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NEKROPOLE

New Orleans, St. Louis Nr. 3 · 15. März

 

»Also, wo soll jetzt dieser seltsame Hoodoo-Zauber sein?«, fragte Von.

»Neben einem Grab«, antwortete Dante, während sie über das verschlossene Eisentor des Friedhofs kletterten. Beiden fiel es leicht, die schwarzen Gitterstäbe zu überwinden und auf der anderen Seite des Tors auf den Kiesweg hinabzuspringen.

»Ja, schon. Aber neben welchem Grab?«

»Neben Baronnes, glaube ich«, sagte Dante und schob seine Kapuze zurück. Er wählte den gepflasterten mittleren Weg und folgte ihm an schimmernd weißen Grüften vorbei. Lustvoll sog er die Luft ein, die nach Kirschblüten roch. Doch in dem süßen Geruch schwang ein Hauch von Verfall, schimmeligen Knochen und uralter Trauer mit.

»Diese Friedhöfe in New Orleans sind so verdammt unheimlich«, meinte Von. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie bei Tageslicht aussehen.«

»Warst du denn nie hier, als du noch sterblich warst?«

»Zum Teufel – nein«, entgegnete Von. »Wie gesagt: unheimlich. Vor allem für ein zartes Pflänzchen wie moi.« Er hielt inne und legte einen Finger ans Ohr. »Warte … Die neuesten Nachrichten. Ich muss mich korrigieren, anscheinend bin ich doch kein zartes Pflänzchen.« Er zuckte die Achseln. »Wer hätte das gedacht? Mama muss mich belogen haben.«

Dante lachte. »Ja, du wirst uns im Tourbus viel Spaß machen. «

»Mann, ich mache immer Spaß, und wir sollten wirklich bald zum Flughafen aufbrechen.«

»Ja, ich weiß.«

Dante las im Vorbeigehen die Namen auf den Grabsteinen – DUFOUR, GALLIER, ROUQUETTE – und lauschte dem leisen Pulsschlag, der ihn nach St. Louis Nr. 3 geführt hatte. Als er die Buchstaben BA entdeckte, blieb er schlagartig stehen.

Er hört den Klang seiner eigenen Stimme, die heiser und fordernd in der Stille der Kathedrale widerhallt: »Wie hieß sie … Genevieve und wie noch?«

Dantes Fäuste ballten sich, während er gegen die Erinnerung ankämpfte. Er schloss die Augen. In seinen Adern loderte ein Feuer. Brannte in seinem Herzen. Er öffnete die Augen. Fahles Mondlicht fiel zwischen den dicken, knorrigen Eichen hindurch, von denen Louisianamoos herabhing.

»Baptiste«, murmelte er.

Alles in Ordnung, kleiner Bruder?, sendete Von.

Dante nickte. Er sah auf das Grab und las den Namen zu Ende, der in den weißen Grabstein gemeißelt war: BASTILLE. Er atmete aus. Seine Hände entspannten sich, und ein Gefühl, das er nicht näher bestimmen konnte, durchflutete ihn und löschte die Flammen in seinem Inneren.

Hatte seine Mutter überhaupt ein Grab?

Eine Hand drückte seine Schulter. Er blickte auf und sah in Vons grünliche Augen, die im Mondlicht funkelten. Der Nomad hatte zur Abwechslung seine El-Diablo-Sonnenbrille auf die Stirn geschoben.

»Bist du sicher? Keine Schmerzen? Ich dachte …«

Dante umfasste Vons unrasiertes Gesicht. Er strich mit den Lippen über Vons Mund und schmeckte den Whiskey und den Staub der Straße, ehe er mit seinen Daumen über die Ränder des Schnurrbarts streichelte, der die Oberlippe des Nomad zierte.

»Mir geht’s gut, mon ami«, antwortete Dante, ließ die Hände sinken und löste sich aus Vons Griff, »und ein Kindermädchen brauche ich garantiert nicht.«

Von reckte den Mittelfinger in die Luft und zog eine Braue hoch. »Wie steht’s damit? Brauchst du den?« Er reckte auch den Mittelfinger der anderen Hand in die Luft. »Vielleicht noch mehr? Wie wär’s damit?«

»Nehme ich«, meinte Dante. »Gêné toi pas.«

Von zog seine Sonnenbrille wieder herab, schüttelte den Kopf und seufzte. »Der Junge ist echt ein hoffnungsloser Fall.«

»Merci.«

Als sie den mondbeschienenen Weg weiter entlanggingen, legte sich eine Stille auf die Stadt der Toten und trennte sie wie ein tiefer Graben von der Welt jenseits des Friedhofstors. Die Luft war so regungslos, dass das leise Klirren der Ketten auf Dantes Lederjacke und das Knarzen von Vons Lederchaps seltsam unwirklich widerhallten.

