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EIN ABDRUCK IM HERZEN

Damascus, Oregon · 25. März

 

Siehst du, Papa? Siehst du? Dante sprang auf und fuhr herum. Das Zimmer drehte sich, und er kippte gegen Heather. »Hab dich«, sagte sie und holte dann vernehmlich Luft. »Scheiße!«

In der dunklen Türöffnung stand ein Mann, der den Arm um Annie gelegt hatte und ein Messer gegen ihre Kehle presste. In Annies Armbeuge befand sich der abgetrennte Kopf einer Frau.

»Ich bin hier, weil ich euch helfen wollte«, murmelte Annie, in deren Gesicht sich Ekel widerspiegelte. »Luke Skywalker bin ich allerdings nicht. Mist. «

Dante sah den Mann an. Zumindest versuchte er es. Sein Gesicht war verschwommen, eine Leerstelle, und entglitt Dantes immer wieder. Schmerz bohrte sich ihm in die Augen, als sehe er in ein grelles, blendendes Licht. Hinter seinen Schläfen pochte es. Er konnte sich nicht daran erinnern, was er gerade getan oder gedacht hatte.

»Dein Coup ist misslungen, Alexander«, sagte der Mann, dessen Stimme eisige Verachtung ausstrahlte. »Du hast es nicht mal geschafft, deine irre Schwester zu kontrollieren. Wie konntest du da hoffen, S zu beherrschen? Ich habe mehr von dir erwartet. Viel mehr. Jetzt muss ich mit einer wiederbelebten Frau und neuen Kindern von vorne anfangen.«

Die Stimme des Gesichtslosen war wie ein Finger, der einen Schalter umlegte. Etwas in Dante begann, ächzend und ratternd anzulaufen.

Da er hoffte, aufhalten zu können, was mit ihm geschah, hoffte, die falschen Dinge nicht zu tun, presste er die Augen zusammen und stürzte sich kopfüber in die von Wespensurren widerhallenden Tiefen in seinem Inneren.

» Wir müssen hier raus! « Heather rüttelte und zog ihn. Sie roch nach Verzweiflung.

»Ich lasse dich nicht allein«, flüsterte er und fiel noch tiefer.

HeiligeDreifaltigkeitDantemachtunseins Heilige Dreifaltigkeit DantemachtunseinsHeiligeDreifaltigkeitDantemachtunseins …

Sie hat dir vertraut. Jetzt hat sie bekommen, was sie verdient hat.

Zeit, deine Medizin zu nehmen, petit.

Was schreit er?

Tötet mich.

Aber er konnte nicht tief und schnell genug fallen.

»Mach die Augen auf, S, mein schöner Engel sans merci. Mach die Augen auf und schau mich an. Rip van Winkle.«

Die Stimme legte sich um Dante wie eine Schlinge und riss ihn hoch.

Dante konnte nicht anders. Er öffnete die Augen und sah, was vor ihm war.

 

Marleys Indian und Glens Kawasaki donnerten durch die Nacht. Die Motoren fraßen die Stille, während sie über die dunkle, regennasse Straße glitten. Von warf einen Blick auf den leeren Trans Am. Annie hatte nicht gewartet. Er schüttelte den Kopf.

Töricht, Süße. Mehr als töricht.

Vielleicht ist es für die Wallace-Familie typisch, vor allem aus Herz und aus Stahl zu sein – zumindest, was die Frauen betrifft.

Von stieg vom Motorrad und öffnete die Fahrertür. Er zog den schwarzen Plastikbeutel von der Rückbank. Nachdem er den Reißverschluss aufgezogen hatte, holte er eine Handvoll Spritzen und mehrere Ampullen mit Morphium heraus und schob sie sich in die Tasche. Dann warf er den Beutel wieder ins Auto und schlug die Tür zu.

Sein Blick wanderte zu der dunklen Einfahrt. Alle möglichen grauenhaften Dinge hämmerten auf seine Schilde ein. So weit er das beurteilen konnte, waren Dantes Schilde heruntergefahren und die Dämonen in ihm zum Leben erwacht.

Er konnte nur hoffen, dass das Morphium reichen würde.

Von bemerkte den SUV mit dem Fahrradträger auf dem Dach, der einige Meter entfernt parkte. Niemand saß darin, doch er konnte sich daran erinnern, dass derselbe SUV in der Nähe von Heathers Haus gestanden hatte.

Sieht so aus, als sei ich nicht der Einzige, der durch die Nacht schleicht.

Er zog beide Pistolen aus dem Schulterholster und bewegte sich.

 

Der Code waren also Märchenbegriffe. Kalte Finger griffen nach Heathers Herz, als Dantes Augen sich auf Wells’ Befehl hin öffneten. Seine dunkle Iris war von Rot durchzogen. Schmerz weitete die Pupillen. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Wells, doch tief in seinem Inneren tobte eine Art Urzorn.

Sie berührte Dantes Arm, und er erzitterte. Seine Muskeln bebten, so angespannt waren sie. »Hör nicht auf ihn. Hör auf mich. «

»Er darf auf niemanden hören, Agent Wallace«, erklärte Wells, der ziemlich mitgenommen aussah. Sein Haar stand ihm wild vom Kopf ab, er hatte sich schon länger nicht mehr rasiert, und sein Anzug war stark zerknittert. »Er wird Sie nicht hören.«

Heather erwiderte Wells’ selbstbewussten Blick. »Das dachte Johanna Moore auch. «

Wells’ Selbstbewusstsein bröckelte leicht. Er nickte. »Sie haben Recht.« Er drückte das Messer noch stärker gegen Annies Hals. Sie blieb so regungslos wie möglich und bemühte sich offensichtlich, nicht zu schlucken. Eine Linie aus Blut zeigte sich unter der Klinge. »Treten Sie von S zurück, Agent Wallace. Bitte«, sagte Wells.

