PROLOG

WANDERER IN ZWEI WELTEN

Außerhalb von Las Vegas, Nevada 15. März

 

Jon Bronlee öffnete die Tür einen Spalt und schielte auf den Parkplatz des Motels hinaus. Stoßstangen und Radkappen blinkten im grellen Licht der Sonne Nevadas und blendeten ihn, so dass er die Augen zusammenkniff. Auf einem verwitterten Telefonmast hockte eine Krähe und stieß ein heiseres Krächzen aus.

Nichts regte sich. Jedenfalls, soweit Jon das sehen konnte.

Er wünschte, er hätte diese verdammte Sicherheits-CD nie in seine Tasche gleiten lassen. Er wünschte sich, sie und den wattierten Umschlag, den er auf Moores Schreibtisch entdeckt hatte, nie aus dem Center geschmuggelt zu haben. Er wünschte sich, sie nie angeschaut zu haben.

Wie auf Kommando und zum hundertmillionsten Mal skandierte eine Stimme in seinem Kopf: Verkauf sie und mach verdammt viel Knete. Genug, um Jahrzehnte früher in Rente gehen zu können, genug, damit Nora und ich ein angenehmes Leben führen können, genug, um Kristi auf eine waffenfreie Privatschule zu schicken.

Die Gier war ein verdammt gewiefter Trickser, sie brachte einen dazu, nicht mehr an die Konsequenzen zu denken – du bist reich und lange über alle Berge, ehe jemand überhaupt etwas merkt –, bis es dann schlagartig steil bergab ging.

Sogar wahnsinnig steil bergab – ein echter Sturz Kopf voraus – , und plötzlich machte die Gier den Mund zu und sagte nichts mehr.

Die alptraumhaften Bilder, die die Sicherheitskamera der medizinischen Abteilung aufgezeichnet hatte, flackerten zum x-ten Mal vor Jons innerem Auge. Sie schienen sich auf seine Netzhaut eingebrannt zu haben. Die Schreie der Frau waren in seinem Gehirn auf Wiederholung geschaltet – eine Endlosschleife aus Schreien, die irgendwann abrupt in einem feuchten Gurgeln endete … und mit einem platschenden Spritzen.

Jon wünschte sich verzweifelt, er könne die Zeit zurückdrehen und nach Washington zurückkehren, zurück in jene Nacht, um die Ereignisse ungeschehen zu machen. Aber da er das nicht konnte …

Mit einem Kuvert unter dem Arm trat er ins Freie, und sofort begannen sich Schweißperlen auf seiner Stirn zu bilden. Er nahm einen Hauch Old Spice wahr, als sein Deo seine Arbeit aufnahm. Das metallische Knattern eines Dieselmotors hallte durch die heiße, flirrende Luft, als jemand auf dem Highway hinter dem Motel herunterschaltete – es klang wie ein Stahlfass auf einer Teerdecke.

Er eilte zum Motelempfang hinüber, stieß die Tür auf und trat ein. Angenehm kühle Ventilatorluft schlug ihm entgegen. Er blieb an der Theke stehen. Ein nach Schweiß stinkender Mann mit Halbglatze drückte seinen fetten Bauch gegen die Rezeptionstheke.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Jon legte den Umschlag auf die Theke. »Können Sie das für mich aufgeben?«

»Jo.«

»Klasse.« Jon bohrte den Finger in die Polsterung des Umschlags.

Der Mann schnappte sich den Umschlag mit einem Seufzer, schlenderte zu einem Kasten mit der Aufschrift »Post« am Ende der Theke und warf ihn ein.

Jon murmelte seinen Dank und verließ die Rezeption. Eilig kehrte er in sein Zimmer zurück. Dort legte er die Kette vor und drehte den Schlüssel im Schloss, ehe er sich aufs Bett warf und an die Decke starrte, die voller Wasserflecken war. Er musste sich dringend überlegen, was er als Nächstes tun wollte. Aber sein Hirn weigerte sich. Statt nach vorn zu blicken, kreiste es in Gedanken immer wieder um das Center und schnüffelte den vergangenen Ereignissen wie ein Bluthund hinterher.