Doch in dieser Stille vernahm Dante einen schwachen Rhythmus, der ihn während der vergangenen zwei Wochen immer wieder begleitet hatte, wenn er in Schlaf gesunken war. Er hatte etwas Urtümliches – wie der Schlag einer Trommel, die den Herzschlag der Erde wiedergab.

Wie das stumme Lied, das ab und zu von Lucien in ihn floss und dessen komplizierte Melodie sich mit dem Refrain seines Antwortlieds vermengte. Es war ähnlich, aber nicht das Gleiche. Dieser Rhythmus erinnerte ihn eher an das fremde Lied, das in jener Nacht im Club Hell durch sein Bewusstsein geflossen war.

In jener Nacht, in der Jay ermordet worden war, in der er starb, während Dante versucht hatte, ihn noch rechtzeitig zu erreichen …

Ich wusste, du würdest kommen.

In derselben Nacht hatte er Lucien mit gebrochenen Knochen und aufgespießt auf dem Boden der Kathedrale von St. Louis gefunden, die Fittiche zerfetzt, sein Lied nichts weiter als eine ersterbende Glut. Damals hatte er erfahren, dass Lucien, sein engster Freund, sein ami intime, in Wirklichkeit etwas ganz anderes war.

Du siehst ihr so unglaublich ähnlich.

Dantes Schläfen klopften qualvoll. Unterdrück es und konzentriere dich. Konzentriere dich auf den Moment. Nur darum geht es.

Die Melodie stieg wieder wie Dunst in seinem Inneren auf. Es war ein dumpfer, verzagter Rhythmus, der ihn anflehte. Er bewegte sich, raste vorbei an weißen, verblichenen Statuen, die über Gruften wachten und die Trauernden betrachteten, die hierherkamen. Bäume und Marmormonumente verschwammen zu einem flackernden Schatten, als Dante noch schneller wurde.

Die düsteren Trommelschläge des Lieds pochten im Rhythmus des Bluts, das durch seine Adern rauschte. Das Trommeln wurde immer eindringlicher, bis er spürte, wie es in seiner Brust widerhallte. Dann hörte es auf.

Dante wurde langsamer und blieb stehen. Er hatte vor einem Grabstein mit dem Namen BARONNE angehalten. Daneben kniete, ein welkes Blumenbukett in Händen, den Mund weit geöffnet und die Fittiche nach vorn gerichtet, ein steinerner Engel.

Der, von dem es in der Stadt hieß, er sei über Nacht auf dem Friedhof aufgetaucht.

Magie, sagten manche. Gris-gris, glaubten andere. Ein Zeichen.

Das flüsterten jedenfalls die Sterblichen.

Die Nachtgeschöpfe schwiegen beunruhigt.

Ein kühler Windstoß, der nach Leder, Frost und altem Motorenöl roch, zerzauste sein Haar, als Von neben ihm stehen blieb. »Na, da hast du’s«, sagte der Nomad. »Bizarrer Hoodoo-Zauber. «

»Das ist kein Hoodoo-Zauber, Llygad«, flüsterte Dante, ohne den Blick von dem steinernen Engel zu wenden. Er spürte, wie Von ein paar Schritte zurückwich, um seine Pflichten als Auge wahrzunehmen.

Beobachten. Sichern. Beruhigen.

Kerzen brannten in Gläsern vor dem Steinengel. Es duftete nach Vanille und Wachs. Mardi-Gras-Perlen aus Plastik hingen an den Flügelspitzen und um den Hals des Wesens. Jemand hatte mit blauer, gelber und rosa Kreide Kreuze in X-Form auf den Weg vor der Statue markiert, während vor den Füßen mit den langen Krallen zusammengefaltete Papierstückchen lagen.

»Sieht nach einem Gefallenen aus«, sagte Dante. Noch etwas, das Lucien nicht erwähnt hatte. »Jemand hat ihn in Stein verwandelt. «

Er kniete sich hin, nahm einen der Papierschnipsel auf, strich ihn glatt und las, was darauf stand. Loa des Steins, gewähre mir Schutz vor dem Bösen. Schütze mich in der Nacht. Er legte das Gebet wieder zu den anderen.