»Sein Name ist Dante Baptiste. Nicht S.«

»Wenn Sie es sagen. Jetzt treten Sie zurück. Setzen Sie sich.«

Heather löste sich von Dantes Arm und trat zur Seite, um sich neben das Sofa zu knien. Sie musterte Annie. Diese sah blass und aufgeregt aus, aber für eine Frau, die ein Messer am Hals hatte und einen abgetrennten Kopf in ihren Armen hielt, wirkte ihr Blick erstaunlich ruhig.

Sie hätte nie gedacht, dass Annie zurückkommen würde, um ihr zu helfen. Obgleich es sie berührte, dass ihre Schwester so etwas getan hatte, wünschte sie sich doch, dem wäre nicht so.

»Lassen Sie Annie los«, sagte sie so ruhig wie möglich. »Sie brauchen sie nicht.«

»Stimmt. Ich brauche sie nicht, aber früher oder später wird S ihr Blut brauchen.« Wells sah an Heather vorbei ins Wohnzimmer.

Sie warf einen Blick über die Schulter. Lyons hatte den Speer aus dem Oberkörper seiner Zwillingsschwester gezogen und die blutige Waffe auf den Boden geworfen. Er hielt Athena in den Armen und schaukelte mit ihr vor und zurück. »Neinneinneinnein«, murmelte er immer wieder. Seine Stimme klang heiser und gebrochen.

So heiser und gebrochen wie Dantes Stimme, als ihn die beiden gefoltert hatten. Alles Mitleid, das Heather vielleicht verspürt hätte, verbrannte im Feuer ihres Zornes. Ein Kiefermuskel zuckte, und sie wandte den Blick ab.

Sie war nicht sicher, ob ihr gefiel, was sie empfand. Aber damit würde sie sich später auseinandersetzen. Im Moment ging es nur darum, dass sie es nicht erlauben würde, dass Wells Dante benutzte.

Während der alte Mann seine Aufmerksamkeit auf den trauernden Sohn richtete, schob Heather ihre Hände vorsichtig unters Sofa. Sie tastete den Teppich nach dem Gegenstand ab, den sie zuvor unter der Couch entdeckt hatte, als Dante von der Frau getrunken hatte.

Eine Spritze.

Heathers Finger stießen gegen eine glatte, zylindrische Form. Sie legte die Finger darum und zog sie heraus.

»Danke, dass du Wallace mitgebracht hast«, sagte Wells. »Ich freue mich schon darauf, die Veränderungen untersuchen zu können, die S in ihr vorgenommen hat, als er sie heilte.«

Kann ich mir vorstellen, dachte Heather. Das würde sowohl dir als auch der Schattenabteilung großen Spaß machen.

Ein unauffälliger Blick auf die Spritze in ihrer Hand zeigte ihr, dass sie gefüllt war. Das allein reichte, um zu wissen, dass sie nicht für Menschen bestimmt war – selbst für eine tödliche Dosis war es zu viel.

Aber für ein Nachtgeschöpf?

Es wird ihn nur schlafen lassen, Püppchen.

Verzweiflung schnürte ihr den Hals zu. Sie hoffte, dass das für jede Injektion zutraf.

Heather erhob sich und trat neben Dante; die Spritze ließ sie zwischen ihre Finger gleiten. Wells konnte ihm keine Befehle erteilen, wenn er bewusstlos war. Konnte ihn zu nichts zwingen können. Sie stieß die Nadel in Dantes Hals.

»Nein! «, rief Wells.

Als Heathers Daumen den Kolben berührte, riss ein elektrischer Blitz ihre Hand fort. Die Spritze entglitt ihr, streifte Dantes Hals und flog durchs Zimmer.

Heather drehte sich um.

Alex sah sie an. Seine Augen waren ein hellgrünes Meer aus Verbitterung und Hass. »Das kann ich nicht erlauben«, sagte er und legte den Leichnam seiner Zwillingsschwester auf den Boden. »Ich brauche den gottverdammten Blutsauger noch, um Athena zu heilen. «

Mit einer geschmeidigen Bewegung stand er auf, hob eine Pistole und feuerte.

Heather fuhr herum. Mit pochendem Herzen sah sie einen immer größer werdenden Kreis aus Blut, der sich mitten auf Wells’ Oberhemd ausbreitete.

 

Die Kugel traf Vons Sonnenbrille von der Seite und zerbrach sie. El-Diablo-Splitter bohrten sich in sein Gesicht. »Heiliger Strohsack!«

Er drehte sich um und warf sich aus der Drehung auf den Boden. Gleichzeitig eröffnete er mit beiden Pistolen das Feuer. Das Mündungsfeuer der Brownings erhellte den dunklen Garten und blendete ihn, bis er beide Magazine entleert hatte. Er hechtete hinter einen Stapel Holzscheite, der nach Sägespänen, Schimmel und Eiche roch. Holzsplitter flogen durch die Luft, als die nächste Kugel den Stapel erwischte.

Auf dem Rücken liegend, warf er einen Blick in den Nachthimmel hinauf, der voller Regenwolken hing. Von wechselte beide Magazine. Eins, zwei.

Er wischte sich das brennende Gesicht mit dem Handrücken ab. Seine Finger waren plötzlich blutverschmiert. »Scheiße«, brummte er. Er blinzelte, um das Nachbild des Mündungsfeuers von seiner Netzhaut zu verbannen, und rollte sich auf die Knie.

Da sah er das Blitzen eines Mündungsfeuers am anderen Ende des Gartens, auf einem mit Eichen und immergrünen Pflanzen bewachsenen Hügel. Sekundenbruchteile später schlug wieder eine Kugel in den Holzstapel ein.

Von lächelte. Hab dich, Mr. SUV-Scharfschütze. Er feuerte noch einige Salven, um den Kerl zu beschäftigen, sprang dann auf und rannte.

