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IN EINER EHRLOSEN WELT

In der Luft · 22. März

 

Caterina sah aus dem kleinen Fenster des Flugzeugs. Tausende winziger Lichter leuchteten und flackerten in der Dunkelheit unter ihr – mit den Sternen unten und der kalten Unendlichkeit oben fast wie ein umgedrehter Himmel. Sie schob den Ärmel hoch, um einen Blick auf ihre Armbanduhr zu werfen. Zwölf Minuten nach Mitternacht, also einundzwanzig Uhr zwölf in Portland, Oregon. Sie würde bei ihrem Flug über das Land in der Zeit zurückreisen, weg vom Sonnenaufgang und auf die Nacht zu.

Sie entspannte sich in ihrem Sitz und schloss die Augen. Was sie Rutgers über die fehlenden Sicherheitsaufnahmen gesagt hatte, entsprach der Wahrheit, und es ärgerte sie maßlos, dass sie diese noch nicht gefunden hatte. Aber zumindest ahnte sie, wo sie stecken mochten.

Nach Bronlees Tod war sie nach Gaithersburg gereist, um der Witwe Nora ihr Beileid auszudrücken. Das tat sie immer, wenn es irgendwie möglich war, um nicht zu vergessen, dass sie ein Leben ausgelöscht und nicht nur einen Auftrag ausgeführt hatte.

Während sie mit der Trauernden im Wohnzimmer saß – Jetzt werde ich nie erfahren, warum er uns so überstürzt verlassen hat. Kristi war sein Ein und Alles –, hatte sie erfahren, dass Bronlee und seine Frau Dr. Wells geradezu vergötterten.

Das Flugzeug schwankte einige Sekunden lang heftig, und Caterina riss die Augen auf. Ihr Herz begann zu rasen. Luftwirbel. Sie hasste Fliegen, da sie es hasste, Fremden ihr Leben anzuvertrauen. Hastig nahm sie den Plastikbecher, der vor ihr auf dem heruntergeklappten Tischchen stand, und trank ihren Wodka aus. Der Absolut Vanille brannte wohlig warm in ihrer Kehle. Sie spürte, wie sich ihre Muskeln entspannten.

Anscheinend hatte Wells eine schwierige, umstrittene genetische Behandlung an Jon Bronlees einzigem Kind vorgenommen, während sich dieses noch in Noras Bauch befunden hatte. Das X-Syndrom. Ohne Wells’ Hilfe wäre Kristi Bronlee ihr Leben lang behindert, eventuell auch autistisch gewesen – und das hätte erst den Anfang ihrer Probleme dargestellt. Um für Kristi angemessen sorgen zu können – sowohl medizinisch als auch was eine Schule betraf –, hätten sich die Bronlees in große Schulden stürzen müssen.

Robert Wells hatte dieses Schicksal abgewandt, indem er ihre Tochter genetisch verändert hatte. Wegen seiner Arbeit – für die er nicht einmal Geld verlangt hatte – kam Kristi Bronlee gesund und ohne jegliche Behinderungen auf die Welt. Eine glückliche, vielversprechende Zukunft lag vor ihr.

Caterina reichte dem Flugbegleiter ihren Plastikbecher und schüttelte den Kopf, als dieser fragte, ob sie noch einen Wodka wolle. Er ging weiter, und sie lauschte seiner fröhlichen Stimme, als er die anderen Fluggäste bediente. Dann schloss sie wieder die Augen.

Halb dösend drifteten ihre Gedanken zu ihrer Mutter und den Schlafliedern zurück, die diese ihr in ihrer Kindheit immer am Bett vorgesungen hatte – italienische Schlaflieder aus alten Zeiten, mit einer Stimme so weich wie Samt.

Fi la nana, e mi bel fiol
Fi la nana, e mi bel fiol
Fa si la nana
Fa si la nana
Dormi ben, e mi bel fiol
Dormi ben, e mi bel fiol …

Caterina stellte sich Renata Alessa Cortini vor – zierlich, klein und anmutig, mit schwarzen Augen und blasser Haut, das dunkelbraune, schwere Haar hochgesteckt und in Locken auf ihre Schultern fallend.