Dann musterte er die Gestalt vor ihm. Das Mondlicht spiegelte sich glitzernd wie Eiskristalle auf dem schwachen Muster wieder, das in die Flügel geritzt war. Es waren keine Federflügel, sondern wie die Luciens schwarz und glatt wie Samt, wenn man sie berührte. Die Unterseiten waren von blauroten Schlieren durchzogen. Haar, das bis zur Taille herab reichte, umrahmte das schreiende Gesicht. Die Gestalt war bis auf eine Art dicken Halsreif und einen Reif um einen der Oberarme völlig nackt und eindeutig männlich.

Von schickte ihm ein Bild des Halsreifs. Ein Wendelring. Keltisch. Alt.

Merci, Llygad.

Mondlicht erleuchtete einen rätselhaften Fleck auf der Stirn der Statue. Er sah so aus, als hätte ihn jemand dorthin geschmiert, eine Art Blutsymbol oder möglicherweise ein Hoodoo- Vévé. Dante beugte sich vor. Seine Lederjacke knarzte, als er den Fleck berührte. Restenergie knisterte wie elektrische Ladung auf seiner Fingerkuppe. Eine winzige blaue Flammenspur formte einen Bogen zwischen seiner Hand und der Statue.

Die Magie der Gefallenen.

Dante nahm einen Hauch von Luciens Duft – Granatapfel und schwere, feuchte Erde – wahr, der dem Blutsymbol entstieg, ehe er die Hand zurückzog und noch einmal den Engel betrachtete. Was hatte Lucien getan und warum? Einen seiner Anverwandten in Stein zu verwandeln …

Dann fielen ihm wieder Luciens warnende Worte aus jener Nacht ein: Fahre deine Schilde hoch. Sperre es aus. Versprich mir, dass du mir nicht folgen wirst.

Dante war plötzlich absolut sicher, dass er gerade den Grund betrachtete, warum ihm Lucien dieses Versprechen abverlangt hatte. Er berührte den Halsreif – den Wendelring – am Hals des Engels, schloss die Augen und lauschte. Eine Melodie drang flüsternd durch seine Fingerspitzen in sein Inneres. Ihm stockte der Atem, als sein eigenes Lied, chaotisch und düster, darauf antwortete. Der Stein unter seiner Haut erzitterte wie eine klingende Glocke.

Plötzlich schoss heißer Schmerz in sein Bewusstsein. Weißes Licht pulste hinter seinen geschlossenen Augen – die Sturmwarnung einer bevorstehenden Migräne. Dante schlug die Augen auf und begann, sich zu erheben. Dann zögerte er. Ein Knie hatte er noch auf dem Boden, und das schwächer werdende Lied zupfte verzweifelt an seinem Inneren.

Versprich mir …

Er legte die Hand auf den Strauß welker Blumen. Die trockenen Stiele und verschrumpelten Blütenblätter knisterten und zerfielen wie verkohltes Holz. Wie unausgesprochene Wahrheiten.

Du siehst ihr so unglaublich ähnlich.

Du hast das die ganze Zeit über gewusst? Und mir nie auch nur ein Wort gesagt?

Wut stieg in Dante auf, und Musik pulsierte kochend in seinem Inneren. Er goss seine Energie in die Überreste des welken Blumenstraußes. Ein Lied, düster, schnell und wild, tobte in seinem Herzen und wand sich um seine Knochen. Blaues Feuer entflammte in seinen Handflächen und spiegelte sich im Stein wider.

In den hohlen Steinhänden lagen nun grünende Stiele mit jungen Knospen. Wieder schoss Schmerz durch Dantes Bewusstsein, und sein Rhythmus veränderte sich. Raue, schrille Missklänge durchdrangen ihn, und sein Lied ergoss sich in die Nacht.

Er ließ den Engel los und erhob sich zögernd. Der Schmerz in seinem Kopf drang wie Stacheldraht in seine Gedanken. Er biss die Zähne zusammen und versuchte, den Schmerz zu verdrängen.

Wappne dich.

Der Friedhof drehte sich; die mondbeschienenen Grabsteine wirbelten weiß unter den Zypressen im Kreis. Blut troff ihm aus der Nase. Spritzte auf den Boden zu seinen Füßen.

Er hörte, wie Von hinter ihm seinen Namen rief.

In ihm wisperten Stimmen. Dante-Engel?