 

Wells stierte entgeistert auf seinen Sohn, nachdem dieser seine telekinetischen Fähigkeiten offenbart hatte. Das war eine natürliche Begabung, keine, die er eingepflanzt oder programmiert hatte – eine Fähigkeit, die Alexander ihm bisher verheimlicht hatte. In diesem Moment traf ihn die Kugel mitten in der Brust und schleuderte ihn rückwärts – wie ein starker Fausthieb mitten in den Magen. Er sah auf sein Hemd und das Blut, das sich rasend schnell ausbreitete. Das Taschenmesser fiel ihm aus der Hand.

Annie riss sich los. Er hörte einen dumpfen Schlag und sah nach unten. Glorias Kopf rollte ein Stück über den Boden.

»Nein!« Wells fiel auf die Knie und fasste den Kopf am dünnen grauen Haar. Dann nahm er ihn in die Arme. Schüsse hallten draußen durch die Nacht, eine Reihe von Schüssen. Dann herrschte wieder Stille. Sein Herz raste. Hatte die Schattenabteilung noch mehr Killer geschickt?

»Scheiße!«, rief Wallace. »Annie, leg dich auf den Boden und bleib da! «

S zuckte schmerzerfüllt zusammen. Seine empfindlichen Ohren taten bestimmt vom Knall von Alexanders Schuss weh.

Alexander ließ die Waffe sinken und schritt zur Tür. Er schob den Riegel vor.

»S, schütze mich. Töte Alex!« Schmerz durchbohrte Wells’ Brust.

»Hör zu, Baptiste«, sagte Wallace. »Du bist nicht der Mörder, zu dem er dich seit deiner Geburt machen wollte. Du bist der Mann, den sich deine Mutter laut und von ganzem Herzen gewünscht hat. «

In S’ Kiefer zuckte ein Muskel. Er schloss die Augen, und seine Wimpern zitterten, als fiele es ihm schwer, sie geschlossen zu halten. Seine angespannten Muskeln zitterten heftig.

»Schütze mich, S!«

»Hör nicht auf ihn! Du verdienst ein eigenes Leben, das so ist, wie du es willst. Wie es dein Herz will. Wir stehen das zusammen durch, was auch immer geschieht. «

Schweißperlen zeigten sich auf S’ Stirn. »T’es sûr de sa?«, flüsterte er gepresst.

»Ja, Baptiste, ich bin mir sicher«, antwortete Wallace leise.

Wells stierte S an. »Still«, befahl er mit tonlos pfeifender Stimme. »Öffne die Augen, S, und sieh mich an. Rip Van Winkle.«

»Schneewittchen«, erwiderte S. Blut troff ihm aus der Nase und spritzte auf Couch und Teppich. Ein düsteres Lächeln umspielte seine Lippen. Seine Muskeln entspannten sich. »Verdammtes Dornröschen.«

Wells gefror das Blut in den Adern. Er rang nach Luft. S war es gelungen, die Programmierung zu umgehen. Möglicherweise hatte es einen Kurzschluss gegeben, als die Zwillinge versucht hatten, ihn an seine Vergangenheit zu erinnern. Oder vielleicht lag es an Wallace. Vielleicht lag es an beidem. Oder an keinem von beiden.

Ich hätte ihn Wallace umbringen lassen sollen, wie Chloe.

Wells taumelte rückwärts an die Wand. Der Kupfergeschmack von Blut füllte seinen Mund.

Draußen erklangen weitere Schüsse.

S öffnete die Augen.

Wells nahm am äußeren Rand seines Sichtfelds eine Bewegung wahr: Wallaces Schwester kroch zur Couch, Wallace fasste nach S. Aber er konnte den Blick nicht von dem schönen, blutüberströmten Gesicht lösen, von den golden schimmernden Augen.

Golden – wie bei seiner Geburt. Genauso damals, als er Johanna in ihre Bestandteile aufgelöst hatte.

Blaue Flammen flackerten hinter S. Sie kamen aus seinen gefesselten Händen.

S’ Lächeln wurde breiter, als er in die Tiefen von Wells’ Augen blickte.

»Das hier wird es leichter machen, ihn zu töten«, sagte Alexander. »Aber danach bringst du mir meine Schwester aus der Unterwelt zurück. «

Wells beobachtete, bedeckt von kaltem Schweiß, wie ein kleiner Schlüssel durchs Zimmer schwebte und hinter S verschwand. Er hörte ein Klicken, dann schüttelte S die Handschellen ab. Er riss die Hände nach vorn.

Hände, die blaue Flammen umspielten.

 

Er ist es, Dante-Engel.

Ich weiß, Prinzessin.

Dantes Gesang erklang in den dunklen Tiefen seiner Seele – berauschend und frei. Eine Urarie. Durch seine Finger fuhr prasselnd Energie.

Dante sprang über das Sofa und landete in der Hocke neben dem Mann, dessen Gesicht er sich nicht merken konnte – Lyons’ Vater. Der durchdringende Geruch von Angst trat aus jeder Pore des Gesichtslosen.

»Mein schöner Junge, mein S«, sagte der Mann seltsam dumpf und blubbernd. »Es ist Zeit, dass du gute Nacht sagst und …«

»Nein! «, rief Heather. »Halt!«

Weißliches Licht pulste am Rand von Dantes Sichtfeld. Schmerz verwischte seine Gedanken. Er presste dem Mann die Hand auf den Mund. Sein Lied erhob sich in wilden Akkorden, wurde schneller und klarer, als er den Mund des Mannes mit blauem Feuer schloss. Blaue Flammen tanzten über sein Gesicht und tilgten alle verbliebenen Züge. Nun war es leichter für Dante, ihn anzusehen. Der pochende Schmerz in seinem Kopf ließ nach.

Der Gesichtslose schrie und schrie. Der dumpfe Laut blieb ihm im Hals stecken, da er nicht mehr über die Lippen entweichen konnte.

