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ES WIRD NACHT

Seattle, Washington · 24. März

 

Bäh-bäh-bäh! Ich bin unterwegs und habe Spaß! Hinterlass eine beschissene Nachricht! Oder auch nicht!

Heather machte sich nicht die Mühe, auf den Anrufbeantworter zu sprechen. Sie legte auf und warf ihr Mobiltelefon frustriert auf das ungemachte Bett. »Scheiße!« Sie war ziemlich sicher, dass sich Annie aus dem Staub gemacht hatte, weil sie Lyons’ Bemerkung über ihren Vater gehört hatte.

Sie weiß nicht, dass ich Dad die Schuld gebe, nicht ihr.

Aber das war nicht mal das Schlimmste. Annie hatte Dantes Reisetasche durchwühlt, ehe sie aus dem Fenster geklettert war, und hatte seinen iPod, zwei Shirts, eine Flasche Absinth und sein Song-Tagebuch mitgehen lassen.

»Scheiße, sie kann das ganze andere Zeug behalten. Das Einzige, was mir etwas bedeutet, ist das Tagebuch«, hatte Dante erklärt und dann die Achseln gezuckt. Für ihn schien das nicht schlimm zu sein. Zumindest tat er so. Doch Heather konnte in seiner Stimme hören, wie wichtig ihm das Tagebuch war.

Irgendwie hatte sie das Gefühl, als hätte Annie instinktiv genau gewusst, wie sie Dante am meisten verletzen konnte. Vielleicht, weil auch sie Musikerin war. Heather war sich nicht sicher, warum Annie Dante verletzen wollte – vielleicht, um herauszufinden, ob sie es konnte, oder vielleicht auch, weil sie ihn mochte. Vielleicht ging es aber auch nicht um Dante, sondern um Heather.

Vielleicht war es auch eine Mischung aus alldem.

Heather mochte in der Lage sein, die Identität eines Mörders aufzuspüren, seine Motive zu entschlüsseln und manchmal sogar seinen nächsten Zug vorherzusagen. Aber ihre kleine Schwester verstand sie nicht, ganz gleich, wie sehr sie sich auch bemühte.

Heather ließ sich aufs Bett fallen und rieb sich das Gesicht. Sie war sauer und todmüde. Annie konnte überall sein, mit irgendjemandem, und was auch immer tun. Doch die Zeit wurde immer knapper. Für sie, für Dante, für Annie. Heather weigerte sich, ihre Schwester zurückzulassen, da sie sicher war, dass ihr Vater sie prompt wieder für seine eigenen Zwecke benutzen würde.

Die Schattenabteilung existiert. Es lief ihr eiskalt den Rücken herunter.

Dr. Robert Wells …

Obwohl Dante nichts gesagt hatte, wusste sie, dass ihn Lyons’ Worte – Jede Minute, die Sie meinen Vater am Leben lassen, wird ihr Gerechtigkeit versagt – tief getroffen hatten. Er wollte sich Dr. Wells vorknöpfen, und sie konnte es ihm nicht übelnehmen. Doch es war unmöglich. Wie sollte er an den Mann herankommen, wenn er sich nicht einmal seinen Namen merken konnte?

Dante kam zu ihr ins Schlafzimmer. Sein Haar war von der Dusche noch feucht, um seine Hüfte war ein himmelblaues Badehandtuch geschlungen. »Immer noch nichts?«, fragte er.

Heather seufzte und schüttelte den Kopf. »Sie könnte auf dem Weg nach Portland sein. Dort hat sie eine kleine Wohnung, und unser Vater ist auch da. Möglicherweise will sie ihn zur Rede stellen.«

»Ja, möglicherweise.« Dante nahm das Handtuch ab und hängte es an den Türknauf. »Ich an ihrer Stelle würde das tun, und du garantiert auch.«

»Werde ich eventuell immer noch.« Ihr Puls raste, als sie Dante zusah, wie er sich anzog. Die Muskeln unter seiner bleichen Haut waren deutlich zu sehen. Sie wünschte sich, ihn länger hüllenlos erleben zu können und dass sie Zeit hätten, noch einmal miteinander zu spielen.