Über ihm vernahm er Flügelschlag.

Dante schloss die Augen und presste die Finger gegen seine Schläfen. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Vertraute Kälte legte sich auf sein Bewusstsein und bat um Einlass. Lucien. Er fuhr seine Schilde hoch und ließ ihn nicht ein.

Abermals legten sich Finger auf seine Schulter. »Wie zum Teufel hast du das gemacht?«, wisperte Von angespannt. Er schien nicht zu wissen, was er denken sollte.

Dante öffnete die Augen. Ein Strauß schwarzer Rosen wiegte sich in den Händen des Engels wie von einem sanften Windstoß erfasst. Oder als bewege er sich von selbst – im Rhythmus jenes Liedes, das im Innersten jeder dunklen Blüte erklang.

»Verdammt.« Er hatte es falsch gemacht. Schmerzen pochten hinter seinen Augen. »Das hatte ich nicht geplant.«

»Geplant oder nicht«, sagte Von, »das ist nichts, wozu ein Nachtgeschöpf in der Lage ist. Ich habe noch nie davon gehört. Musst du von deinem Vater haben, nehme ich an.«

»Nehme ich auch an.«

Von drehte Dante sanft zu sich. »Wie geht’s deinem Kopf?«, fragte er.

Dante zuckte die Achseln und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. Blut verteilte sich auf seiner Haut. »Gut.«

Der Nomad schob seine Sonnenbrille auf die Stirn, zog eine Braue hoch und betrachtete ihn ein wenig zweifelnd. »Aha«, sagte er und setzte die Brille dann wieder auf.

Dante warf einen Blick auf den Steinengel mit dem Mitternachtsstrauß. »Warum?« Er nickte in Richtung der Gebete, die zu dessen Füßen lagen. »Weshalb beten die Sterblichen so? Was wollen sie damit zuwege bringen?«

Von strich sich über den Oberlippenbart, während er überlegte. »Schwer zu sagen«, erwiderte er. »Es gibt massenhaft Gründe. Manche beten vielleicht für Freunde oder Verwandte, die es gerade brauchen. Andere bitten um Schutz oder Erfolg oder wollen von einer Krankheit geheilt werden. Wer weiß. Es gibt unzählige Gründe.«

Dantes Blick wandte sich wieder den Kerzen zu. Er trat einen Schritt vor und strich über eine Kette aus glatten Perlen, die von einer der beiden Flügelspitzen hing. »Hast du das auch getan? Als du noch sterblich warst? So gebetet, meine ich.«

»Nein«, antwortete der Nomad, »und ich habe mich im Gebet auch nie an jemanden gewandt. Ich habe nur Dinge gesagt, von denen ich hoffte, dass sie dann vielleicht passieren, wie zum Beispiel einem Freund eine sichere Reise gewünscht oder mich von jemandem verabschiedet, der gestorben war.«

»Wer hört diese Anliegen und Verabschiedungen?«

»Ich vergesse immer, dass du dich bei diesem Zeug so wenig auskennst.« Von schüttelte den Kopf. »Wer die Anliegen und Verabschiedungen hört? Der Sprecher selbst«, sagte er nachdenklich, »und man hofft, dass das, was von Herzen kommt, auch irgendeine Art von Macht hat. Die Macht zu schützen, die Macht, die Ohren eines Toten zu erreichen. Etwas Ausgesprochenes oder etwas, das man sich ganz stark wünscht, nimmt im Herz eine Form an. Gewinnt an Form … wird irgendwie greifbar und real.«

»Wird greifbar und real«, wiederholte Dante. »Was ist mit den Verabschiedungen?«

»Verabschiedungen können den Schmerz heilen. Oder zumindest lindern.«

Das muss kein Abschied für immer sein.

Heathers Worte erklangen leise in Dantes Erinnerung. Er sah sie vor sich: regennasses tiefrotes Haar, dunkler Trenchcoat, kornblumenblaue Augen, mit denen sie in ihn hineinblicken konnte. Sie mochte FBI-Agentin sein, aber sie war auch eine Frau mit einem großen Herzen und einem stählernen Willen. Ihm fiel ein, was er ihr geraten hatte: Lauf so weit weg von mir, wie du kannst.

Das hatte sie getan, und jetzt war sie wahrscheinlich in Sicherheit.