In Dantes Inneren wisperten die Stimmen.

Willesbraucheestöteesverbrennees …

Bekommt er jetzt endlich das, was er verdient, Dante-Engel?

Nein, Prinzessin, nicht einmal annähernd.

»Verfluchter kleiner Psycho«, sagte Dante. Das Lied in seinem Herzen hallte in die Nacht hinaus – hell lodernd und ungefesselt.

 

Dantes Anhrefncathl pulsierte dunkel brennend und scharf wie eine Rasierklinge durch Luciens Bewusstsein und riss ihn aus seinem unruhigen Schlaf. Seine Muskeln zogen sich zusammen, und instinktiv versuchte er, seine Flügel zu spreizen und sich in den Himmel zu erheben.

Doch Schmerz schoss durch seine Flügel und seine Schultern, und Lucien erwachte. Glühende Kohlen flackerten orange, gelb und rot unter ihm, und über ihm löste sich Gehenna auf.

Wie er.

Kalte Angst breitete sich in seinen Adern aus. Der starke Gesang seines Kindes durchdrang den heller werdenden Nachthimmel Gehennas, und in jedem wunderbaren, unheimlichen Ton klang der Wahnsinn an.

Wybrcathl tirilierte durch den Himmel über ihm, klar und rein. Die Chalkydris schrien so laut unter ihm, dass ihre aufgeregten Stimmen die Tunnel Sheols mit ihrem Widerhall erfüllten.

Anhrefncathl! Creawdwr! Das Lied des Schöpfers!

So müssen wir uns den Dingen stellen, vor denen wir uns am meisten fürchten.

Dante war nicht mehr verborgen. Ganz Gehenna wusste nun, dass es einen Creawdwr gab. Die Elohim würden alles tun, um ihn aufzufinden. Bald würden sie die Welt der Sterblichen durchkämmen, um die Quelle des Chaoslieds zu finden – einen kaputten, schönen Jungen. Seinen zornigen Sohn.

Wieder würde Luciens Abwesenheit Dante zu einer Existenz in der Hölle verdammen. Wieder würde er sein Versprechen brechen.

Du wirst nie mehr allein sein.

Ich beschütze unseren Sohn.

Lucien wand sich in seinen Ketten. Die Dornen bohrten sich noch tiefer in seine Schultern, und Blut lief ihm über den Rücken. Schmerz verdunkelte seine Sicht. Das Rauschen von Flügeln und das unterwürfige Gemurmel der Chalkydri signalisierten ihm, dass einer der Elohim herabgekommen war.

Ein nach Schwefel stinkender Lufthauch schlug Lucien entgegen. Doch darin nahm er auch den Hauch von Zedern, warmem Bernstein und Myrrhe wahr. Als er wieder klar sah, entdeckte er Lilith, die vor ihm schwebte. Ihr üppiger Körper steckte in einem tiefblauen Kleid.

»Dein Sohn hat sich angekündigt«, sagte sie, und ihr Gesicht, in dem bernsteinfarbene Schatten lagen, war voller Emotionen, die Lucien nicht recht deuten konnte. »Uns bleibt keine Zeit. «

»Das wollte er nicht«, sagte Lucien. »Er hat Schmerzen. Er leidet. « Wenn sich die Vergangenheit endlich wie ein Tsunami aus den Tiefen Dante erhoben hatte und über ihm zusammengeschlagen war, konnte er nur hoffen, dass Von in der Nähe war und eine Morphiumspritze hatte. »Du musst ihn finden, ehe es Gabriel oder Luzifer tun. Sag Dante, ich habe dich geschickt. «

»Was, wenn er mir nicht glaubt?«

»Sag ihm, er hat mir einmal ein Geschenk gemacht, ein Geschenk, das mir viel bedeutete – einen Anhänger in X-Form. «

»Als Zeichen der Freundschaft.« Liliths Gesichtsausdruck wurde weicher. »Was ist damit passiert?«

»Er wurde mir entrissen«, flüsterte Lucien.

Lilith blickte nach oben, wo Schatten vorüberflogen. »Jetzt, Lucien – beeil dich.«

Lucien schloss die Augen, fuhr seine konstant schwächer werdenden Schilde herunter und enthüllte das himmlische Band, das ihn mit Dante verknüpfte – Vater und Sohn, Schöpfer mit Geschaffenem, Aingeal mit Creawdwr.

Folge ihm bis zu meinem Sohn.

Sie schloss die Augen und tauchte in sein Bewusstsein ein, ein Bewusstsein, das sie einmal bestens gekannt hatte. Er spürte ihre kluge, warme, starke Gegenwart. Er merkte, wie sie der Verbindung folgte und den Rhythmus erlauschte und wie dieser in ihrem Inneren widerhallte. Zusammen bildeten sie eine vorübergehende Brücke zueinander.

Sobald du Dante gefunden hast, lass es mich wissen, damit ich das Band durchtrennen kann.

Lilith fixierte ihn. Ihre amethystfarbenen Augen funkelten golden auf. Das Band zu durchtrennen könnte euch beide das Leben kosten.

Ich weiß, aber das muss ich riskieren. Ich will nicht, dass jemand anderer die Verbindung entdeckt und meinen Sohn aufspürt.

Das plötzliche Rauschen von Flügeln ließ Lucien die Augen öffnen. Einer der Chalkydris, dessen Schuppenhaut im Licht der glühenden Kohlen schimmerte, eilte davon. Er äffte zwitschernd ein Wybrcathl nach: »Der Nachtbringer hat eine Verbindung zum Creawdwr

Das Lied des Chalkydri endete in einem überraschten Schreien. Das laute Rauschen von Elohim-Flügeln hallte in den nahegelegenen Tunneln wider. Luciens Herz erstarrte, als weiße Flügel in den Schatten des Tunneleingangs auftauchten. Eilig fuhr er seine Schilde wieder hoch.