Dante zog seine schwarze Lederhose und ein dunkelviolettes Lackhemd, das mit dunklen, über Kreuz laufenden Latexbändern und Metallschnallen verziert war, an. Er setzte sich neben sie. Sie nahm einen schwachen Hauch ihres Geißblattshampoos wahr – ebenso wie seinen typischen Duft nach Herbst.

»Wir werden sie finden«, versprach er und legte ihr einen Arm um die Schultern.

Heather schloss die Augen und lehnte sich an ihn. »Du musst mit den Jungs heimfliegen«, sagte sie. »Hier bist du nicht sicher. «

»Sag mir nicht, was ich tun muss, chérie. Ich lasse dich nicht allein.«

»Lyons könnte das alles erfunden haben.«

»Der verlogene Lyons. Höchstwahrscheinlich – ja. Aber nicht alles. Ich glaube, was dich betrifft, hat er die Wahrheit gesagt. Ich lasse dich nicht allein.«

»Stur.«

»Ach, und du nicht?« Dante strich ihr mit der Rückseite seiner Finger über die Wange. »Wohin willst du eigentlich?«

Heather öffnete die Augen. »Ehrlich gesagt weiß ich das noch nicht. Nur raus aus Seattle. Mein Bruder ist in New York, aber ich will ihm nicht auch noch Probleme bereiten oder Schlimmeres.«

»Wie wäre es, wenn du, Annie und Eerie mit nach New Orleans kommt? Ihr könntet bei mir bleiben, bis es wieder sicherer für dich ist«, sagte Dante. »Ich bin schließlich der Grund, warum du dich in dieser verdammten Situation befindest. Lass mich dir helfen, Heather.«

»Das ist nicht deine Schuld.« Sie sah in seine dunklen Augen und sein hübsches Gesicht. Es war klar, dass er anderer Ansicht war. »Ich bin da reingeraten, weil ich meinen Job gemacht habe, und ich bereue nichts. Wir stecken zusammen da drin.«

»Dann lass uns auch zusammen kämpfen, catin

Zusammen kämpfen und den anderen schützen. Es fühlte sich richtig an, genau wie bei Vespers hinter der Bühne, als sie seinen Schlaf bewacht hatte. Ein einfacher, natürlicher Rhythmus pulsierte zwischen ihnen – elektrisch, elementar und dunkel wie die Finsternis der Nachtgeschöpfe. Sie berührte die Stelle, wo die Kugel in ihre Brust eingedrungen war. Er hatte keine Ahnung, wie besonders er tatsächlich war.

»Ich muss das erst mit Eerie klären. Wenn er dagegen ist …« Sie zuckte die Achseln.

Dantes Mund zuckte amüsiert. Ein freches Lächeln erhellte sein Gesicht, und ein verdammt aufregendes dazu. »Ich habe ihm versprochen, er könnte im Flieger meinen Platz haben.«

»Das kannst du?«

»Etwas versprechen?«

»Nein, das andere.«

»Ja. Erste Klasse, und Eerie-Minou kann in seinem Katzenkorb auf meinem bezahlten Sitz abhängen.«

»Gute Idee«, meinte Heather. »Das wäre weniger stressig für ihn.«

»Oui.«

»Wir können die Jungs zum Flughafen bringen, zurückkommen, die Kartons einladen, die ich gepackt habe, und dann nach Portland fahren«, meinte Heather, während sie überlegte. »Wir finden Annie, fahren mit ihr nach New Orleans und bleiben tagsüber in Motels.« Sie strich mit dem Finger über Dantes Kinn, bis sie seine Lippen berührte. Seine Lippen waren geformt wie Amors Bogen. Er küsste ihre Fingerspitze. »Das könnte klappen.«

»Je pense bien, besonders, da du es laut ausgesprochen hast«, erwiderte Dante. »Von hat mir erklärt, alles, was man aus vollem Herzen meint und sagt, habe auch Macht. Etwas Ausgesprochenes oder etwas, was man sich ganz stark wünscht, nehme im Herzen Gestalt an und werde dann auch wahr.«

»Das gefällt mir«, sagte Heather sanft. Sie legte ihre Hand in ihren Schoß. »Das gefällt mir sehr, und ich stelle mir gerne vor, es sei wahr.«

»Ich auch.«

»Dann sage ich das auch laut: Ich habe den USB-Stick eingesteckt, den Lyons zurückgelassen hat«, erklärte sie. »Wenn du so weit bist, sehen wir uns das zusammen an. Vielleicht hilft es dir, deine Vergangenheit anzusehen, um dich an noch mehr zu erinnern.« Ganz heimlich wünschte sie sich allerdings, er müsse nicht sehen, welche grauenhaften, bösen Dinge Wells und Moore ihm angetan hatten.

