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GEBROCHEN

Damascus, Oregon · 24./25. März

 

Annie schaltete den Trans Am in den fünften Gang hoch, während sie über die dunkle Straße raste, weg von der kurvigen Auffahrt mit dem Schild PRIVAT — weg von Hades, der seinen Speer in Dante gerammt hatte. Weg von dem Bild ihrer gefesselten Schwester, die im Haus der Schrecken gefangen war.

Annie! Renn!

Aber der Wahrheit konnte sie nicht entgehen.

Wegen ihrer Dummheit würden Dante und Heather jetzt möglicherweise sterben.

Sie trat mit voller Wucht auf Bremse und Kupplung und brachte den Wagen stotternd zum Stehen. Der Gestank verbrannter, rauchender Autoreifen stieg ihr in die Nase. Ihr Herz begann zu rasen, und ihr wurde schlecht. Sie holte tief Luft. Ein heiseres Weinen blieb ihr im Hals stecken.

Ich habe Heather schon einmal beinahe verloren. Nur wegen Dante ist sie noch am Leben.

Renn nicht fort! Reiß dich zusammen! Tu etwas! Verdammt nochmal, tu etwas!

Annie durchsuchte den Wagen, Heathers zurückgelassenen Trenchcoat und das Handschuhfach nach einem Mobiltelefon, konnte aber keines entdecken. Verzweifelt trommelte sie mit den Fäusten gegen das Lenkrad. »Scheiße! Scheiße! Scheiße!«, schrie sie.

Wen wollte sie auch anrufen? Die Bullen? Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, und der Polizei hatte sie noch nie vertraut. Dad? Bitterer Zorn meldete sich in ihr zu Wort.

Sie sah durch die Windschutzscheibe nach draußen. Die Nacht breitete sich vor ihr aus, und die dunkel daliegende Straße vermischte sich mit den schwarzen Hügeln und Bäumen. In der Ferne waren einige Lichter zu sehen, die wie winzige Kerzen leuchteten.

Kerzen. Kerzenlicht, das sich in Silvers Augen gespiegelt hatte. Sie musste an das denken, was er gesagt hatte: Vorübergehend entstehen enge Verbindungen, wenn wir Blut von jemandem trinken. Deshalb kannst du jetzt auch meine Gedanken hören. In Blut geschmiedet, wie das mein Père de Sang nennt. Du könntest dich von mir rein gedanklich verabschieden, Annie, und ich würde es hören.

Verpiss dich mit deinem Verabschieden, und verpiss dich überhaupt.

Annie schloss die Augen, sprang über ihren Schatten und rief in Gedanken Silver.

 

Dante hustete Blut. Schmerzen brannten in seinem Rücken und in seiner Brust. Sein ganzer Körper schmerzte. Er spürte, wie er hochgehoben und wieder hingelegt wurde, ohne jedoch von Händen berührt zu werden.

Ich bin wieder im Transporter des Perversen. Rase durch die Nacht. Vielleicht habe ich nur geträumt, ihm entkommen zu sein.

Etwas Lauwarmes, Feuchtes berührte seine brennenden Augen. Er schmeckte Blut – sein Blut –, vermischt mit Alkohol und Wermut, dem anissüßen Geschmack von Absinth. Ein grünliches Licht hüpfte wie ein flacher Stein über die Oberfläche seiner Gedanken.

Ständiges flüsterndes Murmeln wie das Rascheln des Winds in den Bäumen oder auch wie das Rauschen großer Flügel in der Nacht umgab ihn von allen Seiten.

HeiligeDreifaltigkeitDantemachtunseins Heilige Dreifaltigkeit DantemachtunseinsHeiligeDreifaltigkeit …

Er spürte, wie Blut aus seiner Nase tropfte. Eine Hand schlug auf seine Wange. Finger schnippten vor seinem Gesicht. »Dante? Komm schon, Junge, wach auf. Konzentrier dich. «

»Lassen Sie ihn in Ruhe, verdammt!« Heathers Stimme?