Renata hatte Caterina von den Blutgeborenen erzählt und zugegeben, dass selbst sie in den vielen Jahrhunderten ihres Lebens nie einen getroffen hatte. Allerdings hatte sie von den Ältesten atemberaubende Geschichten über sie gehört. Man traf Blutgeborene immer seltener, und diese Tatsache hatte Renata tief verstört.

Sie hatte befürchtet, die Blutlinie würde allmählich immer seltener, die Reinheit verfälscht und beschmutzt.

Nachdem Caterina die CD in Bronlees Laptop angesehen hatte, war es ihr möglich gewesen, die Angst ihrer Mutter zu besänftigen: Es gibt die Blutlinie noch. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.

Ein Blutgeborener war zur Welt gekommen. Seine Mutter hatte man nach der Geburt getötet, der Vater war unbekannt.

Wie hatte Johanna Moore – als Vampirin, als Frau, als lebendiges Wesen – ihrer eigenen Fille de sang und deren Leibesfrucht nur so etwas Schreckliches antun können?

Beim Gedanken daran begann ein wildes Feuer in Caterinas Adern zu wüten. Sie holte tief Atem und zählte bis Tausend. Nach einer Weile wurde das Feuer schwächer, so dass sie es unter Kontrolle bekommen konnte.

Sie musste Dr. Moore finden oder zumindest ergründen, was ihr zugestoßen war. Vermutlich enthielten die noch immer vermissten Aufnahmen aus der medizinischen Abteilung, für die Jon Bronlee und so viele hatten sterben müssen, die Antwort.

Bei Caterinas Arbeit war es von größter Wichtigkeit, dass sie die gestellte Aufgabe auf jeden Fall zu Ende brachte. Keine Fragen. Kein Zögern. Das war Ehrensache. Sie war offenen Auges geworden, was sie war. Hieß das, dass sie eine Psychopathin war? Ihrer Meinung nach nicht. Sie tötete nur, wenn man es von ihr verlangte und nicht, um persönlich etwas daraus zu gewinnen, aus Machtgier oder einer perversen Lust heraus. Sie war eine Samurai in einer ehrlosen Welt.

Caterina hatte immer geglaubt, dass die Arbeit im Bush-Center, einschließlich die Projekte Moores und Wells’, der Gesellschaft etwas Gutes und Nützliches brachte – und zwar sowohl den Menschen als auch den Vampiren. Sie hatte gewusst, dass es bei ihrer Forschungsarbeit auch um das Bewusstsein und den Geist gegangen war, hatte sich aber nie überlegt, wie diese Studien entstanden oder auf wessen Kosten sie gingen.

Ihr Job hatte es nicht verlangt.

Ihr Herz aber hatte sich insgeheim gewundert und gefragt – ein Nachhaken, das sie unterdrückt hatte.

Jetzt wusste sie es. Ein blutgeborenes Kind namens Dante Baptiste hatte Moores Studien mit seinem atemberaubenden Gesicht zu etwas Greifbarem werden lassen.

Psychopathen erschaffen, um sie zu studieren und – unausgesprochen und ungeschrieben – zu kontrollieren.

Man hatte Dante in die furchtbarsten Pflegefamilien gesteckt und ständig herumgereicht, hatte ihm alles, was ihm jemals etwas bedeutet hatte, jeden, den er jemals geliebt hatte, systematisch entrissen.

Dante war auf viele verschiedene Weisen psychisch und mental gefoltert worden. Er stellte ein Experiment in der Psychopathologie dar, und sein Gedächtnis war fragmentiert und tief in ihm begraben worden.

Ein echter blutgeborener Prinz.

Caterina musste an zwei Bilder denken, die sie von Dante auf der CD gesehen hatte: Dante als dunkelhaariger Teenager, androgyn und bezaubernd, ein verführerisches, schiefes Lächeln auf den Lippen. Ihr gefielen die Sprödigkeit des Jungen und sein dunkler, direkter Blick.

Die andere Aufnahme war jüngeren Datums: Dante als Erwachsener mit einer verblüffenden Schönheit und einem Kenneich-vielleicht-tue-ich-es-wieder-vielleicht-auch-nicht-Blick, in einer Lederjacke und zerrissenen Jeans, einen mitgenommenen Gitarrenkoffer in der Hand, das bleiche Gesicht selbstsicher.

