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DINGE ZERFALLEN

Seattle, Washington – Vespers · 23. März

 

Das Vespers stank nach verschüttetem Bier, Gewürznelken und Patschuli. Heather fasste nach Annies Hand und hielt sie fest, während sie ihre Schwester von der schimmernden Mahagoni- und Messingbar weg und in die schweißtriefende Menge hineinführte, die sich vor der Bühne drängelte.

Dogspit hatten gerade ihren Auftritt beendet. Heather bedauerte, die Band verpasst zu haben. Annie hatte ewig gebraucht, um fertig zu werden. Sie hatte sich mindestens dreimal umgezogen und mit ihrem Haar herumgemacht. Aber so war ihr Schwesterchen nun mal.

Die Menge bebte vor Energie. Die Leute plauderten angeregt miteinander, während sie darauf warteten, dass Inferno auf die Bühne kam. Goth-Prinzessinnen in Samt, Netzstrümpfen und dunkler Spitze standen neben Cyber-Goths in Lack-und Fetischklamotten. Neo-Punks drängten sich mit ihren Iros in Rot und Violett neben muskulösen Kerlen in Leder und Latex, deren schwarz gefärbte Teufelslocken ihnen in die Augen fielen. Eine Handvoll Nomads in wettergegerbter Lederkluft stand etwas seitlich; schwarze Schwingen in V-Form waren auf ihre rechte Wange tätowiert und wiesen sie als Angehörige des Raben-Clans aus.

Ob Mann oder Frau – alle kämpften um Plätze so weit wie möglich vorne. Viele hielten sich eisern am Geländer vor der Bühne fest, um auf keinen Fall mehr beiseitegedrängt werden zu können.

Heather kam sich in ihren Turnschuhen, der schwarzen Jeans und dem violetten Netztop, das sie über einem violetten BH trug, völlig underdressed vor. Oder overdressed, je nachdem, wen sie gerade ansah. Jetzt wurde sie zum Beispiel gegen eine Frau geschoben, die ein dunkles Lederbustier und lederne Hotpants trug, wobei ihre Haut auf beiden Seiten üppig herausquoll.

»Warst du schon mal auf einem Inferno-Konzert?«, überschrie Annie die anderen Stimmen. Der durchdringende Geruch von Hasch stieg in die Luft.

»Nein, das ist das erste Mal, dass ich sie auftreten sehe.« Heather bahnte sich einen Weg durch die Menge bis zu einer Stelle rechts von der Bühne, in der Nähe der Nomads. »Dante meinte, er hätte WMD gehört«, rief sie Annie zu. »Sagte, ihr wärt die absolut Besten gewesen.«

»Ja? Cool.« Ein erfreutes Lächeln umspielte Annies Mund. Mit dem vielen Kajal um die Augen und dem glitzernden violetten Lidschatten, den sie auch auf die Lippen geschmiert hatte, wirkte sie in ihrem engen schwarzen GRAVEYARD-Tanktop, der schwarz-violetten Krinoline, den Netzstrümpfen und den geschnürten Latexstiefeln wie eine sexy Clubschönheit.

Die Menge bewegte sich, als eine Gestalt – groß, schlank und mit Schnurrbart – auf die Bühne kam und ein Zeichen gab, damit das Licht gedimmt wurde. Der tätowierte Halbmond unter dem Auge des Mannes funkelte wie Glimmerschiefer in den Scheinwerfern.

»Hallo, Schätzchen!«, schrie Von und kam an den Bühnenrand, wo er in die Hocke ging. »Was tut ihr hier in der Menge? Ihr steht doch auf der Gästeliste.«

Die Leute in der Nähe reckten die Hälse, um zu sehen, mit wem er sprach. Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf Heather. Einige begannen zu tuscheln.

»He, Von«, rief Heather dem Nomad zu. »Ich wollte die Zuhörer sehen.«

Von nahm die Sonnenbrille ab und zwinkerte. »Das muss Ihre Schwester sein. Die Wallace-Familie kann offenbar nicht über schlechtes Aussehen klagen.« Er grinste wölfisch.

»Danke«, sagte Heather und warf einen Blick auf ihre Schwester. Annie starrte fasziniert auf die Reißzähne, die Vons Grinsen bloßgelegt hatte.

Er sprang von der Bühne in den Bereich zwischen Bühne und Absperrgeländer. Dort gab er den Leuten ein Zeichen, zur Seite zu treten, was sie auch widerwillig taten. »Komm her, Püppchen«, sagte er und winkte Annie.

