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EIN ZARTES, DÜSTERES LIED

New Orleans, St. Louis Nr. 3 · 15. März

 

Lucien De Noir stand bewegungslos auf dem mondbeschienenen Weg. Dantes wütende Worte – dafür müssen sie mich erst ermorden – trommelten wie Fäuste aus Messing auf ihn ein. Er holte tief Luft und zwang sich, sich zu entspannen. Langsam lockerte er die verkrampften Finger.

Möglicherweise würde es tatsächlich bald nötig sein, seinen starrköpfigen Sohn zu überwältigen, zu Boden zu werfen und sich so lange auf ihn zu setzen, bis er zur Vernunft kam – wie das Von einige Nächte zuvor vorgeschlagen hatte.

Länger als ein oder zwei Wochen wirst du bestimmt nicht auf ihm sitzen bleiben müssen, hatte Von gesagt, ohne zu lächeln. Höchstens drei. Er ist schließlich dein Sohn.

Ich bin geduldig, antwortet Lucien, nicht starrköpfig.

Von lacht.

Lucien beugte sich herab und durchsuchte die zusammengefalteten Papiere zu Lokis Füßen nach Dantes Gebet mit dem blutbefleckten Kuss. Als er den Zettel entdeckte, hob er ihn hoch und richtete sich auf. Die schwächer werdende Essenz des magischen Creawdwr-Bluts streifte seine Finger. Er faltete die Rechnung aus der Wein- und Spirituosenhandlung auf und las die Worte, die Dante mit seiner Linkshänderschrift darauf geschrieben hatte.

Beschütze sie, ma mère. S’il te plaît, schütze sie. Auch vor mir.

Lucien las das Gebet, bis die Worte vor seinen Augen verschwammen. Er schloss die Finger, und das Papier in seiner Hand knisterte. Wen Dante mit sie meinte, wusste er ziemlich sicher: Special Agent Heather Wallace.

Sein Kind mochte verletzt und versehrt sein. Aber sein Herz war unbeschädigt und – wie es schien – in eine Sterbliche verliebt. Vielleicht würde Heather Wallace in der Lage sein, ihn zu halten, zu binden und ihm zu helfen, nicht in Wahnvorstellungen abzudriften.

Denn Wahnvorstellungen drohten dem Creawdwr, der nicht gebunden war.

Bis Dante wieder zugänglicher wurde und ihm vergab, würde Lucien seinen Sohn nicht lehren können, wie er seine Gaben kontrollieren und sinnvoll einsetzen konnte. Er würde ihm nicht helfen können, innerlich im Gleichgewicht zu bleiben, da seine Kraft als Creawdwr ungebremst durch seinen Geist und sein Herz toben konnte. Er würde ihm nicht die Kraft geben können, gegen die Wahnvorstellungen anzukämpfen und sie zu besiegen.

Er war nicht der Einzige, dem Dante nicht verzeihen wollte. Auch sich selbst konnte er nicht vergeben. Er wollte noch immer für Dinge büßen, die er als Kind getan hatte, als er damit beschäftigt gewesen war, zu überleben – Dinge, an die er sich nicht einmal richtig erinnern konnte. Es war eine Zerknirschung, die er nicht empfinden musste, wie Lucien meinte.

Er musterte Dantes Schöpfung, den Blumenstrauß, den sein Kind hatte entstehen lassen. Die Blumen mit den weichen Blütenblättern in Lokis Händen tanzten wie von einer leichten Brise hin und her bewegt. Dornenranken schlangen sich um Arme, Nacken und Flügel des Steinwesens. Der Duft von Weihrauch oder Myrrhe stieg aus jeder schwarz glänzenden Blüte auf und verbreitete sich in der Luft wie Mitternachtsparfüm.

Eine Melodie, zart und düster, erklang aus dem Bukett und erhob sich in die Nacht.

Dantes Energie spielte mit Luciens Herz und leuchtete in den sternenübersäten Himmel hinauf – ein Lichtstrahl, den jeder Elohim bemerken würde, der sich zufällig in der Nähe aufhielt. Lucien lief es eiskalt den Rücken hinunter. Er richtete sich auf und lauschte in die Nacht. Er horchte, ob er ein Wybrcathl vernahm. Lauschte auf das Rauschen von Flügeln, während sein Herz kaum kräftiger schlug als das Lokis, das von Stein umschlossen war.

Er blickte erneut zu Lokis geduckter, schreiender Gestalt hinüber. Die Zeit wurde knapp. Bald würde der, der Loki geschickt hatte, seine Abwesenheit bemerken.

Seit Jahwes Tod über zweitausend Jahre zuvor hatten die Elohim auf das Erscheinen eines neuen Creawdwrs gewartet. Doch nur Lucien wusste, dass das Warten seit beinahe vierundzwanzig Jahren ein Ende hatte, als ein neuer Schöpfer das Licht der Welt erblickt hatte – ein Creawdwr, wie es noch nie einen gegeben hatte, halb Vampir und halb Gefallener.