»Bon, chérie. Ich will es wissen.«

»Was passiert ist?«

»Was ich getan habe. Was ich wurde. Wer ich bin.«

Heather holte tief Atem. »Dante, kein …«

»In mir beginnen sich Dinge aufzulösen und ihr wahres Gesicht zu zeigen. Ich spüre es, und ich kämpfe dagegen an, aber …«

»Nichts aber. Ich vertraue dir.«

»Tu’s nicht.«

Diese kurzen Worte, ausgesprochen mit einer heiseren Stimme, verschlugen ihr fast den Atem – als wäre ihr ein Eimer mit Eiswasser über den Kopf geschüttet worden. Plötzlich sah sie ihn wieder auf der Bühne des Vespers vor sich, in Vons Armen. Sie hörte ihn fragen: Ich habe doch niemandem wehgetan, oder?

»Ich habe zwar gesehen, wie du eine Frau in ihre Bestandteile aufgelöst hast, aber du hast mir auch das Leben gerettet und Eerie sein viertes Bein zurückgegeben«, sagte sie, griff nach seiner Hand und schob ihre Finger zwischen die seinen. »Du würdest dich für die, die du liebst, jederzeit opfern, ohne eine Sekunde nachzudenken. Dein Herz hat mich erobert, Dante – nicht dein Gesicht. Du brauchst Heilung, und vielleicht wirst du auch nie ganz heilen. Aber du musst das nicht alleine tun.«

»T’es sûr de sa?« Seine geheimnisvollen Augen sahen sie fragend an.

»Ja. Für den Augenblick. Also hör auf.« Heather streichelte ihm übers Haar und strich eine feuchte Strähne hinter sein Ohr mit den vielen silbernen Ringen. »Zeit zu gehen.«

Dante küsste sie. Es war ein heißblütiger, langer Kuss, der heiße Wellen durch ihren Bauch jagte, während sie den Amaretto-Geschmack genoss. Als er sich wieder von ihr löste, hob er ihre noch immer verschränkten Hände, küsste Heathers Finger und ließ sie dann los. Er bückte sich, zog seine Socken an und schlüpfte in seine Stiefel. Schließlich stand er auf und streckte ihr die Hand entgegen – eine Hand, die sie gerne nahm.

In ihrem Herzen nahm eine neue Zukunft Gestalt an.

 

Sheridan wurde einen Moment lang panisch, als ein Taxi vor Wallaces Haus hielt. Drei Männer, von denen keiner Prejean war, kamen aus dem Haus, luden ihr Gepäck in den Kofferraum des Wagens und stiegen dann ein.

Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen, und sein Hemd begann, an seinem Rücken zu kleben. Würde er seine Chance verpassen? Wenn Prejean bereits weg war und nach New Orleans zurückkehrte, dann würde auch er dorthin reisen und den Vampir auf seinem eigenen Territorium jagen müssen. Diese Vorstellung gefiel ihm ganz und gar nicht – und immer noch kein Anzeichen von Cortini. Er hielt es für möglich, dass sie darauf wartete, Wallace allein zu erwischen.

Vielleicht beobachtete ja auch sie in diesem Augenblick das Haus.

Sheridans Herz schlug noch schneller, und einen Augenblick lang stockte ihm der Atem. Zu viele Muntermacher, zu viele Stunden in diesem SUV, schwitzend und nervös, einen Pfefferminz-Kaugummi nach dem anderen kauend.

Er sah auf den Minimonitor in seiner Hand. Er zitterte mit jedem flatterigen Schlag seines Herzens. Wallace und der Mann mit den Dreads trugen eine Kiste aus dem Haus. Sie öffnete den Kofferraum ihres Trans Am. Prejean und jemand, der wie ein punkiger Teenager aussah, schleppten zwei Koffer zu dem offen stehenden Kofferraum.