Mit hoch erhobenem Kinn trat Annie vor. Ein Weg bahnte sich zwischen den Besuchern, die beiseitetraten. Von legte die Hände um ihre Taille und hob sie auf die Bühne, als ob sie so leicht wie eine Feder wäre.

»Jetzt Sie.«

Auch Heather trat an die Absperrung, und Von legte den Arm um sie und sprang gemeinsam mit ihr auf die Bühne hoch. Für einen Moment hatte sie den Eindruck zu fliegen.

Er begleitete sie und Annie über die im Dunklen liegende Bühne, vorbei am Equipment und den Boxen zur Seitenbühne, die hinter Vorhängen verborgen war. Dort kam ihnen Dante entgegen. Sein bleiches Gesicht strahlte, seine Augen leuchteten, und das schwache Licht eines Scheinwerfers spiegelte sich in seinem stählernen Bondagereifen wider. Heather blieb schlagartig stehen. Ihr schlug das Herz bis zum Hals, und sie fühlte sich auf einmal atemlos.

Verdammt. Hör auf. Es ist doch nur Dante – und genau das traf den Nagel auf den Kopf: Es war Dante. Jemanden wie ihn gab es kein zweites Mal.

»Catin.« Er musterte sie von oben bis unten, und seine Augen blitzten anerkennend. »Très verdammt sexy.« Er sah Annie an. »He, p’tite. Du hast dich aber gut hingekriegt.«

»Wow, danke«, sagte Annie und rollte die Augen.

Dante legte die Arme um Heather. Sein Körper in Latex und Leder schien den ihren zu verbrennen. Seine Hände glitten zu ihrem Gesicht und hielten es fest, wobei sich seine Ringe auf ihrer Haut angenehm kühl anfühlten. Er senkte den Kopf und küsste sie. Seine Lippen schmeckten süß wie Lakritze. Sie schmeckte auch Alkohol. In ihrem Bauch und zwischen ihren Beinen begann es zu kribbeln, als stünde sie unter Strom.

»Freut mich, dass du hier bist«, sagte er, als er sich wieder von ihr löste.

»Mich auch«, flüsterte Heather.

»Mann«, sagte Annie. »Nehmt euch doch ein Zimmer.«

»Tais toi, p’tite.«

»Sprich Englisch, du Trottel.«

»Du kannst mich mal.«

»Schon besser. Habe gehört, du warst ein Fan von WMD.«

Auf Dantes Lippen zeigte sich ein Lächeln. Er ließ Heather los, trat einen Schritt zurück und wandte seine Aufmerksamkeit Annie zu. »Ja. Glaubst du, ihr werdet nochmal auftreten? «

»Möglich«, sagte sie. »Kommt darauf an. Erlaubst du mir mal, dieses Bondagehalsband zum Einsatz zu bringen?«

Dante lachte, aber Heather hielt einen Augenblick lang verletzt die Luft an. Sie drehte sich wütend zu ihrer Schwester um. »Was soll das?«

»Nichts. Ich mache doch nur Spaß. Entspann dich!« Annie verschränkte die Arme vor der Brust, und ihr Gesicht nahm einen vertraut widerborstigen Ausdruck an.

»Er …« Heather hielt inne. Was wollte sie sagen? Er gehört mir? Er ist vergeben? Stimmte das? Plötzlich brannten ihre Wangen. Wann hatte sie denn diese Entscheidung getroffen?

»Scheiße, du wirst ganz rot«, sagte Annie und klang, als könne sie es kaum glauben.

Dante lächelte. »Ich glaube, ich mag es, wenn sie errötet«, sagte er. Dann trat er wieder zu Heather und berührte ihre Stirn mit der seinen. Er legte die Hände auf ihre Taille, und seine Finger fühlten sich auf ihrer Haut unter dem Netztop unbeschreiblich heiß an. Kribbelnde Hitze breitete sich in ihr aus. »Wann immer du willst«, wisperte er, »gehöre ich dir.«

»Wirklich?«, gab sie flüsternd zurück.

»Ja. Die Leine ist optional.«

Heather lachte, und ihre Unsicherheit verschwand. Sie war froh, dass Dante sie nicht gebeten hatte, den Satz zu beenden, den sie gerade begonnen hatte – vor allem, da sie noch immer nicht wusste, was sie hatte sagen wollen.