»Heather«, krächzte Dante. Sein Hals fühlte sich wund an, als habe man ihn mit Sandpapier bearbeitet.

»Ja. Ich bin hier.«

Dante schlug die Augen auf, doch statt in das grinsende Antlitz des Perversen zu blicken, sah er in ein attraktives Gesicht mit Bartstoppeln. Ein bekanntes Gesicht. Da klickte es, und er vermochte sich auf einmal zu erinnern: der verlogene Lyons. Eine Mullbinde, mit Klebeband befestigt, bedeckte die Bisse in Lyons Unterarm. Aber Dante konnte trotzdem das Blut riechen, dessen Aroma ihm wie eine Wand aus Stahl entgegenschlug.

Das Flüstern verstummte. Eine Frau sagte: »Du hattest wieder einen Anfall. Kannst du dich noch an irgendetwas erinnern? «

Die Worte liefen ihm wie ein eisiger Schauder über den Rücken. Er sah in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war – zu seinen Füßen. Erst jetzt merkte er, dass er auf dem Sofa lag, den Kopf in Lyons’ Schoß, seine Beine auf den Schenkeln Hades’. Außerdem sah er, dass die Frau einen Laptop hatte.

Lyons’ Schwester, die Irre mit dem verklebten Haar, der Tunika und der Lanze, lächelte ihn auf eine seltsam scheue, mädchenhafte Weise an. »Kannst du dich an irgendetwas erinnern? «, wiederholte sie.

Noch ein Anfall? In Dante brach Panik aus. Wie viel Zeit war vergangen? Er blickte an Lyons’ Schwester vorbei zu Heather, die starr auf einem Fernsehsessel saß. Sie erwiderte seinen Blick. Ihr Gesicht war angespannt und blass, während sie die Fäuste im Schoß geballt hatte. »Annie hat es geschafft«, sagte sie. »Dank dir.«

»Bon. Lassen Sie Heather gehen …«

Heather schüttelte den Kopf. »Ich bleibe bei dir.«

Finger strichen über Dantes Haar, streichelten und zogen. Es waren schmerzliche Liebkosungen. Von Lyons. »Du hast Athena nicht geantwortet«, tadelte er.

»Fick dich.«

»Hades«, korrigierte seine Schwester. »Kannst du dich an irgendetwas erinnern? «

» Fick du dich auch.«

Lyons riss an Dantes Haar. »Beantworte die Frage. Oder ich nehme mir Heather vor.«

Mit zusammengebissenen Zähnen antwortete Dante: »Nichts. Ich kann mich an nichts erinnern.« Doch tief in ihm regten sich die Wespen. Sie summten und surrten, und eisige Kälte lief ihm über den Rücken. Schweiß troff ihm von den Schläfen. Bist du dir sicher?

Lyons seufzte. »Gut, fangen wir nochmal an. Ich hasse es, dir das antun zu müssen.«

»Lügner«, antwortete Dante. Die Stimme des FBI-Agenten sagte ihm deutlich, dass er das gern tat, sogar sehr gern und hoffte, es weiter tun zu können. »Wie oft schon?«

»Fünfmal«, sagte der Gott der Unterwelt.

Furcht breitete sich in ihm aus. Fünfmal? »Wie viele Anfälle? «

Lyons frohlockte. »Auch fünf, mein Schöner. Ich glaube jedesmal, dass du dich diesmal selbst zerreißt. Aber das tust du nicht. Noch nicht.« Er hielt inne. »Fertig, Athe… Hades?«

Das Flüstern setzte wieder ein: »HeiligeDreifaltigkeitDantemachtunseins HeiligeDreifaltigkeitDantemachtunseinsHeiligeDreifaltigkeit Dante …«

Alex hob eine grüne Flasche hoch – seine gestohlene Flasche Absinth. »Weit aufmachen. Zeit für eine weitere Dosis.«

»Die grünen Wasser der Erinnerung«, flüsterte Athena/Hades. »Nimm tiefe Schlucke, damit du weißt, warum du unseren Vater tötest, wenn du es tust. Dann kann unsere Erneuerung beginnen.«

Dante presste die Lippen aufeinander und wandte das Gesicht ab. Er wollte seine Vergangenheit endlich kennenlernen, wollte sehen, wollte wissen – aber zu seinen eigenen Bedingungen und gemeinsam mit Heather. Jordan hatte ihn mit der Vergangenheit gefoltert, und jetzt taten Lyons und seine durchgeknallte Schwester das Gleiche.