Zumindest vor ihm. Aber war sie auch vor dem FBI sicher? Sie war in Washington einem hässlichen Geheimnis auf die Spur gekommen. Jetzt war sie zwischen der Wahrheit und ihren verdammten Pflichten als Agentin gefangen. Sie saß ohne Rückendeckung in ihrer Heimatstadt Seattle fest. Aber nicht mehr lange.

Die Tournee entlang der Westküste endete mit zwei Gigs in Seattle, gefolgt von zwei Wochen Auszeit, ehe es weiterging. Trey hatte längst Heathers Anschrift ausfindig gemacht, indem er in die Onlinedaten der Straßenverkehrsbehörde von Seattle eingedrungen war.

Leichter, als einen Urlauber in der Bourbon Street über den Tisch zu ziehen, Tee-Tee.

Dante ließ die Mardi-Gras-Kette los. Die Perlen schlugen sacht gegen den Steinflügel. Er drehte sich zu Von. »Hast du Papier und Stift?«

Von runzelte die Stirn. »Keine Ahnung.« Er klopfte seine Jackentaschen ab, so dass das Leder wieder knarzte. »Ich hoffe, du hast nicht vor, mir was zu diktieren oder so.« Er holte einen Einwegkuli aus der Innentasche.

Dante nahm den Stift, während der Nomad eine zerknüllte Rechnung aus der vorderen Tasche seiner Jeans zog und sie ihm ebenfalls reichte.

Dante kauerte sich auf den Weg vor dem Steinengel und legte das glatt gestrichene Blatt Papier auf seinen Schenkel, der in einer Lederhose steckte. Er schrieb sein Gebet auf die Rechnung und fragte sich, ob es tatsächlich bewirken konnte, dass jemand beschützt wurde oder ob es an die Ohren der Toten dringen würde.

Er faltete das Papier, hob es an die Lippen und küsste es. Blut tropfte von seiner Nase und befleckte das Gebet. Er legte es zwischen all die anderen Gebete und Kreidekreuze zu Füßen des Engels.

Dann stand er auf und warf Von einen schnellen Blick zu. Er trug eine undurchsichtige, etwas bekümmert wirkende Miene zur Schau. Der Nomad lächelte einen Augenblick lang, nahm dann den Kugelschreiber wieder an sich und steckte ihn ein.

»Bist du so weit, kleiner Bruder?«, fragte er leise.

»Um wie viel Uhr geht das Flugzeug?«

»In schätzungsweise zwei Stunden.«

Dante nickte. »Gehen wir.«

Eine plötzliche Windböe, die nach Vanille und Wachs roch, wehte Dante einige Haarsträhnen in die Augen. Die Kerzen flackerten heftig, und einige wurden zuerst schwächer und gingen dann aus. Von sah stirnrunzelnd nach oben. Dantes Muskeln spannten sich. Seine Schläfen pulsierten schmerzhaft. Im Gesicht des Nomads spiegelte sich die gleiche Spannung wider, die er selbst empfand.

Hatte gehofft, wir würden ohne eine Szene wegkommen. Aber vielleicht muss ich mich dem stellen.

»Kind, warte.« Luciens tiefe Stimme erklang aus dem Himmel über ihnen.

Dante strich sich mit beiden Händen das Haar aus dem Gesicht und holte tief Luft. Er fuhr herum und sah, wie Lucien aus dem sternklaren Nachthimmel heranflog, die schwarzen Flügel schlugen anmutig.

Lucien De Noir, der nur eine teure dunkle Hose trug, berührte mit nackten Füßen die Steinplatten, die das Grab der Baronnes umgaben. Seine Flügel öffneten sich ein letztes Mal, ehe er sie hinter sich zusammenfaltete. Ihre Spitzen wölbten sich über seinem Kopf. Er richtete sich zu seiner vollen Größe von zwei Metern auf, und sein schwarzes Haar fiel über seine muskulösen Schultern bis zur Taille herab. Sein ausdrucksvolles Gesicht wirkte ruhig und aufmerksam. In den Tiefen seiner Augen blitzte es golden.

»Warten?« Dante verlagerte sein Gewicht von einer Hüfte auf die andere und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nenn mir einen guten Grund.«

»Du darfst nicht auf diese Tour.«

»Das ist ein Verbot, kein Argument, und du kannst mich mal.«

»Es geht dir nicht gut. Du verlierst täglich mehr an Kontrolle. Du bist gefährlich.«

Feuer loderte auf, verschmolz mit Dantes Kopfschmerz, mit dem Kummer in seinem Herzen. »Du kannst mich mal«, wiederholte er mit zusammengepressten Lippen.