Während seiner zehn Jahre bei der behördenübergreifenden Reinigungstruppe hatte Jon natürlich seinen Anteil an Leichen beseitigt. Auch die Reinigung im Bush-Center für psychologische Forschung war zuerst nur wie ein Routinefall erschienen. Zwei tote Sicherheitsleute draußen im Schnee – einer mit durchtrennter Kehle, der andere mit gebrochener Wirbelsäule. Zwei weitere Leichen im Gebäude: ein toter Agent, ein toter Serienkiller. Es war unklar gewesen, wer oder was den Agenten getötet hatte, aber den Killer hatten Kugeln getötet.

Die Routine hatte in der medizinischen Abteilung ein plötzliches Ende gefunden.

In einem Untersuchungszimmer, das unerklärlicherweise voller blauer, sich windender Dornenranken gewesen war.

In einer Lache aus Flüssigkeit auf dem gefliesten Boden geendet.

Bei dem Gedanken brannte Magensäure in Jons Kehle, und er schluckte. Er versuchte, den Schrei zu verdrängen, der sich schrill in sein Bewusstsein bohrte. Es gelang ihm nur, ihn etwas zu dämpfen. Er fragte sich, wie es wohl sein musste, in dieses blasse, schöne Gesicht zu blicken, während man sich langsam auflöste.

Moore hatte geschrien. Laut, lang und … flüssig.

Ein schwarzer Gedanke huschte durch Jons ruhelosen Geist: Vielleicht hatte er den Datenträger finden sollen. Vielleicht war es Schicksal gewesen und nicht nur Gier. Hatte möglicherweise jemand seine Hand gelenkt?

Während des Aufräumens hatte seine Mannschaft festgestellt, dass ein Blitzeinschlag oder etwas Ähnliches den Trafo des Gebäudes lahmgelegt haben musste. Der Einschlag hatte fast alles verbrannt: die Computer, die Sicherheitskameras – alles außer den Kameras in der medizinischen Abteilung; anscheinend waren sie an ein anderes Stromnetz angeschlossen gewesen.

Dann hatte Neugier oder Gier oder das verdammte Schicksal Jons Finger dazu gebracht, nach der CD zu greifen …

In den Tagen nach der Reinigungsaktion waren die Mitarbeiter seines Teams einer nach dem anderen gestorben. Plötzlicher Herzinfarkt, wie tragisch! Ehemann erwischt Ehefrau mit einem anderen im Bett, erschießt zuerst sie und dann sich. Ist das nicht unfassbar? Schwer verschuldet, Selbstmord, Mann, unglaublich!

Ja. Ja, das war es. Unglaublich.

Jon war geflohen. Er war von einem zwielichtigen Motel zum nächsten gefahren und war inzwischen so verängstigt, dass er kaum wagte, in den Rückspiegel zu blicken oder auch nur aus dem Fenster einer Gaststätte, nachdem er dort hastig ein Essen hinuntergeschlungen hatte. Er fürchtete sich, wen er draußen entdecken könnte.

Er hatte überlegt, die CD den Medien zu übergeben, bis ihm klargeworden war, dass sie ihn vermutlich für einen Wahnsinnigen halten würden, der zu viel Zeit und die neueste Version von Videobearbeitungssoftware zum Herumspielen hatte. Er hatte sogar in Erwägung gezogen, sie dem Center zurückzuschicken, doch er nahm an, dazu sei es bereits zu spät und eine solche Geste inzwischen zu wenig. Erst am Vorabend war ihm endlich klargeworden, was er tun und wer die CD sehen musste.

Dr. Robert Wells.