Es reicht. Es reicht.

»Deine Wahl«, flüsterte Lyons. Er packte Dante am Kinn und zwang ihn mit einem harten Griff, den Kopf zu drehen.

Eine prickelnde Säule aus Energie drängte gegen Dantes Lippen und zwang ihn, den Mund zu öffnen, indem sie sich in einen Mundwinkel presste. Schweiß rann ihm übers Gesicht und brannte ihm in den Augen.

Athena/Hades sah ihn an, eine blutverschmierte Hand auf Dantes Schienbein, während sie ihn mit gerunzelter Stirn betrachtete. »Du tust ihm weh«, sagte sie. »Das solltest du nicht. Er ist ein Teil von uns.«

»Noch nicht, und ich habe jetzt keine Zeit, sanft mit ihm umzugehen.«

Ein Gedanke drängte sich Dante auf. Auf einmal wurde er sich zweier Dinge bewusst: Seine Schilde waren heruntergefahren, was durch den Absinth geschehen sein mochte – und Lyons hatte Angst.

Du musst sie heilen. Sie hat nicht mehr lange. Aber sie ist davon überzeugt, dass erst du ganz und gesund werden musst. Erinnere dich also endlich oder erzähl irgendwelche Lügen, verdammt nochmal.

Lyons schob die Absinth-Flasche wieder zwischen Dantes Lippen und kippte sie. Die grüne Flüssigkeit füllte seinen Mund schneller, als er schlucken konnte. Er hustete.

»Das war’s«, sagte Lyons.

Die Säule aus Energie verschwand, und Dante, dessen Kinn schmerzte, schloss schnaufend den Mund. Er sah, wie Athena/ Hades den Laptop hob. Auf dem Bildschirm waren Bilder. Vertraute Bilder. Schmerz bohrte sich in seine Gedanken. Er schloss die Augen. Sie konnten ihn nicht foltern, wenn er nicht hinsah.

Lyons seufzte und sagte: »Schon wieder die Augen geschlossen? Du kannst dich wirklich nicht erinnern, was? Oder vielleicht bist du auch nur verdammt widerspenstig.«

»Beides, beides, beides«, sang Athena/Hades.

Absinthgrünes Licht flackerte und wirbelte hinter Dantes geschlossenen Augen, als die schwere Dosis Wermut wie Gas in seinen Adern und in seinem Bewusstsein zu sammeln begann. Alles schien nur noch auf ein Streichholz zu warten.

»Du bist nicht allein.« Heathers Stimme klang kühl und ruhig wie ein dahinplätschernder Bach. »Ich bin hier. Ich bin hier. Ich bin hier, und ich bin bei dir.«

Dante hielt sich mit aller Kraft an diesem Versprechen fest und weigerte sich loszulassen, als winzige Metallhaken seine Augenlider durchbohrten und hochzogen. Wieder mal. Selbst als Athena ihm den Laptop mit den wechselnden Bildern – Bin ich das? – vors Gesicht hielt. Wieder mal. Selbst als der Schmerz seinen Körper erbeben ließ und seine Psyche wie ein rohes Ei gegen die in ihm verborgene Vergangenheit knallte. Wieder mal.

Bilder tauchten aus den wunden, rohen Tiefen seiner Seele auf – jedes davon ein brennendes Streichholz, das in sein Wermut getränktes Bewusstsein geworfen wurde.

Papa Prejean verwendet die Spezialfesseln, um Dantes Hände zusammenzubinden. Dann stößt er ihn vor einer Badewanne voll dampfend heißen Wassers auf die Knie.