Luciens Antlitz blieb ausdruckslos. Nur die Spitzen seines schwarzen Haars hoben sich einen Moment lang, als hätte sie ein Windstoß erfasst. »Du weißt, ich sage die Wahrheit.«

»Wow.« Dante fixierte Lucien finster. »Ist das das erste Mal?«

In Luciens Kiefer begann ein Muskel zu zucken. Er richtete den Blick auf Von. »Ich muss mit meinem Sohn allein reden.«

Soll ich bleiben? Schiedsrichter spielen?, sendete Von.

Nein, ich komme klar. Mach dir keine Sorgen. Wir treffen uns am Motorrad.

Du blutest übrigens noch immer, kleiner Bruder.

»Merde«, flüsterte Dante und wischte sich mit dem Jackenärmel über die Nase.

Von betrachtete ihn noch einen Augenblick lang, ehe er nickte. »Gut. Bis gleich.« Er ging den Weg zurück, an den mondbeschienenen Grabgewölben vorbei zum Friedhofstor. »Seid nett zueinander!«, rief er den beiden über die Schulter hinweg zu.

»Ich habe dich nicht belogen«, sagte Lucien gepresst.

»D’accord, du hast nicht gelogen. Aber du hast mir die Wahrheit verschwiegen, und das ist das Gleiche wie Lügen. Besser?«

»Was soll daran besser sein? Deine Suche nach der Wahrheit vernichtet dich!«

»Das ist mein Problem. Halt dich aus meinen Angelegenheiten raus.«

»Unmöglich. Du bist meine Angelegenheit!«

»Verdammt! Ich gehe dich nichts an. Du musst dich nicht mehr um mich sorgen.« Schmerz beeinträchtigte Dantes Blickfeld. Seine Schläfen pulsierten dröhnend. Erneut troff Blut aus seiner Nase. »Wir waren einmal gute Freunde. Schon vergessen?«

Lucien sah weg. Seine Finger fassten nach dem Anhänger, der nicht mehr um seinen Hals hing – eine Rune als Zeichen der Freundschaft und Partnerschaft, die Dante ihm einmal geschenkt hatte –, dann ballten sie sich zur Faust. Dante wusste nicht, wann oder wie Lucien den Anhänger verloren hatte. Aber der Verlust kam ihm irgendwie wie ein böses Omen vor.

»Ich habe einen Fehler gemacht, den ich bedauere«, sagte Lucien und blickte Dante an. In seinen Augen funkelte es bernsteinfarben. »Aber ich habe nicht vor, mich fortwährend dafür zu entschuldigen.«

»Ich habe dich nie um eine verfickte Entschuldigung gebeten. « Dante rieb sich die Schläfen und schloss die Augen. Nichts sah richtig aus. Verwischt. Falsch. »Ich bitte dich auch jetzt nicht darum. Hör auf, mich zu bedrängen! Lass mich einfach in Ruhe finden, was ich suche. Ich muss die Wahrheit kennen, sonst wird mich die Vergangenheit nie loslassen.«

»Die Wahrheit ist nie so, wie man sie gerne hätte, Dante, und der Preis ist fast immer höher, als man glaubt. Viel höher«, sagte Lucien mit einer so tiefen Stimme, dass sie fast wie ein Klagelied klang. »Ich dachte, ich könnte dich schützen, indem ich schweige. Ich dachte, ich könnte dich verstecken und dir bei deiner Heilung helfen, damit du all die Verletzungen vergisst, die man dir zugefügt hat.«

Dante öffnete die Augen und senkte die Hände. Ihn schützen, indem er schwieg?

»Ich dachte, ich könnte deine Melodie verborgen halten oder es zumindest dämpfen, so dass sie niemand hört.« Lucien trat mit einem großen Schritt auf ihn zu. Sein erdiger Wohlgeruch umhüllte Dante. »Aber ich habe mich geirrt.«

Dante richtete sich auf. Er fühlte sich plötzlich unsicher – ein Gefühl, das er in Luciens Gegenwart bisher nicht gekannt hatte. »Mich verstecken? Vor wem? Meinst du damit Bad Seed?«

»Damals wusste ich nicht mal, dass es Bad Seed überhaupt gibt. Nein, ich habe dich vor anderen versteckt. Vor mächtigen anderen, die dich erbarmungslos für ihre Pläne benutzen würden.«

»Andere … wie er?« Dante wies mit dem Kopf auf den Steinengel, der am Boden kauerte.