Der Morgenstern trat in den Abgrund, den Chalkydri leblos in der Klauenhand. Er warf den schuppigen Leib auf die glühenden Kohlen. Die zarten Flügel zischten, als sie Feuer fingen, und der grauenvolle Geruch gebratener Haut stieg in die Luft.

Ein Lächeln verklärte das bereits strahlende Gesicht des Morgensterns. »Noch immer dabei, sein Vertrauen zu erschleichen, meine Liebe?«

Lilith stieg pfeilschnell in die Höhe und verschwand. Ihre dunklen Flügel schlugen vor dem hellen Himmel über ihnen und wirbelten düstere Rauchwolken auf. Lucien konzentrierte sich darauf, sein Band auffallend genug zu halten, damit sie ihm folgen konnte. Er wünschte aus vollem Herzen, sie möge so schnell wie ein Pfeil sein.

»Es belustigt mich, dass der Mörder eines Creawdwrs der Vater des nächsten wird«, meinte der Morgenstern. »Dante – ein bezaubernder Name, wenn auch völlig unpassend. Findet ihr nicht? Sobald er einmal auf dem Chaosthron sitzt, wird er endlich dem Inferno entkommen sein, das man höflicherweise die Welt der Sterblichen nennt.«

Er schlug mit den Flügeln und fächerte Lucien stinkende Luft ins Gesicht, als er sich wieder erhob. »Er wird mir gehören. «

Lucien starrte ihm nach, aufgewühlt und wie versteinert.

Dantes Anhrefncathl hallte immer noch in Gehennas Himmel wider.

 

Heather starrte mit rasendem Herzen auf Dante, als dieser seine blau flammenden Hände von Wells’ Gesicht zog. Oder vielmehr von dem, was einmal ein Gesicht gewesen war. Jetzt gab es nur noch aalglatte Haut. Hinter den verschwundenen Lippen verklangen die gefangenen Schreie des Mannes. Ihr Magen krampfte sich zusammen, sie schluckte und wandte den Blick ab.

Er konnte sich genauso wenig an Wells’ Gesicht erinnern wie an seinen Namen.

Sieht ganz so aus, als hätte sich das Problem damit erledigt.

Ein selbstzerstörender Sicherheitsmechanismus war in Dante programmiert gewesen. Wells hatte ihn auslösen wollen, bis … nun, bis Dante sichergestellt hatte, dass er nie mehr reden konnte.

Heather atmete tief durch und wandte sich wieder Dante zu, wobei sie es sorgfältig vermied, Wells anzusehen. Dante wischte sich gedankenverloren mit dem Handrücken über die blutige Nase und ballte dann die Fäuste – Fäuste, die von einem blauer Feuer umgeben waren. In seinen goldenen Augen lag Schmerz. Er stand mit einer fließenden, schnellen Bewegung auf und sah sie an.

Sein Anblick tat ihr weh. Die dunklen Schatten unter seinen Augen zeugten von unendlicher Erschöpfung. Blut tränkte sein violettes Shirt und troff dunkel auf den Teppichboden.

»Heather«, hauchte er, während der Schmerz in seinen Augen nachließ. Dann erstarrte er. Sein Körper wurde so steif, dass sie befürchtete, ein weiterer Anfall würde ihn erfassen und zu Boden werfen. Doch stattdessen hob er sich in die Luft. Sein Gesichtsausdruck drückte Erstaunen aus.

» Scheiße!« Heather sah zu, wie Lyons Dante durchs Zimmer schweben ließ. »Sind Sie wahnsinnig? Er kann seine Kräfte nicht kontrollieren!«

»Ich habe nichts zu verlieren.« Lyons ließ Dante auf den Boden neben Athenas Leichnam in der weißen Tunika herab.

Heather musste an das Gesicht von Lyons’ Vaters denken und forderte Dante innerlich fast auf: Ja, tue es. Doch sie versuchte, diesen Gedanken für sich zu behalten. Was auch immer Dante mit Lyons tat, er hatte es mehr als verdient.

Es stimmte, er hatte es verdient. Gleichzeitig sehnte sich Dante jedoch nach Erlösung, er wollte sich endlich von seiner Vergangenheit befreien. Er wollte wissen, wer und was er war. Wie sollte er je frei sein, wenn sie jetzt einfach zusah, wie er Lyons tötete? Sie würde sich schuldiger machen als er, weil sie es besser wusste. Dante tat das nicht … noch nicht.

»He«, wisperte Annie.

Heather sah nach unten. Ihre Schwester kniete auf dem Boden, das Taschenmesser, das Wells ihr an den Hals gedrückt hatte, in den Händen. Sie lachte. Nach einem raschen Blick auf Lyons durchtrennte sie den Kabelbinder, mit denen Heathers Handgelenke gefesselt waren.

Annie wollte aufstehen, als Heather den Kopf schüttelte. Sie wollte nicht, dass sie Wells sah. »Bleib unten«, wisperte sie.

Annie sah sie einen Atemzug lang fragend an. Dann biss sie sich auf die Unterlippe und nickte. Sie kroch zum Sofa, während ihr das bunte Haar ins Gesicht hing, und begann, auch die Fesseln der noch immer schlafenden Frau zu durchtrennen.

Heather rieb sich die Handgelenke und sah sich im Zimmer nach einer möglichen Waffe um, konnte aber keine entdecken. »Gib mir das Messer«, flüsterte sie.

Sie würde nicht zulassen, dass Lyons Dante verdammte. Oder dass dieser sich selbst für immer verdammte.

Gabriel landete im Abgrund. sein Gesicht leuchtete triumphal, und seine goldenen Flügel erglühten in den letzten Strahlen des Mondlichts. Das Wybrcathl hallte noch immer durch den Himmel.