Auch nachdem Wells in Rente gegangen war und sowohl das Center als auch das FBI verlassen hatte, um nach Oregon zu ziehen, hatte Jon Kontakt zu ihm gehalten. Sein Töchterchen, die honigblonde Kristi, lebte und war gesund, weil Dr. Wells sie genetisch behandelt hatte, während sie noch im Leib ihrer Mutter Nora gewesen war – ein verformtes Embryo, zum sicheren Tod verurteilt. Jon stand tief in der Schuld des Arztes – eine Schuld, die er nie ganz begleichen könnte. Er hoffte, dass die CD und ihr Inhalt helfen würden, Wells die Möglichkeit zu geben, sich auf das Bevorstehende vorzubereiten und es so vielleicht zu überleben.

Schließlich war Bad Seed Wells’ Schöpfung gewesen. Wenn es jemanden gab, der wusste, wie man Dante oder S oder wie auch immer dieser Kerl heißen mochte, im Zaum halten konnte, dann war das der Doktor.

Jon schloss die brennenden Augen und betete, sein Untertauchen möge wenigstens Nora und Kristi das Leben gerettet haben.

Fingerknöchel klopften an seine Tür.

Jon riss die Augen auf, sein Herz raste. Ein Schatten verdeckte den Wasserfleck an der Decke. Er war anscheinend eingeschlafen, denn im Zimmer war es inzwischen dunkler. Wieder klopfte es, und eine klangvolle, selbstbewusste Stimme rief seinen Namen. »Bronlee? Hier ist Cortini. Öffnen Sie die Tür. Wir müssen reden.«

Jon schlug das Herz bis zum Hals. Er setzte sich kerzengerade auf, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und versuchte nachzudenken. Cortini. Er sah sie vor sich: schulterlanges, kaffeebraunes Haar, haselnussbraune Augen, elfenartiges Gesicht, schlanke Figur. Attraktiv. Es ging das Gerücht, sie sei Vampirin. Oder die Freundin eines Vampirs.

Er hatte von der Existenz der Vampire erfahren, als er der Reinigungstruppe beigetreten war. Erstaunlich, wie schnell er sich an die Realität gewöhnt hatte, nachdem man ihm diese Tatsache erst einmal wie eine Grapefruithälfte ins Gesicht gepresst hatte.

Aber Vampirin oder nicht war derzeit nicht das Problem. Das Problem war, dass Caterina Cortina dafür zuständig war, Unerledigtes zum Abschluss zu bringen, und er stellte etwas gewaltig Unerledigtes dar. Wie ging nochmal dieser Spruch: »Wenn du Gott siehst, bist du im Himmel. Wenn du den Teufel siehst, bist du in der Hölle. Wenn du Cortini siehst, bist du tot.«

Wieder rüttelte sie am Türknauf. »Bronlee, wir müssen wirklich reden. «

»Einen Augenblick noch«, krächzte er. »Muss noch schnell meine Hose finden!«

Jon sprang auf und schlich ins Badezimmer, wo er leise die Tür hinter sich schloss, ehe er sich auf die Toilette stellte und mühsam das Fensterchen aufstieß. Er hielt sich am glatten, gekachelten Fensterbrett fest, zog sich hoch und zwängte sich durch die Öffnung.

Obwohl nur noch die Abenddämmerung den Horizont erhellte, schlug ihm die dumpfe Hitze auf dem Parkplatz ins Gesicht. Er schnaubte, als er die Gerüche des heißes Asphalts, des Sands und der Autoabgase einatmete. Dann sprang er auf den Boden.

»Sieht aus, als hätten Sie Ihre Hose gefunden.«

Jon fuhr herum. Cortini stand auf dem Asphalt, eine Hüfte nach vorn geschoben, die behandschuhten Hände hingen an den Seiten herab. Sein Herz begann wieder zu rasen. Vor seine Augen schob sich eine Art Schleier, und seine Knie wurden weich. Eine Hand legte sich um seinen Oberarm, damit er nicht das Gleichgewicht verlor.