Luciens Blick streifte einen Augenblick lang die Statue und ruhte kurz auf dem Blumenstrauß, der noch immer in seinen Händen hin und her wehte, ehe er zu Dante zurückkehrte. »Ja, andere wie Loki. Ich habe ihn gefangen genommen, um dich zu schützen.«

»Wirklich?«, fragte Dante leise. »Wovor?«

»Vor den Gefallenen.«

Luciens goldene Augen durchdrangen Dante bis ins Innerste und ließen sein Herz vor Entsetzen erstarren. »Wovon sprichst du? Warum musst du mich vor ihnen schützen?«

»Du bist nicht nur ein Blutgeborener und ein Gefallener, mein Junge. Du bist viel mehr.«

»Was denn?«

»Creawdwr.« Lucien klang beinahe ehrfürchtig, während seine Augen stolz funkelten. »Du bist ein Erschaffer. Der Einzige, den es gibt.«

Dante lief es kalt über den Rücken. Er blickte auf den Strauß, der sich noch immer leicht in Lokis Händen bewegte. »Kann ich deswegen solche Sachen tun?«

»Ja. Du kannst entstehen lassen, was du willst. Deine Melodie trägt den chaotischen Rhythmus des Lebens in sich, und du bist auch ein Entschöpfer, kannst also eine Schöpfung auflösen.«

Dante musste an die Szene im Center denken. Johanna Moore schreit, während sein Lied sie zerreißt. Es teilt sie in ihre Einzelteile …

Dante wandte seinen Blick wieder Lucien zu und ballte die Hände zu Fäusten. »Seit wann weißt du das? Dass ich ein … ein Erschaffer bin?«

»Vom ersten Augenblick an, als wir uns kennenlernten«, gab Lucien leise zu. »Dein Gesang, dein Anhrefncathl hat mich zu dir gelockt. So wie es auch Loki anlockte. So wie es irgendwann den Rest der Elohim anlocken wird. Es sei denn, ich lehre dich…«

»Vergiss es. Nein«, unterbrach ihn Dante mit enger Kehle. »Statt so zu tun, als wärst du mein Freund, hättest du mir einfach die verdammte Wahrheit sagen können! Damals hättest du mir anbieten können, mich etwas zu lehren. Jetzt ist es zu spät.«

Hinter Dantes Augen schmerzte es. Auf einmal hatte er das Gefühl, durch eine zerbrochene Fensterscheibe zu schauen, denn Lucien vor ihm schien zu zerbrechen und sich zu vervielfältigen. In den vielen Facetten, aus denen Luciens Antlitz nun zu bestehen schien, zeigte sich Besorgnis. »Mein Kind …«

Etwas in Dante verschob sich – etwas, das vor langer Zeit kaputtgegangen war. Es bohrte sich feurig und voll heißen Schmerzes in sein Inneres. Die Welt begann, sich zu drehen, die Sterne am Himmel verwandelten sich in feine Spinnweben aus Licht, und er spürte, wie er zu fallen anfing. Er stürzte und stürzte, während Erinnerungen scharf, glatt und flüsternd in ihm auftauchten.

Willst du für sie bestraft werden, petit? D’accord, dann lass dich bestrafen, wenn du so scharf darauf bist.

Jetzt gibt er Ruhe. Lass ihn runter.

Widerlicher kleiner Psycho.

Schmerz zerrte an Dante, und vor seinen Augen wurde es nach einer Explosion weißglühenden Lichts völlig schwarz.

Flügel schlugen.

Dante schmeckte Blut, sauer wie Granatapfel und ebenso berauschend. Er spürte die Berührung von Haut auf der Wange. Als er die Augen öffnete, sah er in Luciens im Schatten liegendes Gesicht. Er versuchte, sich daran zu erinnern, wo er war und warum er in Luciens Schoß lag, von dessen starken Armen gehalten. Luciens Flügel krümmten sich nach vorn, und eine amethystfarben schillernde Finsternis legte sich um sie, ein warmer Zufluchtsort, der nach dunkler Erde, grünenden Blättern und Flügeln roch.

»Ich bin gefallen …«, sagte Dante und hielt dann unsicher inne. Oder war das nur ein Traum gewesen?

»Psst, mon fils. Du bist in Sicherheit. Ruh dich aus.« In Luciens geheimnisvollen Augen tanzten goldene Flecken.

Brauchst du Morphium, kleiner Bruder?, sendete Von.

