8

IN DEN SCHATTEN

Portland, Oregon · 22. März

 

Seine Tochter beschützte einen Vampir.

James Wallace schüttete heißes Wasser in einen Becher und über den Teebeutel, der darin hing. Als der Tee zog, stieg der schwache Geruch von Heidelbeeren auf. Er trug den Becher in sein Büro und stellte ihn auf den kleinen Tassenwärmer, der in der Steckdose steckte. Dann ließ er sich in einen Klubsessel sinken. Das Leder knarzte unter seinem Gewicht. Er rieb sich mit den Händen das Gesicht. Der Bürstenschnitt fühlte sich unter seinen Fingern weich an.

Heathers Reaktion auf seine Bemerkung, Prejean habe ihr das Leben gerettet, war genug gewesen. Nun wusste er Bescheid. Sie hatte bei der Nachbesprechung gelogen und diese Lüge auch zu Protokoll gegeben. Sie log noch immer. Sie beschützte Prejean. Sie beschützte einen gottverdammten widerwärtigen Blutsauger.

Er wusste nicht, was schlimmer war – das oder die Tatsache, dass sie Shannons Fall wieder aufgerollt hatte.

Auf der Heimfahrt waren ihm mehrere Fragen durch den Kopf gegangen: Wie konnte er zugleich seinen Ruf und seine starrköpfige Tochter schützen? Was war so wichtig, dass sich Rutgers’ Assistent dazu verpflichtet gesehen hatte, die Besprechung zu unterbrechen, wenn auch nur kurz, und was zum Teufel hatte Dante Prejean mit Heather gemacht?

Als Erstes hatte Wallace, nachdem er hereingekommen war, einen seiner Kontakte in Washington angerufen.

Behalte das für dich, Jim. Aber Caterina Cortini war hier, hat Rutgers besucht und ist dann wieder gegangen. Rutgers ist kurz darauf ebenfalls weg und sah verdammt wütend aus.

Diese Mitteilung hatte James tief erschreckt. Cortini arbeitete ausschließlich für die Schattenabteilung – eine Einrichtung der Regierung, die vor vielen Jahren einmal ein Vizepräsident ins Leben gerufen hatte. Es war ein Konsortium, von dem es hieß, es bestehe aus CIA, Verteidigungsministerium, FBI und der Inneren Sicherheit, eine Abteilung, die niemandem Rechenschaft schuldete und offiziell gar nicht existierte.

Cortini galt als eine der besten Killerinnen der Schattenabteilung, auch Problemlöser genannt – also jemand, dessen Hauptaufgabe darin bestand, aufzuräumen und auszumisten.

Wenn James bedachte, was der Grund für seine Verabredung mit Rutgers und Rodriguez gewesen war, wurde er den Verdacht nicht los, dass auch Cortinis Auftauchen in Washington etwas damit zu tun haben musste. Es ging um das mögliche Auffliegen des Bad-Seed-Projekts und den Versuch, das um jeden Preis zu verhindern, und dieses Verhindern würde garantiert auch Heather mit einbeziehen.

James nahm sein Mobiltelefon vom Schreibtisch, suchte Heathers Nummer heraus und drückte auf den grünen Knopf. Als sich ihre Voicemail anschaltete, nahm er an, sie habe seine Nummer erkannt und wolle deshalb nicht rangehen.

Nachdenklich klappte er das Mobiltelefon wieder zu. Er würde es später noch einmal versuchen. Während er den Becher mit dem Tee nahm und einen Schluck trank, überlegte er, ob er vielleicht Annie anrufen sollte. Sie sollte inzwischen bei Heather eingetroffen sein, wenn sie seinen Anweisungen gefolgt war. Bei Annie konnte man nie ganz sicher sein. Sie änderte dauernd ihre Meinung. Genau wie ihre Mutter.

Sag ihr, sie soll aufhören, Annie. Eure Mutter hat sich nie auch nur einen Deut um euch geschert.

Du auch nicht. Du warst immer weg. Nur Heather war immer für uns da.

Ich musste Geld reinbringen, damit ihr ein Dach überm Kopf hattet. Und etwas Warmes zu essen.

Und wenn sie sich nicht umstimmen lässt?

Dann werden wir nie mehr eine richtige Familie sein. Tu, was nötig ist – ich stehe hinter dir.

Dieser verdammte Arzt will mir andere Medikamente verschreiben. Er will, dass ich länger hierbleibe.

Ich kümmere mich um alles, Schätzchen. Du brauchst keine Medikamente. Du bist doch mein braves Mädchen.

Annies Gesicht hatte sich für einen Moment erhellt, und Hoffnung hatte den üblichen Argwohn verdrängt – wie Sonnenschein den Nebel aufriss. Er hatte sich kalt und krank gefühlt, als sei er viel zu lange immer nur im Schatten geblieben.

James betrachtete das gerahmte Foto, das vor ihm auf dem Schreibtisch stand – eine Aufnahme von Heather und ihm, beide grinsend in weißen Arztkitteln und mit Mikroskopen in den Händen. Heather war damals dreizehn gewesen, klein und schlaksig, das rote Haar reichte in einem dicken Zopf bis zur Taille, ihr Lächeln wirkte offen und glücklich.

Auf einem anderen Foto sah man Heather und ihn in ölverschmierten Hosen und T-Shirts vor einem alten Mustang, den sie gemeinsam repariert hatten. Strähnen dunkelroten Haars fielen Heather in ihr schmutziges Gesicht, während sie in die Sonne blinzelte. Ihr Lächeln wirkte mit fünfzehn schon ein wenig zurückhaltender.

Dank des raschen Handelns ihres Vaters mochte seine Tochter vielleicht nochmal zu Sinnen kommen und einen Fall ruhen lassen, den man besser nicht mehr anrührte.

Falls Prejean Heather jedoch in jemand anderen als das Mädchen auf den Fotos auf seinem Schreibtisch verwandelt hatte, in jemanden, der nicht länger hundertprozentig menschlich war, dann wäre es das Gnädigste – und das, was sicher auch in Heathers Interesse war –, nichts zu tun und abzuwarten, dass die Dinge in Gestalt Caterina Cortinis ihren Lauf nahmen.

Doch ehe das geschah, musste er die Wahrheit herausfinden. Es gab eine Person, die wissen konnte – falls es überhaupt jemand tat –, was Prejean seiner Heather angetan hatte, als er ihr das Leben rettete.

James stellte den Becher wieder auf den Wärmer zurück und schaltete den Rechner ein. Während der Dell hochfuhr, entwarf James in Gedanken die Mail, die er schreiben wollte.

Ist die Menschlichkeit meiner Tochter korrumpiert?