Das Flugzeug schaukelte und fiel plötzlich in ein Luftloch. Caterinas Magen sackte auch nach unten. Als sich das Flugzeug wieder fing und ruhiger weiterflog, beruhigte die gelassene Stimme des Captains die Passagiere. Caterina hielt die Augen geschlossen und krallte sich noch fester an den Armlehnen ihres Sitzes fest.

In Gedanken kehrte sie zu ihrer letzten, vor kurzem stattgefundenen Unterhaltung mit ihrer Mutter zurück. Sie erinnerte sich, wie ihrer Mutter fast der Atem gestockt hatte, als sie davon erfuhr.

»Ein Blutgeborener? Bist du sicher?«

»Sì. Aber man hat ihm stark zugesetzt. Ich weiß nicht, wie stark …«

»Das macht nichts, cara mia. Er ist ein Kind.« Eisige Wut war in Renatas nächsten Worten zu hören gewesen: »Diese Sterblichen verbergen also ein Kind des Blutes, verbergen und misshandeln es …«

»Mama, man hat mir aufgetragen, die Sterbliche zu ermorden, die er gerettet hat, sowie alle, die mit dem Projekt zu tun hatten – einschließlich des Mannes, dessen Idee es anfänglich war.«

»Den tötest du langsam. Ganz langsam. Was ist mit dem Blutgeborenen? Was soll mit ihm geschehen?«

»Für den Augenblick sollen wir ihn in Ruhe lassen. Er soll erst einmal frei bleiben.«

»Buono. Finde ihn, gewinne sein Vertrauen und bring ihn zu uns.«

»Sì. Aus diesem Grunde brauche ich auch deinen Rat. Wenn ich feststellen muss, dass er derart zerstört wurde, dass es keine Hoffnung mehr für ihn gibt, dass er ein echtes Monster geworden ist – wie töte ich dann einen Blutgeborenen? «

»Wenn er zu großen Schaden genommen hat, dann bringe ihn dennoch zu uns, damit wir sein Leben mit Liebe und Respekt beenden können.« Die Wut war aus ihrer Stimme verschwunden. Stattdessen klang nun Kummer darin. »Er gehört zu uns. Nicht in die Hände Sterblicher, nicht einmal in die deinen, mein liebes Kind, Freude meines Herzens.«

Ein weiterer heftiger Luftwirbel erschütterte das Flugzeug. Caterina hielt wieder die Augen geschlossen und klammerte sich noch fester an die Armlehnen. Noch mehr Chaos. Einige Reihen hinter ihr begann ein Säugling zu jammern.

Plötzlich verlangte es sie nach einer Zigarette. Sie stellte sich vor, wie sie den Rauch in ihre Lunge sog. Obwohl sie bereits seit sechs Jahren nicht mehr rauchte, überraschte sie manchmal eine heftige Begierde nach einer Zigarette und verpasste ihr einen Tritt in den Hintern, so dass sie sich wie ein Nikotin-Junkie auf Entzug fühlte, und jetzt wollte sie wieder eine. Verdammt.

Caterina dachte an die Worte, die ihre Mutter zum Abschied gesagt hatte. Sie betrachtete sie von allen Seiten, um ihre wahre Bedeutung zu erkennen: Du balancierst mit mehr Anmut und Souveränität zwischen den Welten, als ich das je erlebt habe, meine süße Katze. Aber eines Tages wirst du von diesem Seil fallen. In welche Welt wirst du fallen – in die der Sterblichen oder die der Vampire? Du wirst wählen müssen, während du das Gleichgewicht verlierst.

Was, wenn sie sich weigerte zu wählen? Einfach danebentrat, bewusst, mit geschlossenen Augen, und es dem Schicksal überließ, den Weg für sie zu wählen? Wäre sie in der Lage, im Auge des Sturms ihre Würde zu bewahren?

Sie wusste, wie sie die ihren töten musste, ebenso wie sie wusste, wie man Vampire vernichtete, und da Renata ihr nicht hatte sagen wollen, wie man einen Blutgeborenen tötete, würde sie es selbst herausfinden müssen. Nur, um für alle Fälle vorbereitet zu sein.