Dante hob den Kopf und ließ ihre Taille los. Dann nahm er ihre Hand. Seine Finger schoben sich zwischen die ihren, und er führte sie und Annie hinter die Bühne in eine kaum möblierte Garderobe. »Ich will euch den Jungs vorstellen.« Er schob Zeigefinger und Daumen in den Mund und stieß einen schrillen, durchdringenden Pfiff aus. In der Garderobe wurde es augenblicklich still. Alle sahen in seine Richtung.

»Also, Leute, das ist Heather«, stellte er sie vor und wies mit dem Kopf auf sie, »und das ist ihre Schwester Annie.« Dabei legte er den Arm um Annie.

Die Leute in der Garderobe nickten, lachten, hoben die Hand und riefen: »Hi!«

Dante wies auf einen Sessel, woraufhin der Mann, der gerade dort saß, sofort aufsprang. »Das ist Eli, mon cher ami«, sagte Dante mit einer warmen, zärtlichen Stimme. »Wir machen jetzt schon seit … wie lange machen wir schon Musik zusammen?«

»Seit fast fünf Jahren, Tee-Tee«, sagte Eli. Er stellte eine Mischung verschiedener Ethnien dar. Seine Haut war hellbraun, er hatte mandelförmige, jadegrüne Augen, war groß und hochgewachsen und etwa Mitte bis Ende zwanzig.

»Das da drüben vor dem Spiegel«, erklärte Dante, »ist Black Bayou Jack. Ein Wahnsinnsschlagzeuger. Geht immer voll ab.«

Jack schmunzelte. »Freut mich, m’selles – freut mich wirklich. « Sein melodischer Cajun-Akzent wies ihn als weiteren Einheimischen Louisianas aus. Sein falscher Iro war geflochten, und sein dunkelblondes Haar stand an den Seiten und hinten kurz ab, während sein Zopf kirschrot gefärbt war. Schwarze Tätowierungen wanden sich um seinen Hals und seine muskulösen Arme.

»Da drüben, ganz scharf darauf, auf die Bühne zu gehen und zum dritten Mal die verdammte Ausrüstung zu überprüfen, ist Antoine – der Mann, der den Bass so richtig funky und sexy klingen lässt.«

»Hi«, brummte Antoine und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Das letzte Bandmitglied war auch Mitte bis Ende zwanzig, hatte dunkelbraune Haut und karamellfarbene Augen. Er trug sein Haar als sexy Afro und hatte es ganz offensichtlich eilig, endlich auf die Bühne zu kommen und anzufangen.

Dante wies mit dem Kopf in Richtung der Vorhänge, und Antoine verschwand mit einem dankbaren Lächeln hinter den Falten des dicken Samtstoffs.

»Er muss immer sicherstellen, dass alles richtig aufgebaut ist«, sagte Dante und drückte Heathers Hand, ehe er sie losließ. Dann stockte ihm der Atem, und er fasste sich an die Schläfe.

Als Heather seine geweiteten Pupillen sah, bekam sie Angst. Sie streckte die Hand nach ihm aus, doch er wich ihr aus. »Du hast wieder Kopfschmerzen«, stellte sie besorgt fest.

Er zuckte die Achseln. »Nicht schlimm. Wir sehen uns gleich, chérie

Als er sich zum Gehen wandte, sah sie, wie er die Zähne zusammenbiss. Sie warf Von einen Blick zu. Der Nomad hatte seine Aufmerksamkeit allerdings schon auf Dante gerichtet. Auch er wirkte alarmiert. Dante glitt durch den Vorhang auf die Bühne.

»Simone sagte, seine Migräneanfälle würden schlimmer«, sagte Heather.

»Das ist noch lange nicht alles«, sagte Von leise. »Er hat auch immer wieder Anfälle.«

»Anfälle?«, fragte Heather, der es eiskalt den Rücken hinunterlief.

»Für den Augenblick bleibt das aber unter uns, Püppchen«, bat Von.

»Er sollte nicht auftreten.«

Er schnaubte. »Sagen Sie ihm das.«

»Das werde ich.« Heather wandte sich um und ging in Richtung Vorhang. Finger legten sich um ihren Arm. Sie versuchte, sich loszureißen, doch die Finger ließen sich nicht abschütteln. Sie blickte auf und sah Vons ernste Miene.