Du willst also für sie bestraft werden, petit? D’accord — wenn du so verdammt bescheuert bist, ist das deine Sache.

Papa packt Dante an den Haaren und taucht seinen Kopf und Oberkörper in das kochend heiße Wasser. Er hält ihn so lange unter Wasser, bis er untergeht …

Dante leert den letzten der Männer, jener Männer, die kamen, um Chloe böse Dinge anzutun. Er wischt sich mit dem Handrücken über den Mund. Dann dreht er sich auf den Knien um und fasst nach seiner Prinzessin. Doch sie liegt in einem See aus Blut – ihrem eigenen Blut – auf dem Boden. Ihre blauen Augen sind tot und vor Schock geweitet …

Wumm!

Wespen trugen auf ihren brennenden Flügeln immer mehr Stimmen in sein Bewusstsein.

Dante-Engel? Mir ist kalt. Kann ich bei dir schlafen?

Es ist an der Zeit, dass du deinen Arsch in den Keller bewegst, petit.

Was schreit er?

Es ist ein sehr klarer Befehl: Tötet mich.

Du bist nicht allein. Ich bin hier, und ich bin bei dir.

Dante hielt sich an dem Versprechen fest.

Auch wenn es sonst nichts gab, woran er sich festhalten konnte.

Auch wenn er schon lange nicht mehr schreien konnte.

Er hielt sich an ihrem Versprechen fest.

 

Annie ging neben der Hintertür des Haupthauses in die Hocke. Sie drückte sich neben einem Strauch in den Schatten, um nicht ins Licht, das durch das kleine Fenster der Tür fiel, zu geraten, wobei sie darauf achtete, so wenig Äste und Blätter wie möglich zu berühren. Dann setzte sie sich, die Knie an die Brust gezogen, den Rücken an der Mauer.

Ihre Hände glitten über den Griff des Taschenmessers, das sie aus Alex’ Pick-up mitgenommen hatte. Dantes gepeinigte Schreie hatten jegliches Geräusch, das sie vielleicht gemacht hatte, als sie den Wagen durchsuchte, übertönt. Ihre Augen brannten.

Silver hatte sie informiert, dass Von auf dem Weg hierher war. Allerdings war es nicht möglich gewesen, zu erfahren, wann er hier sein würde – warum auch immer.

Bleib, wo du bist. Von wird dich finden.

Aber Annie hatte den Trans Am gewendet und war die Straße wieder zurückgerast, die sie gekommen war. Sie hatte am Beginn der langen, steilen Einfahrt geparkt und war zu Fuß zum Haus geeilt.

Jetzt schnürte sie ihre Stiefel auf, zog sie aus und versteckte sie neben sich im Gebüsch. Ihr Herz raste, und sie sehnte sich nach einem Bier, nach Wasser, nach irgendetwas, als sie sich erhob. Ehe sie wusste, was sie tat, öffnete sie die Hintertür und stahl sich in die hell erleuchtete Küche.

 

Heather wischte sich mit dem Rücken ihrer noch immer gefesselten rechten Hand die Tränen aus dem Gesicht. Dante lag halb ausgestreckt auf der Couch, seine Füße, die noch in den Stiefeln steckten, standen auf dem Boden. Er hatte die Augen offen, aber sein Blick war nach innen gerichtet und schien nichts wahrzunehmen, während sein Körper vor Schmerz ganz verkrampft war.

Sie konnte kaum atmen. Er sah gebrochen aus – wie ein Spielzeug, das ein wütendes Kind geschüttelt und dann achtlos beiseitegeworfen hatte.

Sie wusste schon lange nicht mehr, wie oft Lyons und seine Schwester versucht hatten, Dantes Erinnerungen an die Oberfläche zu bringen. Sie wusste auch nicht mehr, wie viele Anfälle Dante schon hatte erdulden müssen.