Man sollte sich nichts vormachen, sondern allzeit ehrlich sein. Was brauchte es, um ein blutgeborenes Kind zu töten?

Aber wenn Johanna Moores Projekt versagt und Dante nicht in ein Monster wie Elroy Jordan verwandelt hatte, dann war er noch jung genug, um neu geformt, geführt und erzogen zu werden.

Jung genug, um Rettung und Erlösung zu finden.

Sie würde Dante aufstöbern und dann ihrem Herzen lauschen, was Ehre und Gnade von ihr verlangten: ein blutgeborenes Monster zu töten oder einen blutgeborenen Prinzen vor Schlimmerem zu bewahren.

 

Senior Agent Sheridan lächelte die Kellnerin an, die seine Kaffeetasse wieder auffüllte. Er kippte ein Päckchen Süßstoff sowie einen Spritzer von dem Mist, der als Sahne durchging, in die bräunliche Flüssigkeit. Gedankenverloren rührte er eine Weile darin herum und sah zu, wie ein Airbus auf die Landebahn hinüberfuhr. Die Lichter blitzten in der Dunkelheit, das Flugzeug rollte über den Asphalt und nahm an Geschwindigkeit zu. Die dicken Mauern des Dulles International Airport dämpften das Dröhnen der Triebwerke, es drang kaum zu ihm herüber.

Cortinis Flug war vor einer Stunde planmäßig gestartet.

Sheridan hatte bereits viel von dieser Frau gehört und ihr Bild genau betrachtet, sie aber nie kennengelernt. Er nippte an dem Kaffee und versuchte, nicht auf den gallebitteren, verbrannten Geschmack zu achten.

Als Cortini Rutgers’ Büro betreten hatte – etwas unter einem Meter siebzig, schlank, mit selbstbewusstem Gang –, hatten ihn ihre fließenden Bewegungen fasziniert. Fließend und doch reserviert. Wie eine Turnerin oder eine Judoka. Er hätte wetten können, dass ihre Reflexe schnell und messerscharf waren, dass sie innerhalb einer Sekunde vom Händeschütteln zum Rückgratbrechen übergehen konnte.

Sie hatte ein dunkles, tailliertes Kostüm und eine weiße Bluse getragen. An ihren Ohren und Handgelenken hatte es silbern gefunkelt. Kaffeebraunes Haar war ihr über die Schultern gefallen und hatte ihr attraktives Gesicht eingerahmt. Sie war vierunddreißig, sah aber jünger aus. Ein unerwartet freches Lächeln hatte sich auf ihren geschminkten Lippen gezeigt – nur eine Andeutung von Rosé – und ihre haselnussbraunen Augen erhellt.

Es wäre nicht schwer gewesen, sich von dieser Frau – dieser Killerin – um den Finger wickeln zu lassen, ein Leichtes, ihr keckes Lächeln falsch einzuschätzen – und es wäre fatal gewesen.

Das Flugzeug, das er beobachtete, stieg in die Luft, eine Konstellation aus blinkenden Tragflächenlichtern. Sheridan sah ihm nach, bis es außer Sichtweite war. Endlich schob er angewidert den Kaffee von sich und bestellte ein Forster’s. Ein Bier konnte nicht schaden, während er auf den Nachtflug nach Seattle wartete. Es würde eine lange, stressige Nacht werden.

Rutgers hatte ihm genaue Anweisungen gegeben, als sie gemeinsam nach draußen gegangen waren, wo sie nichts und niemand belauschen konnte.

»Wenn ich eine gute Agentin wie Wallace und eine wichtige Quelle wie Wells verlieren muss, dann ist auch Dante Prejean dran«, sagt Rutgers. Sie blickt auf den Boden, ihre Worte klingen gepresst und hart. »Ich weigere mich, ihn ungeschoren davonkommen zu lassen. Er ist schon so gut wie tot, und die Schattenabteilung kann sich ihre Entscheidung sonstwohin stecken.« Sie blickt auf. Ihre Augen liegen tief in den Höhlen, und ihre Stimme klingt verbittert und kalt. »In unserer Sparte ist es nicht schwer, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Erinnern Sie Cortini daran, wenn Sie sie töten.«