umweltfreundlicher zu verhalten.»

«Holla», sagt mein Boss und reißt sein Vollkornbrötchen mitten durch, «treibst du es nicht ein bisschen weit?»

Übrigens, sagt Rod, er habe da ein Geschäft im Auge, auf das er Momo und mich ansetzen will.

Gut, sage ich, aber da brauch ich Verstärkung.

«Ich kann nicht aufstocken», sagt Rod. «Du musst schon da raus und dir den verdammten Arsch aufreißen, Mädchen.» 

Working Mum
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