Prejean brach tatsächlich auf.

»Dreck«, fluchte Sheridan.

Dann rief der Teenager laut: »Was ist mit deiner Tasche?«

Prejean schüttelte den Kopf. »Lass sie da. Wir kommen zurück, um Heathers Kram zu holen. Dann nehme ich sie mit.«

Der Junge nickte und stieg hinten in den Wagen ein.

Wir kommen zurück …

Sheridan atmete auf und wischte sich mit dem Hemdsärmel über sein schweißfeuchtes Gesicht. Er hoffte inbrünstig, dass Prejean nur sich und Wallace meinte. Er nahm an, er werde den Tod Wallaces vor Rutgers als Kollateralschaden erklären können, wenn es so weit kam. Er musste nur sichergehen, Prejean zu überraschen und mit dem ersten Schuss außer Gefecht zu setzen. Wenn ihm das nicht gelang, würde er wohl kaum lange genug leben, um einen zweiten abzugeben.

 

Alex zog ein schwarz-weißes Notizbuch aus Annies Sporttasche und blätterte es durch. Er las die Songtexte, die in einer krakeligen Schrift auf das weiße Papier geschrieben waren und ausgesprochen schön und einprägsam klangen. Er musste zugeben, dass Dante wirklich ein Poet war, ein Dichter düsterer Zeilen. Er durchblätterte die Seiten voller musikalischer Kompositionen – zahlreiche Takte und Akkorde, neben die manchmal etwas gezeichnet war oder ein Hinweis stand: Hier mit den Drums einsetzen; Loops für den Bass; Falsett-Refrain …

Alex klappte das Buch zu und warf es in die Sporttasche zurück. Er fuhr fort, die nach Lavendel duftenden Klamotten nach dem anderen Gegenstand zu durchsuchen, den Annie entwendet und von dem sie so stolz erzählt hatte. Seine Finger fanden die einfache Flasche und zogen sie heraus.

In seinem Kopf wisperten Athenas Worte: Grünes Wasser der Erinnerung. Er braucht das grüne Wasser.

Vor Aufregung wurde ihm ganz heiß, als er die noch geschlossene Flasche mit der grünlichen Flüssigkeit betrachtete. Obwohl er sich kaum vorstellen konnte, welche Rolle der Absinth bei Dantes Rückkehr in seine Vergangenheit spielen sollte, wusste er, dass Athenas Visionen immer richtig waren.

Er schob die Flasche mit Alkohol zwischen die parfürmierten Unterhöschen zurück und zog dann den Reißverschluss der Tasche zu. Vorsichtig stellte er sie auf den Boden zwischen Annies Füße, die noch immer in Stiefeln steckten.

Sie war sehr gesprächig gewesen, als sie ins Auto eingestiegen war, war von Thema zu Thema gesprungen wie eine Spiralfeder von Stufe zu Stufe. Ständig wechselte sie das Thema mitten im Satz. Einen furchtbaren Augenblick lang hatte er befürchtet, dass auch sie zu flüstern anfangen würde, um mit den immer schneller dahinrasenden Gedanken in ihrem Kopf mithalten zu können.

Dann war dieser Augenblick vorübergegangen, und sein Puls hatte wieder langsamer geschlagen. Das war nicht Athena, sondern Annie. Einen kurzen Moment lang bedauerte er sie. Ihr Geist war tatsächlich fast genauso zerstört wie der seiner Schwester.

Annie hatte immer wieder mit einer Faust gegen ihre Stirn getrommelt, bis Alex verstand, dass sie Schmerzen hatte und eine Spritze wahrscheinlich mehr als willkommen heißen würde.

Es war leicht gewesen, eine dunkle, schlecht beleuchtete Straße zu finden, wo er parken konnte.

Als er die Nadel in ihren Hals bohrt, erklärt er: Das ist nichts Persönliches. Ich will Dante.

Annie lacht depressiv: Stell dich gefälligst hinten an, Arschloch.

Alex drückt den Kolben herunter.