Dante lief es eiskalt den Rücken hinab. Es gab nur zwei Gründe, warum ihn Von mit Drogen vollpumpen würde. Migräne oder …

Ein weiterer verdammter Anfall.

»Nein, mon ami.« Der Geschmack von Luciens Blut lag noch auf seiner Zunge und seinen Lippen und erklärte, warum kein durchdringender Schmerz seine Gelenke und Muskeln lähmte und warum er nicht aller Kraft beraubt war. »Hast du mir Blut gegeben? Oder habe ich es mir genommen?«

Ein Lächeln spielte einen Augenblick lang um Luciens Lippen. »Ich gab es dir.«

»Merci«, flüsterte Dante. Er spürte, wie Lucien sanft gegen den Schild ihrer geschlossenen Verbindung klopfte und ihn dazu bringen wollte, diese wieder zu öffnen. Aber er schüttelte den Kopf und löste sich aus seiner Umarmung. Als er sich auf die Knie rollte, so dass er noch in dem Kreis blieb, den Luciens Flügel bildeten, schossen plötzlich das Wo und das Warum wie frisches Wasser aus einer Quelle in sein Bewusstsein.

Der Friedhof.

Ich dachte, ich könnte dich beschützen, indem ich schweige.

Der mit Perlenketten behangene Steinengel.

Ja, andere wie Loki.

Creawdwr.

Dantes Fäuste ballten sich auf seinen Schenkel, als seine Wut erneut emporloderte. Er blickte Lucien in die glänzenden Augen.

Wie lange war ich nicht bei Bewusstsein?, sendete er an Von. Haben wir unseren Flug verpasst?

Du warst nur ein paar Minuten weg. Wir können jetzt los – wenn du noch willst.

Ja, will ich.

Luciens Flügel spreizten sich und legten sich auf seinem Rücken zusammen. Er streckte die Beine und stand in einer anmutigen Bewegung auf. »Du bist krank, Dante, und verletzt. Du brauchst Zeit, um zu heilen.«

Dante erhob sich. »Du musst mir nicht sagen, was ich brauche.«

In Luciens Kiefer zuckte ein Muskel. »Lass die Vergangenheit los. Sag die Tour ab und lass mich dich lehren, wie du dich schützen kannst.«

»Nein.« Dante wandte sich ab und lief zurück in Richtung Friedhofstor. Seine Nägel bohrten sich in seine Handflächen.

»Die Gefallenen werden dich eines Nachts finden«, flüsterte Lucien, »und wenn ich nicht bei dir bin, um einzugreifen, werden sie dich in Bande schlagen.«

Dante blieb stehen. Tief in seinem Inneren surrten laut Wespen. »Falls sie mich finden, werden sie mich sicher nicht in Bande schlagen«, antwortete er mit angespannt klingender Stimme. »Dafür müssen sie mich erst ermorden.«

»Nicht falls, Dante. Wenn.«

»Peut-être que oui, peut-être que non. Läuft aufs Selbe hinaus.«

»Nicht, wenn ich es verhindern kann.«

»Du hast nichts mehr zu melden«, erklärte Dante, dessen Hals so zugeschnürt war, dass er kaum ein Wort herausbrachte. »Das war’s.« Er bewegte sich. Er rannte den Weg entlang, so dass die Nacht in blauweißen Bändern an ihm vorbeizog und sich seine Lungen mit dem Duft von Moos und verwittertem Marmor füllten.

Einige Augenblicke später saß er auf Vons Harley, die Hände auf den Hüften des Nomads. Kalt peitschte ihm der Wind ins Gesicht. Würde Lucien ihm folgen? Hatte er ihm nun endlich die ganze Wahrheit gesagt?

Ich habe dich vor anderen versteckt. Vor mächtigen anderen, die dich erbarmungslos für ihre Pläne benutzen würden.

Die Gefallenen werden dich finden und in Bande schlagen.

Nein, werden sie nicht. Das werden sie nie. Es sei denn, sie wollen einen Toten fesseln.

So oder so würde er frei sein. Denn es ging um sein Leben, das nur ihm gehörte.

Dante sah auf. Am Himmel waren nur die Sterne, der Mond und einige blasse Wolkenbänder zu sehen. Keine Flügel über ihm, so weit er das sehen konnte, und das sonore Dröhnen des Harley-Motors übertönte alle anderen Geräusche, die er sonst möglicherweise gehört hätte.

Wie das Rauschen von Flügeln.