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FÜR IMMER ZUM SCHWEIGEN GEBRACHT

Seattle, Washington · 22./23. März

 

Annie schlief endlich, auf ihrer linken Seite zusammengerollt, wie sie es schon als kleines Mädchen getan hatte. Heather beugte sich über ihre Schwester und strich ihr eine blaue Strähne aus dem Gesicht. Die Erinnerung an ein altes Versprechen kam ihr in den Sinn. Es schien noch immer so präsent wie in jener Nacht, als sie es gegeben hatte.

Annie-Häschen steht in ihrem Tinkerbell-Schlafanzug und mit einem Plüschhasen im Arm unter Heathers Tür. Sie reibt sich mit beiden Fäusten die Augen. Zerzauste rotblonde Locken umrahmen ihr rundes Kleinkindgesicht. Mommy und Daddy schreien sich wieder einmal an. Ihre Stimmen sind vor Zorn und Hass ganz heiser.

»Komm her«, flüstert Heather und hebt ihre Bettdecke hoch.

Annie klettert zu ihr ins Bett und schmiegt sich eng an sie. »Angst«, sagt sie.

Heather zieht über beide die Bettdecke, so dass sie ganz darunter verschwunden sind. »Ich werde nicht zulassen, dass dir irgendwas passiert«, verspricht sie, obwohl auch sie Angst hat. Aber Annie-Häschen ist ihre kleine Schwester, so wie Kevin ihr kleiner Bruder ist, und sie wird sich immer um sie kümmern, ganz gleich, was passieren mag.

Annie-Häschen drückt sich noch enger an sie. Ihr Plüschhase liegt als weiche Barriere zwischen ihnen. Sie schließt die Augen.

»Schlaf gut«, wisperte Heather. Trotz ihres Versprechens hatte sie all den schrecklichen Ereignissen hilflos gegenübergestanden, die ihrer Schwester im Laufe der Jahre zugestoßen waren.

Es schien, als hätte ihre Mom bei ihrem Tod einen Teil von sich in Annie zurückgelassen, tief in ihr verwurzelt, düster, bitter und selbstzerstörerisch – einen Teil, der sich allen Versuchen widersetzte, ihn auszugraben und zu beseitigen.

Vielleicht, wenn Annie ihre Medikamente doch weiter nimmt.

Heather schlich aus dem Zimmer, wobei sie die Tür einen Spalt offen ließ. Sie ging in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein. Während der Kaffee in die Kanne tropfte, lehnte sie sich an die Arbeitsplatte und rieb mit beiden Händen ihr Gesicht. Sie war erschöpft: Der Besuch an dem Ort, wo ihre Mutter ermordet worden war, das Meeting mit Rutgers und Rodriguez, ihr Vater, dann Dante und Annie – und der Tag war noch immer nicht ganz vorbei.

Dante … was hatte dieser Kretin Wells ihm noch alles angetan?

Wells musste noch immer für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden, für die der Vergangenheit und die der Gegenwart. Die Opfer, die durch die Hände der Killer gestorben waren, die er und Moore auf die Menschheit losgelassen hatten, brauchten eine Stimme, jemanden, der sich für sie einsetzte.

Dante hatte versucht, für seine Mutter Genevieve Baptiste zu sprechen, und zwar auf die einzige Art und Weise, die er kannte – durch Gewalt. Doch wer hatte je für ihn gesprochen?

Doch was war mit Dantes Opfern? Chloe und den Prejeans?

Heather kehrte in Gedanken zu den Morden in der Kneipe in New Orleans zurück. Zwei tote Ermittler, drei tote Gäste, Leichen und Gebäude in Brand gesteckt. Sie befürchtete, dass Dante nach Jays schrecklichem Tod aufgewühlt und erregt durch Blut und Flammen für diesen gesprochen hatte, unbewusst seiner Programmierung folgend.

Sie ließ die Hände sinken. Eiskalte Finger griffen nach ihrem Herzen. Es war eine Programmierung, die immer wieder ausgelöst werden konnte. Aber wenn sie Wells umbrachte …

Sie holte tief Luft und lenkte ihre Gedanken weg von dem dunklen Pfad, den sie eingeschlagen hatten.

Ein Mord ist ein Mord ist ein Mord – ganz gleich, ob es der betroffene Mensch verdient zu sterben oder nicht.

Was aber war mit den Morden im Krähennest?

Dante lügt nie, noch vergibt er anderen ihre Lügen. Wenn der richtige Zeitpunkt kam, würde sie ihn einfach fragen. Bis dahin wollte sie nicht mehr darüber nachdenken.

Eins nach dem anderen. Immer schön eins nach dem anderen.

Heather schenkte sich Kaffee in den Becher mit dem Katzengesicht. Der Duft der französischen Röstung ließ ihr normalerweise das Wasser im Mund zusammenlaufen. Doch diesmal war sie sich nicht einmal sicher, ob sie den Kaffee trinken konnte. Ihr Magen fühlte sich an, als hätte sie kalte Steine verschluckt.

Noch etwas arbeiten und dann ins Bett.

Sie stellte ihren Becher auf dem Tisch ab, ohne einen Schluck genommen zu haben. Sie nahm den Stapel mit Fotos und Berichten, den Dante aufgehäuft hatte. Eine Aufnahme fiel heraus und auf den Tisch. Das erste bekannte Opfer von Higgins, eine junge Frau, die dafür bekannt war, viel zu trinken und schnell im Bett zu landen. Sie hatte ein melancholisches Lächeln. Sorgfältig schob Heather das Foto wieder in den Stapel zurück.

Higgins hatte vierundzwanzig Frauen für immer zum Schweigen gebracht, darunter Heathers Mutter. Jede von ihnen war einsam und verletzt gewesen, hatte bei der Flasche, in der Umarmung eines Fremden oder auf einem Barhocker, umgeben von Zigarettenrauch und betrunkenem Gelächter, nach Wärme gesucht. Die meisten hatten sich auf der Flucht vor einer schlechten Ehe, herzlosen Eltern oder vor sich selbst befunden. Jede der Frauen hatte sich verzweifelt danach gesehnt, irgendwo ein Heim zu haben.

Genau wie Annie.

Annies Bild würde nie in einer Verbrechenskartei enden, als Opfer eines unbekannten Mörders. Das würde Heather verhindern. Sie massierte sich den Nacken und ließ die Schultern kreisen, bis sich die Anspannung in ihren Muskeln etwas legte.

Sie holte den Laptop aus ihrem Schlafzimmer und stellte ihn auf den Tisch. Sobald er hochgefahren und sie im Internet war, begann sie zu überlegen, mit welcher Suche sie anfangen sollte.

Suche A: Wer war Senior Agent Alex Lyons und warum hatte man ihn eingeteilt, sie zu ihrer Tatortbegehung zu begleiten?

Suche B: Woran hatte Senior Agent Alberto Rodriguez zuvor gearbeitet? Warum hatte man ihn dazu auserwählt, die Niederlassung in Seattle temporär zu leiten? Wieso hatte er so beharrlich hinsichtlich ihrer Gesundheit und Bad Seed nachgebohrt?

Suche C: Wo nur steckte der pensionierte Dr. Robert Wells?

Heather gab DR. ROBERT WELLS in die Suchmaschine ein und begann mit Suche C.