Er wickelte Kabelbinder um Annies Hand- und Fußgelenke. Nachdem er ihr eine blaurote Haarsträhne von den Lippen gestrichen hatte, klebte er ihr ein breites Stück Panzerband über den Mund. Mit ihrem Handy machte er ein Foto von ihr, steckte das Handy in die Tasche seiner Kapuzenjacke und stieg aus dem Dodge Ram. Er löste die Gummis der schwarzen Plane, mit denen sie an der Pritsche befestigt war, schlug sie zurück.

Mit Annie über der Schulter kehrte er zur Wagenpritsche zurück und legte das Mädchen so behutsam, wie er konnte, darauf. Ihr Kopf schlug gegen das gerippte Metall, wodurch ihr die bunten Haaren ins Gesicht fielen, aber sie rührte sich nicht. Sie würde sich noch stundenlang nicht rühren.

Alex zog die Abdeckplane wieder zu und machte die Gummizüge fest. Dann lehnte er sich gegen das Auto und zündete sich eine Winston an. Einige Augenblicke lang rauchte er schweigend. Er konnte nur hoffen, dass er sich in Dantes Gefühlen für Heather nicht getäuscht hatte. Doch trotz dieser Gefühle konnte es passieren, dass ihm der Blutgeborene eine klare Abfuhr erteilte.

Alex holte sein Mobiltelefon aus der Tasche und rief Athena an. Nach sechsmal Klingeln schaltete sich ihre Voicemail an, eine Ansage, die er vor Jahren einmal für sie aufgenommen hatte: Sie haben die Mailbox von Dr. Athena Wells erreicht. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.

Alex’ Magen verkrampfte sich, und er wählte die Mobilnummer seines Vaters und dann die des Festnetzes. Sechsmal klingeln – Anrufbeantworter. Vielleicht war sie zu sehr damit beschäftigt, auf ihrem Computer die Aufnahmen aus dem Center anzusehen, um das Telefon zu hören. Oder sie achtete einfach nicht auf das Klingeln.

Er wünschte sich, er und Athena könnten auch über eine solch große Entfernung telepathisch kommunizieren, wie das die Vampire vermochten. Aber sie hatten schmerzlich erfahren müssen, dass sie nicht in der Lage waren, ins Bewusstsein des anderen und einer dritten Person einzudringen, wenn sie sich nicht in der Nähe befanden.

Er sog ein letztes Mal an seiner Zigarette. Der Rauch kratzte in seinem Hals, und er schnipste die Kippe in eine Pfütze. Dann drückte er auf die rote Taste und klappte das Handy zu, ehe er es wieder einsteckte. Er stieg in den Dodge Ram und ließ den Motor an. Die kraftvolle Maschine erwachte zum Leben, und ihr Geräusch hallte von den Mauern der Gebäude in der Nebenstraße wider.

Selbst wenn Athena das Klingeln des Telefons ignorierte, hätte die Seiltänzerin abheben sollen. Sie würde wissen wollen, wie er vorankam, da auch ihr viel daran gelegen schien, seinen Vater Dante auszuliefern.

Oder konnte sie nicht abheben.

Vielleicht hatte Athena beschlossen, ein weiteres Experiment durchzuführen.

 

Während der Trans Am in einer Ladezone vor dem Hauptterminal des Flughafens Sea-Tac im Leerlauf lief, verabschiedete sich Heather von Jack, Eli und Antoine. Sie umarmte die Männer, ehe sie Silver die Hand hinstreckte. Er nahm sie mit einem schiefen Lächeln.

»Ich hoffe, Sie finden Annie bald«, sagte er. Seine bizarren silbernen Augen funkelten wie Sonnenlicht auf einer Wasseroberfläche. »Sie ist cool, aber innerlich total roh und seelenwund. Man muss sie behutsam behandeln.«

Heather nickte. Seine Einsicht überraschte sie. »Stimmt. Danke.«

Silver zuckte die Achseln und trat dann zu den Jungs, während sich Dante die schwarze Kapuze seines Pullis hochgezogen hatte, um sein Gesicht zu verdecken, mit Küssen und gemurmelten Worten verabschiedete.