»Atmen«, sagte sie. »Langsam und tief weiteratmen.«

Da er keine andere Wahl hatte, folgte er Cortinis Anweisung. Nach einem Augenblick sah er wieder klarer, und sein galoppierender Herzschlag verwandelte sich in einen langsameren Trab. Er richtete sich auf. Doch Cortini ließ nicht los. Ihre Finger fühlten sich wie Metall um seinen Arm an. Er bemerkte die Ausbeulung eines Pistolenhalfters unter ihrer leichten Kostümjacke.

»Wissen Sie, warum ich hier bin?«, fragte sie.

Jon überlegte einen Augenblick, ob er lügen sollte. Er überlegte, ob es besser wäre, den Unwissenden zu markieren. Aber als er in Cortinis Augen sah, wusste er, dass es sinnlos war. »Ist es von Bedeutung, warum ich es genommen habe?«

»Nein. Nicht wirklich.«

Jon nickte. Schluckte schwer.

Cortini schob eine Hand in die Jackentasche. »Aber ich glaube, es ist von Bedeutung, dass Ihre ganze Arbeitsgruppe tot ist, weil Sie es genommen haben.«

Cortinis Worte trafen ihn wie eine harte Rechte ans Kinn. Er schloss die Augen. Nickte abermals. »Tut mir leid.«

»Erklären Sie ihnen das, wenn Sie einander wiedersehen.«

Etwas in ihrer Stimme ließ Jon die Augen wieder öffnen; etwas Erschöpftes, Unheilvolles und Verzagtes. Ihre Finger lösten sich von seinem Arm. Sie zog einen Schalldämpfer aus der Tasche.

»Gehen wir rein und plaudern«, sagte sie leise.

Jon wusste, er hatte nichts mehr zu verlieren und raste los. Seine Keds trommelten auf den Asphalt, als er über den Parkplatz hastete. Auf dem Grünstreifen neben dem Highway kam er ins Straucheln. In seinen Ohren dröhnte es. Er keuchte außer Atem.

Das Donnern des Dieselmotors eines Sattelschleppers, der auf der Fahrbahn entlangraste, hallte in seinen Ohren wider. Scheinwerfer erhellten die Straße wie zwei Sonnen, die mit jedem Schritt, den Jon machte, greller wurden. Keine Hände griffen nach ihm, um ihn zurückzureißen. Cortini rief nicht seinen Namen. Er rannte auf den Highway, direkt vor diese riesengroßen Scheinwerfer.

Quietschende Bremsen und schlitternde Reifen machten nicht ausreichend Lärm, um den feuchten Laut des Schreis aus seiner Erinnerung zu streichen, den Johanna Moore mit ihrem letzten Atemzug ausgestoßen hatte.

Stand ihm das gleiche Schicksal bevor?

Der Geruch verbrannten Gummis stieg ihm in die Nase. Vor seinen Augen wurde es noch heller. Jon blieb zitternd stehen, wandte sich dem LKW zu und schloss die Augen.

 

Caterina beobachtete, wie der LKW, unter dessen riesengroßen Reifen schwarze Rauchwolken aufstiegen, in Bronlee hineinraste. Bronlee knallte wie ein zu tief fliegender Junikäfer gegen den Kühlergrill. Dann stürzte sein Körper unter den Wagen, und die Reifen verschmierten das, was von ihm übrig war, über den Highway, ehe der LKW zum Stehen kam. Der Gestank verbrannten Gummis und gekochten Blutes breitete sich in Sekundenschnelle aus.

Caterina schob die Glock in ihr Holster zurück, drehte sich um und ging über den Seitenstreifen mit dem Unkraut und den Salbeibüschen zurück zum Motel. Die Türen der Zimmer standen offen. Einige Leute hatten sich vor dem Gebäude versammelt und starrten auf den Highway und den Sattelschlepper, der quer auf der Fahrbahn stand. Ein erzürnt dreinblickender Mann sprach in sein Mobiltelefon.