Bisher wusste das nur Lucien, und er wollte, dass das auch so lange wie irgend möglich so blieb.

Behutsam zog er den Blumenstrauß aus Lokis Händen und löste die schwarzen Dornenranken von dem hellen Stein. Tumultartig stiegen Glockenklänge auf – eine helle, unfügsam anmutende Melodie, die an Kristalle erinnerte. Die dunklen Ranken glitten von Lokis Arm und Hals. Das Lied wurde leiser und verstummte.

Ein herrliches Lied. Ein Lied, das er im Mississippi ertränken würde.

Lucien steckte Dantes Gebet in seine dunkle Hose und spreizte die Flügel. Ein Windstoß löschte die letzten noch brennenden Kerzen und verstreute die Papierfetzen mit den Gebeten auf dem Friedhofspfad.

Gerade als er seine Flügel ganz gespreizt hatte und begann, in den dunklen Himmel aufzusteigen, vernahm er den Herzschlag eines anderen Wesens. Es war ein kräftiger, regelmäßiger Rhythmus, den Lucien kannte. Er verweilte schwebend über dem Hauptweg des Friedhofs und ließ seinen Blick durch das Buschwerk und die Bäume wandern.

Sie trat aus dem Schatten einer Zypresse. Fließendes nachtblaues Haar, milchweiße Haut und intensiv strahlende Augen. Ein weinrotes Kleid schmiegte sich um ihre Kurven. Auf dem Rücken hatte sie ihre schwarzen Flügel zusammengefaltet.

Rubine funkelten in dem schmalen Wendelring um ihren Hals und den goldenen Reifen, die ihre schlanken Handgelenke zierten. Ein kaltes Lächeln umspielte ihre Lippen – Lippen in der Farbe roten Weines, der im Mondlicht funkelte, und ebenso berauschend.

»Kein Lied, um mich zu begrüßen, mein Cydymaith?«, fragte Lilith.

Ohne ein Wort wirbelte Lucien herum und schnellte in den Himmel empor. Dantes dunkle Blumen begannen wieder zu singen, als der Wind ihre Blüten liebkoste. Lucien musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Lilith ihm folgte. Er hörte das mächtige Rauschen, als auch sie sich in die Luft erhob. Bisher war es ihm noch immer gelungen, sie abzuhängen, und er konnte nur hoffen, dass er dazu auch jetzt in der Lage war. Rasch flog er auf die breite, nachtschwarze Schleife des Mississippis zu, während ihm kalte Luft ins Gesicht schlug.

Die Lichter der Stadt leuchteten grell wie Scheinwerfer zu ihm herauf. Nur im östlichem Teil der Stadt lag ein Bereich wie ausgestorben im Dunklen; dort war früher einmal das Viertel Ninth Ward gewesen, das inzwischen jedoch nach Tod und Verfall stank. Vévés, Gris-gris und geweihte Kerzen bewachten seine verzauberten Grenzen, um das andere, unwissende New Orleans vor den verbitterten und wütenden Geistern zu beschützen, die dort gefangen waren und auf ewig festsaßen, auf ewig auf Hilfe warteten, die niemals kommen würde.

Auf Luciens Gesicht begannen sich feuchte Tropfen zu sammeln, als er nach Süden auf den Mississippi zuflog. Mondlicht spiegelte sich auf der Wasseroberfläche, und die tiefroten und gelben Lichter von Schiffen beleuchteten den langsam dahinfließenden Fluss.

Aus dem Augenwinkel nahm er etwas Schwarzrotes war. Lilith hatte ihn erreicht und flog nun neben ihm. Ihre Flügel rauschten sanft durch die Nacht.

So viel zum Abhängen, dachte er trocken.

Zarte Töne stiegen klar und trällernd in die Luft. Einen kurzen Moment lang, in dem ihm beinahe das Herz stehenblieb, schienen die vergangenen Jahrhunderte von ihm abzufallen, und Lucien glaubte, wieder durch den tiefblauen Himmel Gehennas zu fliegen, begleitet von seiner strahlenden und wunderschönen Cydymaith, die ihr kompliziertes Lied tirilierte.

Das Getöse eines Flugzeugmotors über ihnen beendete schlagartig diese Illusion, und er kehrte wieder in die Gegenwart viele Jahrhunderte später zurück. Doch die singende Lilith war kein Wunschbild gewesen. Ihr verzagtes Wybrcathl erfüllte die Luft und damit auch Luciens Herz.

Was sie aber sang, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.

Gehenna verging. Es war ein Land, das zu lange ohne den starken, stützenden Einfluss eines Creawdwr hatte auskommen müssen. Die Grenze zwischen den Welten verschwamm immer mehr, und schon bald würden die Elohim zu den Sterblichen zurückkehren, um sie für alle Zeit zu unterdrücken.

Dann würden die Kämpfe um Macht und Einfluss endgültig beginnen.