»Ich wusste es. Ich wusste, du verbirgst einen Schöpfer«, sagte er. »Meine Kundschafter sind bereits ausgeschwärmt.«

Lilith sendete eine Botschaft in Luciens Bewusstsein: Ich habe deinen Sohn gefunden.

Ohne die Augen von Gabriels selbstzufriedenem Gesicht zu wenden, sendete Lucien: Verstecke ihn, schütze ihn.

Ich werde mein Bestes tun.

Das muss reichen, dachte Lucien.

Gabriel runzelte die dunkelblonden Brauen, während er näher heranflog. »Samael? Mit wem kommunizierst du?« Er drängte und brandete gegen Luciens Schilde. »Mit wem?«

Lucien öffnete die Verbindung zwischen sich und Dante. Das Bewusstsein seines Kindes stand in Flammen und war schmerzgepeitscht — ein Konzert aus glühendem Feuer. Seine Schilde waren heruntergefahren oder zerstört. Durch Lucien loderten Trauer und Leid.

Er schloss die Augen und schickte einen letzten Gedanken an Dante, ehe er ihre Verbindung trennte.

 

Telekinetische Energie fesselte Dante mit prickelnden Seilen. Er spannte die Muskeln an, doch selbst die Kraft, die durch Caterinas Blut wiederbelebt worden war, reichte nicht aus, um sich zu befreien.

»Sie hat geglaubt, du kannst sie von den Toten zurückbringen«, sagte Lyons mit einer vor Qualen und Leid belegten Stimme. Seine Miene war düster. »Sie war … sie ist … ein Orakel, und ihre Visionen waren bisher immer zutreffend.«

»Nicht diesmal.«

»Wenn du Athena nicht wiederbelebst, wirst du ihr in die Unterwelt folgen.« Alex riss seine S & W hoch, um die Mündung auf Dantes Stirn zu richten. »Deine Entscheidung.«

»Wenn Sie abdrücken …«

Je t’aime, mon fils. Toujours.

Der Gedanke flackerte plötzlich in Dantes Bewusstsein auf und strich wie eine kühle, weiche Hand über seinen fiebrigen Geist.

Lucien?

Die Verbindung zwischen ihnen riss wie mit einer glühend heißen Klinge durchtrennt. Die beiden Enden rasten in die Unendlichkeit. Ein Teil seiner selbst löste sich ebenfalls auf. Schmerz explodierte in ihm wie Feuer und steckte sein Bewusstsein, sein Herz, seine Seele und sein Lied in Brand – wie ein wildes, riesiges Leuchtfeuer.

Sein Lied loderte wie ein Höllenschlund, chaotisch und hungrig, und Dante brannte mit ihm.

 

Dieser Arsch hatte ein verdammt gutes Auge und traf verdammt genau. Er hat mich gesehen, als ich mich bewegt habe. Von warf sich auf den Boden. Kiefernnadeln knirschten unter ihm. Sie rochen so intensiv, dass er niesen musste.

Eine Kugel schlug einen Meter rechts von Von in den Erdboden. Verdammt. Der Arsch hatte anscheinend auch ein verdammt gutes Gehör. Er war entweder ein Nachtgeschöpf, man hatte seine Sinne künstlich verbessert, oder er machte einfach einen guten Job. Es begann zu regnen. Tropfen prasselten auf die Blätter und gegen die Stämme.

Am liebsten wäre Von ein Platzregen gewesen. Er sprang auf und bewegte sich. Hinter sich vernahm er ein leises Zack, als eine Kugel einen Stamm streifte. Einen Augenblick später erreichte er den Hügel. Er raste an dem Mann vorbei, der in einem Anzug auf dem Boden lag und das Auge ans Zielfernrohr eines Gewehrs presste. Von blieb hinter ihm stehen und richtete die Brownings auf ihn.

»He, Arschloch. Du schuldest mir eine neue Sonnenbrille.«

In dem Augenblick öffneten sich die Schleusen des Himmels, und es begann heftig zu gießen. Der Mann erstarrte, und sein sterbliches Herz begann so zu rasen, dass Von es trotz des von ihm gewünschten Platzregens deutlich hören konnte.

Ein Platzregen wird mir gewährt, aber nicht mein Wunsch, dass ich endlich mal im Lotto gewinne?

»Wirf die Waffe weg.«

Mit zitternden Händen warf der Schütze die Waffe den Hügel hinunter. Sie fiel mehrere Sekunden lang durch das Gebüsch, bis sie irgendwo zu liegen kam.

Gerade als Von den Mund öffnen wollte, um den Kerl zu fragen, wer er war und für wen er arbeitete, hämmerte es schmerzhaft gegen seine Schilde – wund und bis tief in seine Seele greifend. Er taumelte.

»Kleiner Bruder«, murmelte er und sah den Hügel hinab. Blaues Licht drang aus den Fenstern des Haupthauses.

Große Angst ergriff ihn. Von schoss dem Sterblichen ins Bein, um ihn daran zu hindern, weit zu kommen. Der Mann schrie und hielt sich krampfhaft den Schenkel.

Von rannte los.

 

Noch immer in Lyons’ telekinetischem Griff hängend, zuckte Dante zusammen. Sein Kopf ruckte nach hinten, sein Rücken drückte sich durch, und sein Körper drehte sich heftig und so schnell, dass er verschwamm.

Lyons neigte den Kopf und justierte sein Ziel.

Heather schlich an ihn heran und rammte ihm das Taschenmesser zwischen die Rippen. Er keuchte, drückte aber trotzdem ab. Der Schuss hallte durch den Raum wie eine Eisdecke, die knirschend brach. Der Gestank von Schießpulver stieg in die Luft.

Doch seine Konzentration war gebrochen. Dante schlug dumpf auf dem Boden auf. Sein Körper war steif vor Anspannung und begann zu zucken.