»Lassen Sie ihn in Ruhe«, sagte er. »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Verstehen Sie? Nicht jetzt.«

Heather überlegte einen Augenblick und nickte dann. »Gut. Nicht jetzt.« Von ließ sie los, ohne den Blick von ihr abzuwenden. »Aber er braucht Hilfe. Er kann nicht heilen, wenn er sich weigert zuzugeben, dass er überhaupt verletzt ist, und ich glaube auch nicht, dass er alleine heilen kann.«

Von nickte. »Das ist verdammt wahr. Was ist zwischen euch beiden passiert? Er hat es mir nicht erzählt.«

Heather zögerte, in ihrem Herzen vermischte sich Bedauern mit Unsicherheit. Sie holte tief Luft. »Ich habe gesehen, wie er eine Frau in ihre Bestandteile aufgelöst hat.« In Vons Augen spiegelte sich Verständnis. »Er hat mir außerdem das Leben gerettet, und dafür werde ich ihn immer lieben. Aber … was wissen Sie über Blutgeborene, Von?«

»Nur wenig«, antwortete er. »Ich bin erst seit vierzig Jahren ein Nachtgeschöpf, und ich habe wenig über sie gehört, weil Vampire, die als solche geboren wurden, so verdammt selten vorkommen. Ich weiß, dass sie sehr mächtig, schnell wie der Blitz und voller Magie sein sollen. Schauen Sie sich einfach Dante an.«

»Wissen die Nomad-Clans über Vampire Bescheid?«

»Natürlich«, sagte er. »Aber die Clans verstehen Blutgeborene als Elemente der Nacht. Sie wissen schon – als Stimme der Natur, Avatare der Nacht.« Er schüttelte den Kopf. »Aber da Dante auch ein Gefallener ist, kann man ihn nicht vergleichen.« Einen Augenblick lang sah er so aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, doch dann schüttelte er den Kopf und schwieg.

Heather hatte gewusst, dass die Clans der Nomads meist heidnisch waren, uralte Naturriten abhielten und irgendwelchen Naturgottheiten huldigten. Aber ihr war bisher nicht klar gewesen, dass Nachtgeschöpfe – also Vampire – Bestandteil ihres Glaubenssystems waren.

Wir sind alle Teil der Natur.

»Aber kommen Sie – ich bringe Sie und Ihre entzückende Schwester dorthin, wo Sie das Konzert am besten verfolgen können.«

»Ich freue mich schon sehr.« Sie warf einen Blick über die Schulter und erstarrte, als sie sah, mit wem Annie sich unterhielt.

Silver, das mitternachtsviolette Haar kunstvoll zerzaust, als wäre er gerade erst aufgestanden, schlank und groß in einer schwarzen Jeans, Motorradstiefeln und einem Retro-T-Shirt mit der Aufschrift TV ON THE RADIO, lehnte lässig an der Wand. Er sah nicht älter als sechzehn aus, lächelte, ließ dabei die Reißzähne aufblitzen und plauderte angeregt mit Heathers Schwester.

Annie verlagerte ihr Gewicht auf die Fußballen und schlenkerte eines ihrer hübschen Beine vor und zurück, während sie mit den Fingern an der kurzen Krinoline zupfte. Ihr Blick war charmant und wirkte doch wie geblendet. Ihre himmelblauen Augen glänzten vor Verlangen.

»Was tut er hier?«, wollte Heather wissen. In New Orleans war ihr nie ganz klar gewesen, wie sie den rätselhaften Vampir einschätzen sollte, und sein wissendes Lächeln hatte sie immer wieder empört.

»Dante ist Silvers Vormund«, sagte Von und zuckte die Achseln. »Eine Art Austauschstudent unter Nachtgeschöpfen. Da Dante für ihn verantwortlich ist, konnte er ihn schlecht in New Orleans lassen.«

»Verstehe«, flüsterte Heather. »Aber ich will nicht, dass er sich an Annie heranmacht.«

Ein verblüfftes Lächeln huschte über Vons Lippen. »Das ist aber seltsam. Sie scheint mir alt genug zu sein, um ihre eigenen Entscheidungen treffen zu können.«

Ohne auf seinen Kommentar zu achten, trat Heather zu Annie und Silver und schob sich zwischen die beiden. »Das ist meine Schwester«, sagte sie zu Silver und blickte in seine glänzenden Silberaugen. In seine belustigten Silberaugen. »Hände weg. Verstanden?«

»Verpiss dich«, sagte Annie mit leiser, gepresst klingender Stimme. »Ich bin sechsundzwanzig, verdammt nochmal, und mehr als fähig, meine eigenen Entscheidungen zu treffen.«

»Wirklich? Seit wann?«

Silver öffnete den Mund, um etwas zu sagen, warf dann aber einen Blick in Vons Richtung und schloss ihn wieder. Dann zuckte er die Achseln und ging.