Dante wird still, als der Anfall seinen ganzen Körper erzittern lässt. Seine Muskeln versteifen sich, sein Rücken drückt sich durch, und seine Glieder verdrehen sich. Sein Kopf fällt nach vorn und wieder zurück, so schnell, dass es kaum wahrzunehmen ist. Blut spritzt aus seiner Nase, seinem Mund und seinen durchbohrten Augenlidern durch die Luft. Die Zwillinge stoßen Dante auf den Boden und überlassen ihn dem Anfall.

Athena kniet auf dem blutbefleckten Teppich neben Dantes zuckendem Körper und flüstert ihm zu: ErinneredichErinneredich ErinneredichErinneredichErinneredichErinneredich …

Der Anfall endet, und Dante rollt sich verwirrt und zitternd auf dem Boden zusammen. Sein schweißfeuchtes dunkles Haar klebt ihm an Stirn und Wangen.

Lyons lässt Dante in der Luft schweben und befördert ihn so wieder auf das Sofa. Er beugt sich mit einem Waschlappen über ihn und wischt ihm das Blut aus dem Gesicht. Dann beginnt alles von vorn.

Jeder Anfall ist schlimmer als der vorherige.

Athena ging am anderen Ende des Zimmers auf und ab, bei jedem Schritt stieß sie den Speerschaft in den Teppichboden. Ihr Spiegelbild in den Fensterscheiben hinter ihr folgte ihr. »Ich kann nicht an Dante vorbeisehen. Hinter ihm gibt es nichts.« Sie sah Alex an. »Er ist unser Ende oder unser Anfang.«

» Ich glaube nicht, dass wir in der Lage sein werden, ihn wieder ganz zu machen«, sagte Lyons. Er fuhr sich mit den Händen durch die Locken. »Nicht ohne Vater. Vielleicht hat er die Wahrheit gesagt, als er von dem Labyrinth sprach.«

»Er würde alles sagen, um freizukommen.« Athena blieb stehen und wandte sich ihrem Bruder zu. Ein unangenehmes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Aber er würde uns nur zum Minotaurus führen, ins Herz des Labyrinths, wo es kein Entkommen mehr gibt. «

Heather horchte auf. Wells war hier und wurde von seinen eigenen wahnsinnigen Sprösslingen gefangen gehalten? Sie unterdrückte ein boshaftes Lächeln. Vielleicht gab es doch Gerechtigkeit auf dieser Welt. Sie hoffte, er würde ihr Gefangener bleiben, denn sie wollte sich gar nicht ausmalen, was er mit Dante tun würde, wenn man ihn befreite. Oder noch schlimmer – wozu er Dante bewegen könnte.

Sie wollte auch nicht daran denken, was sie Wells antun könnte, wenn sie die Möglichkeit dazu bekäme.

»Blut gibt Dante möglicherweise die Kraft, seine Vergangenheit zurückzugewinnen«, sagte Athena.

Lyons nickte. »Ich werde seine Mahlzeit holen.« Er verließ den Raum.

Mit einem leisen Seufzer begann Athena erneut, wie Wind in den Bäumen zu flüstern. »Heilige Dreifaltigkeit …« Sie begann wieder, hin und her zu tigern und den Speerschaft in den Boden zu rammen. Ihre Augen schlossen sich. »HeiligeDreifaltigkeit DantemachtunseinsHeiligeDreifaltigkeit …«

Heather, die hoffte, dass Athena so gedankenverloren war, wie sie schien, erhob sich. Mit rasendem Herzen kniete sie sich neben die Couch und berührte Dantes Gesicht. »Kannst du aufstehen?«, murmelte sie.

Er schloss die Augen, wodurch seine dunklen Wimpern seine blasse Haut berührten. Drei Worte kamen ihm über die Lippen, die Heathers Herz erstarren ließen.

» Verfluchter kleiner Psycho.«

 

Verfluchter kleiner Psycho.

Ketten sind um seine Fußknöchel geschlungen, während er mit dem Kopf nach unten über den Männern baumelte, die er getötet hatte. Über der Leiche des Mädchens, das er zu beschützen versucht, aber stattdessen ebenfalls hingerichtet hatte.

Chloe. Chloe. Chloe.