»Er hat mich gebeten, alle heimzubringen und sicherzustellen, dass sie dort heil ankommen«, sagte Von und trat von hinten an Heather herab. Seine Augen waren auf Dante gerichtet. »Aber ich hasse es, ihn zurückzulassen. Wenn ich nur an die Migräne und die Anfälle denke …« Er schüttelte den Kopf.

»Hat er je erwähnt, was Jordan ihm in dem Van angetan hat?«

»Nein. Hat kein Wort darüber verloren.«

»Das ist noch etwas, was er nicht allein mit sich ausmachen sollte«, flüsterte sie.

»Ja, viel Glück dabei, ihn davon zu überzeugen.« Der Nomad bückte sich und durchwühlte den wettergegerbten olivgrünen Rucksack, der zwischen seinen gestiefelten Füßen stand. Er holte etwas heraus und richtete sich wieder auf. »Hier, Püppchen. « In der Hand hatte er den schwarzen Behälter mit dem Reißverschluss. »Das wirst du brauchen.«

Heather nahm das Kunststofftäschchen. Ihr war plötzlich kalt. »Danke. Ich hoffe aber, dass ich es nicht einsetzen muss.«

Von schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Schatz, aber das wirst du.«

Heather holte eine ihrer Visitenkarten heraus und gab sie Von. »Da ist meine Handynummer drauf«, erläuterte sie. »Ruf mich jederzeit an. Wenn ihr wieder zu Hause seid, lass es mich bitte wissen, und ich teile dir mit, wie wir vorankommen und wo wir den Tag verbringen.«

Der Nomad nickte. »Gut.« Er schob die Karte in die Innentasche seiner Lederjacke.

Sie nahm einen Hauch von spröden Herbstblättern wahr, und schon stand Dante neben ihr und legte ihr einen Arm um die Taille. »Guten Flug, mon ami. Danke, dass du die anderen heimbringst. Merci beaucoup für alles.«

»Nein, ich danke dir. Du hast mir geholfen, mein lebenslanges Ziel zu erreichen, Roadie zu werden«, antwortete Von trocken. Dann zeigte sich in seinen grünlichen Augen eine zärtliche Wärme. Er schob Dantes Kapuze zurück und nahm dessen bleiches Gesicht in beide rauen Hände. »Zeig es ihnen, kleiner Bruder.« Dann beugte er sich vor und küsste ihn.

Zeig es ihnen.

Heather verstand, dass Von damit nicht den voyeuristischen Reiz zweier sich küssender Männer meinte, sondern ihm erklärte, er solle seine Schönheit nicht unter einer Kapuze verbergen. Außerdem meinte er wohl damit auch, wer und was Dante war: Musiker, Freund, Blutgeborener und Gefallener.

Einmalig. Voller Zauber und Schönheit, mit einem großen Herzen und gleichzeitig düster, wild, ungezähmt – und tödlich.

Lass sie dich sehen.

Er hat Recht, aber noch nicht, dachte Heather. Erst wenn ihm sein Leben ganz und gar selbst gehört.

Die beiden lösten sich voneinander, und der Nomad verabschiedete sich von Dante mit einem Schlag auf den Rücken. »Pass auf dich auf, kleiner Bruder«, sagte er. Dann gab er Heather einen gutmütigen Stoß mit der Schulter, den sie erwiderte. »Wollen mal sehen, ob du deine wundervolle Schlägerfrau davor bewahren kannst, in allzu viele Schwierigkeiten zu geraten.«

Dante schnaubte. Wies auf sich. »Gas.« Dann wies er auf Heather. »Streichholz.« Dann zwinkerte er ihr zu, als Von lachte. »Sobald wir Annie gefunden haben, kommen wir nach.«

Von sah ihm noch einen Moment lang in die Augen, und Heather wusste, dass die beiden über ihr Bewusstsein miteinander kommunizierten. Etwas Trauriges überschattete plötzlich Dantes ungeschütztes Gesicht, und er blickte weg. Seine Kiefermuskeln zuckten.

Von beobachtete ihn und seufzte. »Wie ein gottverdammter störrischer Esel.« Er sah Heather an. »Gute Reise, Püppchen. Wir sehen uns in ein oder zwei Wochen.«

»Pass auf Eerie auf«, antwortete sie.