Heather riss das Messer heraus und sprang beiseite, als Lyons herumwirbelte, die Pistole in beiden Händen. »Annie, lauf!«, rief sie.

»Vielleicht geht er ja für Sie in die Unterwelt«, sagte Lyons. Er schoss nochmals, und Heather warf sich zu Boden, rollte sich auf die Knie und hechtete hinter den Fernsehsessel.

Dantes Anfall endete. Er krümmte sich auf dem Teppich und rang zitternd um Luft. Blaue Funken umkreisten seine Hände, und mit jeder Drehung verbreiteten sie sich stärker im Zimmer.

Sie veränderten alles, was sie berührten.

Der Fußboden wellte sich und wurde zu einem Waldboden voller Kiefernnadeln, mit dichtem Unterholz und winzigen himmelblauen Wildblumen.

Heathers aufgepeitschter Puls begann zu übersteuern. Trotz des Schusswechsels draußen rief sie: »Annie! Raus! Durch die Hintertür!« Sie schaute neben dem Fernsehsessel vorbei auf das Sofa.

Annie, in deren geweiteten Augen sich das blaue Licht spiegelte, schrie: »Was … zum … Teufel?«

»Lauf!«

Die dunkelhaarige Frau setzte sich auf. Sie hatte augenscheinlich das Bewusstsein wiedererlangt. Annie nahm sie an der Hand und riss sie entschlossen hoch. Die Frau warf Heather einen Blick zu, und auch ihre Augen wirkten erschüttert und schimmerten blau. »Ich bringe sie in Sicherheit«, sagte sie mit einem leicht südländischen Akzent.

Heather drehte sich wieder um. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Lyons stand vor ihr, die Pistole auf ihren Kopf gerichtet. Dante hatte sich auf die Knie erhoben. Seine goldenen Augen wirkten verblüfft. Blut rann ihm aus der Nase und einem Ohr, und eine rote Spur zog sich über die Linie seines Kinns.

»Hol meine Schwester aus der Unterwelt«, befahl Lyons, »oder ich schicke Heather zu ihr, um ihr Gesellschaft zu leisten. «

Heather umklammerte den Messergriff und rammte die Klinge durch einen von Lyons’ Schuhen in seinen Fuß bis in den Boden … die Erde. Ein unterdrückter Schrei entrang sich Lyons, der verzweifelt die Zähne zusammenbiss.

Sie richtete sich auf und stieß ihn von sich, so fest sie konnte. Er stolperte, ruderte noch einen Augenblick lang mit den Armen und stürzte dann auf den dicht bewachsenen, von blauen Dornenranken überwucherten Boden.

Dante erwischte ihn mit seinen leuchtenden Händen, um ihn endgültig nach unten zu reißen. Blaues Licht umgab Lyons, drang aus seinem offenen Mund und seinen geschockten meergrünen Augen. Die Pistole fiel ihm aus der Hand. Sie verwandelte sich in eine schwarze gepanzerte Schildkröte, die unter den Fernsehsessel kroch.

Heather wich vor den Lichtblitzen zurück, die Dante und Lyons umgaben. Lyons wand sich wie eine Lakritzschnur in Dantes Händen. Seine Arme legten sich um seinen Körper, und sein Gesicht verwandelte sich. Er stieß einen abscheulichen Schrei aus, eine Mischung aus wildem, animalischem Zorn und grauenvollen Schmerzen.

Energie prasselte wie Elektrizität in der Luft und ließ die Haare auf Heathers Kopf und ihren Armen abstehen. Das ganze Haus stand unter Druck, der sich gegen die Wände presste. In ihren Ohren begann es zu surren, und sie zuckte zusammen, während sie sich mehrmals auf die Zunge biss. Der Geruch von Ozon, verbranntem Laub und Friedhofserde drang ihr in Mund und Nase.

Das Haus ächzte und bebte. An Wänden und Decken zeigten sich Risse. Mörtelstaub erfüllte die Luft. Das vordere Fenster explodierte und ließ einen Regen aus Glassplittern ins Zimmern prasseln. Die Splitter verwandelten sich in einen Schwarm aus Tausenden blauer Leuchtkäfer, der über die Türschwelle in die Nacht hinausflog.

Dantes Gesang erfüllte Heather mit seiner düsteren, wilden Schönheit. Sein Rhythmus vibrierte an ihrem, in ihrem Herzen. Sie starrte ihn an, unfähig und nicht willens, den Blick von ihm abzuwenden.

Er schloss die Augen und erbebte. Sein bleiches Gesicht war schmerzverzerrt. Blaue Lichtblitze schossen aus seinen Handflächen. Einer durchdrang Athenas Körper, der andere flog durch das Zimmer, um in ihren gesichtslosen Vater einzudringen.

Athenas totes Fleisch begann, sich zu wellen. Als hätte ihr Körper keine Knochen mehr, glitt er durch das blaudornige Unterholz, um sich wie heißes Karamell mit der sich drehenden, sich dehnenden Gestalt ihres Bruders zu vermengen. Lyons’ goldenes Haar wellte sich zu einem strohfarbenen Fell, während sich Athenas weiße Tunika in weiße Federn verwandelte. Fell, Federn und heißes Karamellfleisch flossen ineinander – die Zwillinge waren nun zu einem Wesen verschmolzen.

Wells fing der blaue Blitz wie ein Lasso und zerrte ihn über die Hecke mit den roten Beeren, die früher einmal das Sofa gewesen war. Einer seiner Pantoffel verfing sich an einem Zweig und blieb dort hängen – wie ein sonnengetrocknetes Blatt im Wind. Wells presste den abgetrennten Kopf seiner Frau an seine blutdurchtränkte Brust, fast wie ein Kind, das sein Lieblingsplüschtier festhält.