Ein Herz raste voll zarter Töne in seiner Nähe. Dante roch Salbei, Flieder und rauchige Schwermut. Hunger höhlte ihn völlig aus.

Du bist nicht allein. Ich bin hier. Ich bin hier, und ich bin bei dir.

Kühles weißes Licht umgab ihn, ein Sakrament der Stille. Heathers Versprechen.

»Auf die Beine, Baptiste«, flüsterte eine Stimme. »Komm schon.«

Dante schlug die Augen auf und sah in Heathers blaue Unendlichkeit. Angst schimmerte in den nachtblauen Tiefen. »Chérie«, hauchte er.

Die Furcht verschwand, und sie nickte. Für einen Augenblick huschte ein Lächeln über ihre Lippen. »Wir müssen jetzt gehen.«

Dante ließ sich zu Boden gleiten. Das Zimmer um ihn herum drehte sich. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er voller Glasscherben. Heather schob ihre gefesselten Hände durch seinen Arm und versuchte, ihn auf die Füße zu ziehen. Dunkle Punkte flackerten vor seinen Augen auf. Schmerz schoss in seine Glieder und riss wie Dornenranken an seinen Eingeweiden. Zitternd richtete er sich mit Heathers Hilfe auf. Sie führte ihn zur Tür, während er sich darauf konzentrierte, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Das leise Rascheln des Windes durch die Baumwipfel hörte auf.

Ein kalter Schauer lief Dante über den Rücken. Heather schob ihn entschlossen weiter, drängte ihn vorwärts.

»Kleiner Gott«, sagte eine Frauenstimme, eine bekannte Stimme. Lyons’ ausgeflippte Schwester. »Wenn du Heather noch einmal vor dem Tod retten willst, dann komme ich dir liebend gern entgegen.«

Dante löste sich aus Heathers Griff und drehte sich um. Athena/Hades stand einen Meter hinter ihnen, den Speer erhoben, die Spitze auf Heather gerichtet. Ihre Augen glitzerten voller Neugier. Dante trat vor Heather und presste den Rücken gegen sie. »Geh«, sagte er.

»Verstanden.« Doch als Heather einen Schritt Richtung Tür machte, spürte Dante, wie sich etwas in seinem Kopf bewegte, aufbrach und wie ein elektrischer Schlag durch seinen Schädel fuhr. Seine Muskeln krampften. Ein greller Lichtblitz explodierte vor seinen Augen und tauchte alles in gleißendes Licht.

Erinnerungen meldeten sich.

Très joli, der da, wie ein Engel. Mach mit ihm, was du willst. Aber steck ihm nichts in den Mund. Der Junge beißt.

Wie ein Engel, ah, Mann, das ist noch untertrieben.

Der Mann streichelt Dantes Haar. Er wickelte sich eine schwarze Strähne um seinen Finger. Der Name des Arschlochs ist Eddie. Er hat Dante bereits mehrmals unten im Keller besucht. Diesmal hat er ein Geschenk mitgebracht – eine Handvoll Comics. Dante wünscht sich, alles wäre vorbei und er könnte in Ruhe die Comics anschauen und lesen üben. Später kann er dann mit Chloe darüber sprechen.

Diesmal ist Eddie zärtlich und voller Küsse. Einige der Dinge, die er tut, fühlen sich gut an, lassen Dante die Augen schließen. Ja, es fühlt sich gut an. Aber er hasst Eddie trotzdem, ebenso wie alle, die diese widerwärtigen Stufen in den Keller herunterkommen.

Glaubst du, du könntest mich lieben?

Nein.

Wenn ich Papa Prejean dazu bringen könnte, deine Fesseln zu lösen – würdest du mich dann lieben?

Nein. Dann würde ich dich töten.

Als Eddie wieder geht, nimmt dieses Arschloch die Comics mit.

Papa, wütend wie ein wilder Stier, stürmt in den Keller.

Die Welt wirbelte davon. Die Zeit wirbelte davon.

Dante spürte, wie er fiel. Fiel. Fiel.