Mit einem elektronischen Dietrich schloss sie die Tür zu Bronlees Zimmer auf. Mit einem schmalen Metallstäbchen öffnete sie die Kette und glitt hinein. Sie drückte die Tür mit der Schulter zu und sah sich um: offener Koffer auf einer Kommode, zerknitterter Bettüberwurf, Laptop auf dem Tisch neben einem Fenster mit Vorhang.

Der Raum roch muffig. Nach Desinfektionsmittel und kaltem Rauch. Nach Hoffnungslosigkeit.

Die Scheinwerfer des Sattelschleppers beleuchten Bronlees Gestalt, als er sich umdreht und ihnen entgegenblickt.

Caterina blinzelte das Bild weg. Wer zum Teufel ließ sich lieber auf abscheuliche Weise überfahren, als eine saubere Kugel in den Kopf zu bekommen?

Sie ging zum Laptop hinüber und klappte ihn zu. Dann wandte sie sich dem Koffer zu und durchwühlte die zerknitterten T-Shirts, Jeans und Boxershorts. Leere Postkarte. Ein paar Fotos. Sie nahm eines davon. Ein pummeliges kleines Mädchen von etwa zehn oder elf Jahren, dessen lachendes Gesicht von braunen Locken umrahmt war und das auf einer Schaukel saß. Mit den Fingern ihrer rechten Hand bildete sie ein V – das Siegeszeichen.

Das mit deinem Daddy tut mir leid, Kleine.

Caterina legte das Foto zurück und fuhr fort, den Koffer zu durchsuchen. Nirgends eine Sicherheits-CD. Aber dafür fand sie einen Umschlag mit dem Absender BUSH-CENTER FÜR PSYCHOLOGISCHE FORSCHUNG. Sie zog ihn heraus und klappte den Koffer zu.

Der Adressat, ordentlich mit schwarzem Filzstift geschrieben, war DANTE PREJEAN. Caterina erkannte die flüssige Handschrift – eine aussterbende Kunst im einundzwanzigsten Jahrhundert – als die Dr. Johanna Moores, stellvertretende Leiterin der Abteilung für Spezialeinsätze und führende Verhaltensforscherin, die seit einiger Zeit verschwunden war.

Caterina runzelte die Stirn. Gehörte dieser Dante Prejean nicht zu Bad Seed? War er nicht eins der Studienobjekte gewesen?

Sie wusste nicht viel über das Projekt, weil sie nichts darüber wissen musste; ihr Job verlangte es nicht. Trotzdem hatte sie gehört, es handle sich um eine Studie über die Entwicklung und Beobachtung von Psychopathen, die zehn Jahre lang durchgeführt worden war, ehe sie zwei Wochen zuvor mit einem lauten, hässlichen Knall und einer ganzen Reihe von Leichen in zwei Städten zu einem abrupten Ende gekommen war – in New Orleans und in Washington.

Was also wollte die vermisste Dr. Johanna Moore einem ihrer Studienobjekte schicken? Caterina spähte in den offenen Umschlag und entdeckte eine silbern glitzernde CD.

Interessant.

Caterina durchsuchte das Zimmer nach anderen Dingen, die Bronlee möglicherweise gestohlen hatte, konnte aber nichts finden. Sie kehrte zur Kommode zurück und nahm den Koffer. Sie klemmte den Laptop unter den Arm und verließ den abgestanden riechenden, leeren Raum.

Schnellen Schrittes überquerte sie den Parkplatz, während Sirenengeheul die heiße Wüstennacht zerriss. Blau-weiß-rote Lichter kreisten und erleuchteten die Menge, die sich am Rand des Highways versammelt hatte.

Caterina warf den Koffer in den Kofferraum ihres gemieteten Chargers. Sie setzte sich hinters Lenkrad und legte Laptop und Umschlag auf den Beifahrersitz. Ohne eine Sekunde zu zögern, verließ sie den Parkplatz des Motels und fuhr östlich in Richtung Interstate.