Er vermischte sich mit seinen Kindern, wirbelte um sie herum, in sie hinein, als sei seine Haut völlig elastisch. Der abgetrennte Kopf glitt ihm aus den Armen und schwebte zu seinem gesichtslosen Antlitz, wo er wie eine Maske verharrte. Jetzt aber war es der Kopf einer jungen Frau mit schimmerndem blonden Haar, einer festen Haut und mit einem aufgerissenen Mund.

Sie erhoben sich in die Luft, wo sie sich wie ein dreigesichtiges Säulenwesen im kühlen blauen Licht drehten. Arme und Beine verwandelten sich in gefiederte Schwänze. Die Augen der dreieinigen Kreatur und ihre Münder öffneten sich, und sie intonierten im Chor: »Dreiineinemdreiineinem …«

Eine der dicken Holzbalken an der Decke riss und durchbohrte die Decke. Riesengroße Brocken Putz fielen nur wenige Meter von Heather entfernt auf den Boden.

Das Haus ächzte und bebte noch immer. Mit einem lauten, scharfen Knacken brach ein weiterer Balken, und ein Teil der Decke stürzte auf die Sofa-Hecke.

Heather sprang auf, während der Boden unter ihren Füßen bebte und sich wellte.

Dante öffnete die Augen. Er schien sie zu erkennen. »Catin«, murmelte er gequält und atemlos. Die blau züngelnden Flammen um ihn herum verschwanden, als hätte ein Wind sie gelöscht. Er fiel auf die Knie, sein Kopf sackte nach vorn, und sein schwarzes Haar breitete sich wie ein Vorhang vor seinem Gesicht aus.

»DreiineinemheiligeDreifaltigkeitdreiineinemheiligeDreifaltigheiligheiligheilig …« Das dreieinige Monster sang die Hymne mit vielen Stimmen, während es auf den dunklen Gang zuglitt und -humpelte.

Die Haustür ging auf, erstarrte dann aber in ihrem welligen Rahmen. Eine Brise, die nach Kiefernnadeln, Regen und Schießpulver roch, wehte ins Zimmer. Von blieb abrupt stehen und versuchte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, während sich das Haus immer mehr auflöste. Er starrte fassungslos die singende, dreigesichtige Kreatur Dantes an.

»Grundgütiger«, murmelte der Nomad und schob seine Brownings in die Holster.

»Ja«, stimmte Heather mit bebender Stimme zu.

Sie hinkte zu Dante, kauerte sich neben ihn und strich ihm das Haar aus dem Gesicht. Ihre Finger wanderten behutsam über seine Wange und seine Schläfen. Seine Haut glühte so heiß und fiebrig, dass sie es mit ihrem Körper wahrnahm. In seinem Ohr sammelte sich Blut – ein Anblick, der sie sehr erschreckte.

»Dante? Baptiste?«

Er hob den Kopf. Seine Augen waren nicht mehr golden, die Iris war nun von einem tiefen Nussbraun, das die geweiteten Pupillen umgab. Sie legte ihm einen Arm um die Körpermitte und zog sanft. »Steh auf. Wir müssen hier raus.«

Noch mehr Fenster explodierten in Glassplitterwolken. Das ächzende Gemäuer bröckelte. Schutt fiel zu Boden.

»Ich habe ihn, Püppchen«, sagte Von. »Schaff dich hier raus.«

Heather stand auf. »Zusammen«, sagte sie.

Der Nomad beugte sich vor, packte Dantes Arm und legte ihn sich behutsam um die mit einer Lederjacke bekleidete Schulter. Als er sich wieder aufrichtete, sah er Heather an. »Beweg deinen Hintern, Frau.«

Als Heather auf dem Weg nach draußen Annies Sporttasche neben der Haustür sah, schnappte sie sie sich. Dann rannte sie durch die sich immer stärker wellende Tür. Von war ihr dicht auf den Fersen.

 

Während Von Heather über die Veranda in den Garten hinunter folgte, die Arme um Dantes Schenkel geschlungen, den er mittlerweile über der Schulter hatte, vernahm er auf einmal durch den strömenden Regen hindurch ein ihm vertrautes Geräusch: das Rauschen von Flügeln. Erleichterung breitete sich wie erwärmter Honig in ihm aus.

Dann ging es Lucien also doch gut. Nach dem, was er von Dante gespürt hatte und aufgrund der langen Abwesenheit des Gefallenen hatte er bereits mit dem Schlimmsten gerechnet. Denn trotz der von Dantes geschlossenen Verbindung wäre Lucien seinem Sohn zur Hilfe gekommen – da war sich Von ganz sicher –, selbst wenn er dazu Ozeane, die Zeit und die Hölle hätte überwinden müssen.

Wo zum Teufel warst du?, sendete er und hielt inne, um sich umzudrehen.

Sein Gedanke schlug ungehört gegen eine geschlossene Mauer. Seine Erleichterung verschwand. Er wischte sich mit dem Unterarm den Regen aus den Augen und starrte auf die Gestalt mit den schwarzen Flügeln, die still zwischen den Büschen stand.

Das war nicht Lucien. Das war eine Frau, die da mit den Flügeln schlug und so die Tropfen in den Regen hinaus schüttelte. Ihr langes schwarzes Haar schlängelte sich in die Luft, und ihre Augen glühten wie goldene Sterne. Die eisige Luft ließ ihre Haut dampfen.

»Wir haben wenig Zeit«, sagte sie, und ihre melodiöse Stimme klang drängend. Sie kam auf Von zu. »Die anderen sind schon auf dem Weg. Gib mir Luciens Sohn, damit ich ihn verbergen kann.«

Luciens Worte hallten klar und deutlich in Vons Innerem wider: Beschütze ihn vor den Gefallenen, Llygad. Vor allem vor ihnen.

Als Von mit der linken Hand in seine Jacke fasste, um die Pistole zu zücken, explodierte das Haus, und eine riesige, heiße Hand schlug ihn gnadenlos zu Boden.