Von schnaubte. »Dieser Kater hat Eli schon lange um die Pfote gewickelt.«

Heather schmunzelte. »So ist er, mein Junge.«

Von gab den Jungs ein Zeichen, und die fünf schritten zum Eingang des Terminals. Dort blieben sie einen Augenblick stehen, da Von zwei Nomads grüßte, die auf großen Feuerstühlen vor dem Flughafen saßen.

Dante löste seine Sonnenbrille vom Kragen seines Hemdes und setzte sie auf. Er sah Heather an. »Finden wir Annie.«

 

»Verdammter Mist«, murmelte Dante. Er hasste es, festgebunden oder eingesperrt zu sein. Also machte er seinen Sicherheitsgurt auf und rutschte unruhig ein wenig auf dem Sitz herum. Seine Lederhose knarzte auf dem Plastik, und er zog einen Fuß hoch. Schon besser.

Heather sah ihn an. »An dieses Gesicht will ich mich erinnern«, sagte sie und richtete dann die Augen wieder auf die Straße. »Das Gesicht vor dem Unfall.«

»Dann bau keinen«, entgegnete Dante grinsend.

Das volltönende Dröhnen des Trans-Am-Motors füllte die Stille. Doch es war keine Stille, die seltsam oder angestrengt war, wie Dante feststellte, den Blick auf Heathers Gesicht gerichtet. Auch ohne zu sprechen fühlten sie sich in der Gesellschaft des anderen wohl, zufrieden mit ihren eigenen Gedanken, und genau das war gefährlich.

Es würde es noch schwerer machen, sie zu verlassen, wenn die Zeit gekommen war, wenn er sich sicher sein konnte, dass weder das FBI noch sonst jemand sie noch jagte.

Ihm fielen die Worte ein, die Von am Flughafen in seinen Geist gesandt hatte: Leugne nicht, was dir dein Herz verrät, kleiner Bruder.

Ich muss. Sie wird sterben, wenn ich es nicht leugne.

Nein, Dante …

Plötzlich unterbrach ein Lied die Stille. Es war eine ziemlich blechern klingende Version von Rob Zombies »Living Dead Girl«.

»Das ist Annies Klingelton«, sagte Heather atemlos. »Mein Mobiltelefon ist in meiner Tasche.« Sie lenkte den Trans Am auf den Seitenstreifen. »Sprich mit ihr, bis ich anhalte.«

Dante drehte sich um, holte Heathers Tasche von der Rückbank und fischte das Mobiltelefon heraus. Er klappte es auf. »Annie?«

Der Trans Am blieb stehen, und Heather zog die Handbremse an.

»Nein, aber Sie sind auch nicht der, den ich erwartet habe.« Alex Lyons’ Stimme war unaufgeregt und herzlich. »Allerdings wollte ich ohnehin mit Ihnen sprechen.«

»Fi’de garce«, fluchte Dante. »Wo ist Annie?«

Heather starrte ihn an. In ihrem Gesicht spiegelte sich Angst. »Wer ist das?«

»Der verlogene Lyons«, entgegnete Dante. »Wo zum Teufel ist Annie?«

»Sie ist bei mir, und es geht ihr gut – zumindest für den Augenblick. «

»Gib mir das Telefon«, sagte Heather und streckte die Hand aus. Die Angst war aus ihrem Gesicht verschwunden, aber ihre Hand zitterte. Dante reichte ihr das Mobiltelefon.

»Was haben Sie mit Annie gemacht?«

Heathers Gesichtsausdruck verkrampfte sich, während sie Lyons’ Worten am anderen Ende der Leitung lauschte. Dante fuhr sich durchs Haar. Annie steckte in Schwierigkeiten. In großen Schwierigkeiten. Seinetwegen.

Er hätte Lyons ermorden sollen, als er die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Er hätte ihm den Hals aufreißen und sich an seinem Blut laben sollen.

Heather nahm das Handy vom Ohr. Es gab ein Piepgeräusch von sich, und sie betrachtete das Bild, das auf dem winzigen Monitor erschien. Einen Augenblick lang stockte ihr der Atem. Dann hielt sie Dante wortlos das Telefon hin, so dass auch er die Aufnahme sehen konnte.