Die Scheinwerfer des Sattelschleppers beleuchten Bronlees Gestalt, als er sich umdreht und ihnen entgegenblickt.

Jemand oder etwas außer Caterina hatte ihn derart verängstigt, dass er lieber auf den Highway und vor den LKW gerannt war – etwas Unbekanntes, und das verstörte sie.

Bronlee hatte nicht versucht, sich herauszureden. Er hatte nicht versucht, sie zu schmieren oder mit ihr zu verhandeln. Er hatte nicht einmal das kleine Mädchen auf der Schaukel erwähnt, und obwohl das bedeutete, dass er die CD bereits weitergeschickt oder verkauft hatte, erklärte das nicht sein Verhalten.

Als Caterina den Charger vom dunklen Highway auf die Autobahnauffahrt der I-15 lenkte und aufs Gas trat, kreiste immer wieder ein Warum durch ihren Kopf. Warum gehörte nicht zu ihren Aufgaben. Es hätte nicht einmal zu ihrem Wortschatz gehören sollen, und bisher war das auch nie ein Problem gewesen.

Bisher.

Sie hätte schwören können, Erleichterung auf Bronlees Gesicht gesehen zu haben, als er sich dem Sattelschlepper zuwandte.

Ihre Hände schlossen sich fester um das Lenkrad. Sie versuchte, sich auf die Straßen und die weißen verschwommenen Linien zu konzentrieren, die seitlich an ihr vorbeisausten. Warum?, dröhnte und surrte es in ihrem Inneren wie eine Fliege, die zwischen zwei Fenstern gefangen war. Sie schaltete das Radio an, und eine Musik mit Country-Anklängen drang aus den Lautsprechern.

Das Dröhnen und Surren wurde leiser, als sie den Worten des Songs lauschte:

I hear the train’s lovely whistle blow
And I pour another drink
I lift a glass to you, Joe
Because of you my heart is on the brink …

Die Reifen des Chargers fraßen Kilometer, und ein Lied nach dem anderen rollte durch Caterinas Kopf. Als sie das blaue Schild mit dem Wort RASTPLATZ sah, bog sie ab, lenkte den Wagen auf die andere Seite der Toiletten und parkte.

Caterina lauschte dem Klicken und Knacken des Motors, während sich dieser abkühlte. Sie kurbelte die Scheibe herunter. Der trockene Geruch von heißem Sand und Autoabgasen waberte herein.

Sie musste an die Worte ihrer Mutter denken: Du wandelst in zwei Welten, Caterina. Gefährlichen Welten. Vergiss das nie. Als Kind hast du eine Wahrheit erfahren, von der die meisten Sterblichen nie etwas wissen – dass sie nicht allein sind. Also musst du auf deinen Instinkt vertrauen, cara mia. Immer auf deinen Instinkt.

Caterina löste den Sicherheitsgurt und nahm den Umschlag vom Beifahrersitz. Sie schüttelte die CD heraus, klappte den Rechner auf und schaltete ihn ein. Dann schob sie die CD ins Laufwerk.

Eine Dateiliste öffnete sich auf dem Bildschirm, jeweils nach mit einem Buchstaben des Alphabets benannt. Caterina klopfte sich mit einem Finger gegen die Unterlippe, während sie die Dateinamen musterte. Dr. Moore hatte den Umschlag an Dante Prejean adressiert. Wie hatte Special Agent Bennington Prejean während seiner Einsatznachbesprechung in Washington genannt?

Dr. Moore hat uns – damit meine ich Agent Garth und mich – gewarnt, E und S seien auf dem Weg nach Hause, begleitet von Thomas Ronin. Aber Ronin tauchte nie auf. Nur E, S und ein weiterer Verdächtiger.

E war Elroy Jordan gewesen.

Caterina öffnete die Datei mit dem Buchstaben »S« und begann zu lesen.