Heather nahm ihre Schwester an der Hand. Annie riss sich los. »Hör auf, mich wie ein Kind zu behandeln!«, rief sie. Ihre Augen blitzten ärgerlich. »Ich habe eine bipolare Störung, keine Behinderung!«

»Ich behandle dich nicht wie ein Kind«, antwortete Heather, wobei es ihr schwerfiel, ruhig zu bleiben. »Aber ich fände es nett, wenn du aufhören würdest, dich wie eines zu benehmen. Silver ist ein Nachtgeschöpf. Ich passe nur auf dich auf.«

»Wirklich? Ist das noch ein Typ, mit dem du nicht zusammen bist, den du aber für dich behalten willst?«

»Nein!«

»Oh. Gut. Dann darfst also nur du mit Nachtgeschöpfen flirten? Ist es das, Fräulein Ich-kriege-alles-was-ich-will?«

»Annie, kein …«

»He, weißt du was? Du kannst mich mal!« Annie fuhr herum und verschwand hinter den Vorhängen.

»Scheiße!« Annies Namen rufend riss Heather die schweren Vorhänge beiseite und hastete über die Bühne hinter ihr her. Aber Annie stürzte sich bereits in die Menge hinter der Absperrung. Arme drängten sie nach hinten, und kurz darauf war ihr bunter Haarschopf nicht mehr zu sehen.

Heather sprang ebenfalls von der Bühne, schlüpfte unter dem Absperrgeländer hindurch und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Die Lichter im Club gingen aus, und das Publikum begann zu toben. Mehrere dicke Männerkörper, die nach Schweiß und Bier stanken, schoben sich vor Heather. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um so nach Annie Ausschau zu halten, aber das Meer aus Köpfen machte es unmöglich, sie irgendwo zu entdecken.

Die Menge drängte nach vorn, Heather bekam Ellbogen und Hüften in die Seiten, und ihre Ohren dröhnten, als das Brüllen der Leute immer lauter wurde. Da sie wusste, dass es jetzt keinen Sinn hatte, sich zu befreien, während Inferno auf die Bühne kam, drehte sie sich um und beschloss, erst einmal dem Konzert zuzuhören.

 

Alex wandte sich von der Bar ab, ein Plastikglas mit Rogue-Ale in der Hand, und trat zu einer Gruppe von Leuten, die weiter hinten zusammenstanden und sich unterhielten. Bunte Lichter erhellten die Bühne, wo vier Gestalten ihre Plätze einnahmen. Nebelmaschinen pumpten einen weißen, nach Räucherstäbchen riechenden Dampf in die Menge. Er trank einen Schluck Bier und steckte sich dann Stöpsel in die Ohren.

Harte Industrial-Musik dröhnte wie eine wütende Wand aus Tönen in die Menge, und Alex’ Herz begann, im Takt mit dem tiefen Bass zu schlagen. Er richtete den Blick auf Dantes schmale Gestalt. Er stand vorn auf der Bühne vor einem Mikrofon und hatte die Hände um den Ständer gelegt, während seine dunkel schimmernde Gitarre auf Beckenhöhe hing.

Dann schmiegte er die Hände um das Mikrofon und begann zu singen. Seine tiefe, zornbebende Stimme vermischte sich mit der Musik, die den Club erschütterte und Alex das Rückgrat hochkroch.

»On my hands and knees«, sang Dante, und seine Stimme war ein heiseres Flüstern. »For you, I’ll crawl, on hands and knees, across shattered glass, over splintered hearts, nothing is left of us. Nothing remains. But to crawl. On hands and knees.«

Die Musik brach ab, doch die Menge hörte nicht auf, sich gegeneinander zu werfen, ohne dabei an blaue Flecken oder sonstige Verletzungen zu denken.

»Nachdem ich jetzt eure Aufmerksamkeit habe«, sagte Dante von der Bühne herab, »will ich die Nachtgeschöpfe im Publikum direkt ansprechen.«

Mehrere Leute – sowohl Männer als auch Frauen – kreischten »Ich liebe dich, Dante!« Einige lachten, da sie offenbar annahmen, er sage das nur, um sein Spiel mit dem Publikum zu treiben. Enthusiastische Schreie ertönten.

Die meisten hatten keine Ahnung, dass er tatsächlich das war, was sie sich in ihren dunkelsten Fantasien gewünscht hatten: ein Vampir – und noch mehr.