Auf dem Bildschirm war ein Bild von Annie. Sie hatte die Augen geschlossen, und auf ihrem Mund klebte Panzerband. Dante begann, vor Zorn zu zittern.

»Er will mit dir reden«, sagte Heather mit angespannter Stimme.

Dante nahm das Handy. Er wusste, was sie dachte, denn er dachte das Gleiche. »Woher wissen wir, dass sie noch lebt?«, fragte er.

»Da werden Sie einfach meinem Wort vertrauen müssen«, antwortete Lyons. »Sie lebt, und wenn das so bleiben soll, müssen Sie sich mit mir treffen.«

»Wo?«

»In Heathers Haus. Wenn Sie in zehn Minuten nicht da sind, stirbt Annie.« Lyons legte auf.

Dante klappte das Mobiltelefon zu und steckte es in Heathers Tasche zurück. »In zehn Minuten bei dir daheim«, erklärte er.

Heather nickte mit zusammengebissenen Zähnen. Sie löste die Handbremse, legte den ersten Gang ein und raste so schnell sie konnte los. Dante lauschte dem nervösen Rhythmus ihres Herzens. Adrenalin würzte ihren Duft, so dass die übliche Süße des Flieders im Regen nun von einem scharfen Stahlgeruch unterlegt war.

»Halt durch, p’tite«, wisperte Dante. Er wünschte es ihr von ganzem Herzen. Eine Erinnerung schoss ihm durch den Kopf, und einen Moment lang sah er nur noch weißes Licht.

Jay in einer Zwangsjacke, sterbend auf dem kalten Boden des Schlachthauses … Blut läuft aus seinem aufgeschlitzten Hals, färbt sein blondes Haar rot und bildet eine immer größer werdende Lache um seinen Kopf …

Auch Jay hatte er gesagt, er solle durchhalten. Dantes Hände ballten sich zu Fäusten. Er weigerte sich, Annies Namen auf die lange Liste derer zu setzen, die er im Stich gelassen hatte.

»Er will mich«, erklärte er, »und er kann mich haben. Sobald er dir Annie übergibt, verschwindet ihr aus Seattle und fahrt wie geplant nach New Orleans. «

»Ich werde nicht erlauben, dass du dich opferst«, antwortete Heather mit gepresster Stimme. »Wir müssen uns etwas überlegen. Das ist kein guter Plan.«

»Er will, dass ich diese Athena heile. Mir wird er nichts tun.«

»Ich werde nicht zulassen, dass Lyons mit dir wegfährt.«

Dante zuckte die Achseln. »Dann töte ich ihn, sobald sich die Gelegenheit dazu ergibt.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil du zwei Spritzen mit ausreichend Morphium vorbereitest, um einen Sterblichen einige Stunden lang in Tiefschlaf zu versetzen. Darum. Wer von uns zuerst an ihn rankommt, verpasst ihm die Spritze. Glaubst du, du schaffst es, in seinen Geist einzudringen, um herauszufinden, wo Annie ist?«

» Ja, das sollte kein Problem sein. «

Weißes Licht tanzte am Rand von Dantes Sichtfeld, und ein stechender Schmerz bohrte sich in seine Schläfen und kratzte hinter seinem linken Auge. Er zwang sich, nicht darauf zu achten. Hoffentlich würde ihm das noch etwas länger gelingen – und wenn nicht? Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken, als er daran dachte.

Ich muss sie benutzen, ehe sie überhandnehmen.

»Versprich mir, dass beide Spritzen nicht tödlich sind.«

Dante sah Heather einen Augenblick lang an. Er spürte die Anspannung in ihrem Körper und sah das Vertrauen in ihren Augen. Sie wusste, dass er nie log. Also fasste er hinter sich, nahm die schwarze Tasche und zog den Reißverschluss auf. Er holte eine Spritze heraus und nahm die Kappe von der Nadel.

»Ich verspreche gar nichts.« Tief in ihm begannen Wespen zu summen.

Er würde alles tun, um Heather und Annie zu retten – egal, welchen Preis er dafür bezahlen musste.