»Alle sind hierhergekommen, um das Konzert zu genießen, ein wenig Alkohol zu trinken und vielleicht jemanden abzuschleppen«, fuhr Dante mit einer klaren, tragenden Stimme fort, die einen leichten Cajun-Akzent hatte. »Wenn jemand allerdings aus einem anderen Grund hier ist und auf la passée steht, dann sollte er besser zu einem Revival-Konzert der Smashing Pumpkins oder einem anderen lahmen Gig gehen und dort seinen Durst löschen. Wenn ihr hier jemanden ohne vorherige Zustimmung anfasst, dann werdet ihr das verdammt bereuen.«

Eine Stimme erhob sich aus der Menge. »Ist das eine Provokation? « Wieder Gelächter.

Ein Scheinwerfer richtete sich auf Dante und tauchte ihn in bläulich weißes Licht. Langsam reckte er den Mittelfinger. »Was glaubt ihr?« Dann hob er den Kopf.

Alex’ Herz begann wie besessen zu rasen. Das gemeinschaftliche Luftanhalten im Raum, das er mehr spürte, als dass er es hörte, zeigte ihm, dass dieser überirdisch attraktive Mann auf der Bühne, diese Medusa herzzerreißender Anmut, nicht nur ihn in seinen Bann gezogen hatte. Er hob den Plastikbecher mit dem Bier und leerte ihn auf einen Zug.

Licht spiegelte sich in den Ringen in Dantes Ohren wider, während sein sonst schwarz glänzendes Haar bläulich schimmerte. Schlanke Muskeln zeichneten sich unter der Haut ab – und dann dieses bleiche, atemberaubende Gesicht: eine volle Unterlippe, hohe Wangenknochen, schwarz umrandete Augen. Er bewegte sich mit einer natürlichen, ungezähmten Anmut über die Bühne.

»Crawl with me, on your hands and knees, for me«, sang er und riss den Ständer zurück, um seine Lippen ans Mikrofon zu pressen. »I’ll kiss away your fears. If you crawl. With me. Fall with me. For me.«

Jede Bewegung seines athletischen Leibes, jedes Zurückwerfen seines Kopfs verhieß Sex. Eine verbotene Lust. Deutete an, dass da jemand bereit war. Seine Lederhose schmiegte sich um seine Beine, und blaues Licht sprühte von dem Reifen um seinen Hals.

Dante drückte den Korpus seiner Gitarre gegen sein Bein, während seine bleichen Finger über die Saiten und Bünde rasten. Er war ganz auf die wilde Musik konzentriert, die unter seinen Fingern entstand. Sein Körper bewegte sich im Takt, wobei seine Füße in den Stiefeln stampften, sprangen und vor und zurück tänzelten.

Während er Dante beobachtete, unfähig, sein rasendes Herz zu beruhigen oder den Blick abzuwenden, begriff Alex, dass jener auf eine Weise gefährlich war, die er nicht vorhergesehen hatte. Die er nie auch nur für möglich gehalten hätte.

Er war berauschend. Unwiderstehlich.

»We’ll go down together. I won’t let you fall alone.« Dantes tiefe, heisere Stimme bahnte sich einen Weg in Alex’ Herz und setzte es in Flammen. »We’re both to blame. Crawl, crawl, crawl …«

Alex zwang sich, sich abzuwenden und bahnte sich einen Weg durch die tobende, tanzende, schweißnasse Menge, um nach draußen zu gelangen. Dort lehnte er sich gegen eine Mauer und sog die nachtkühle Luft ein, während Infernos Musik durch die Ziegel drang. Er trommelte mit den Fäusten so lange auf die Wand ein, bis diese zu bluten anfingen und der Schmerz den Nebel in seinem Kopf aufriss.

Zorn – scharf und eisig – durchschnitt ihn. Er richtete sich auf und holte seine Winstons und ein Feuerzeug aus der Tasche der Kapuzenjacke. Ungeduldig schüttelte er eine Zigarette aus dem Päckchen, schob sie sich zwischen die Lippen und zündete sie an. Während er rauchte, entwickelte er einen neuen Plan, eine Möglichkeit, Dante zu besiegen und zu unterwerfen, nachdem er ihn Vater entrissen und den Reinblüter zu seinem Eigentum gemacht hatte.

Alex wollte Dante wehtun. Immer wieder. Lange, intensiv und oft. Falls Heather ihm irgendwie in die Quere kam, ließ sich das eben nicht ändern, und falls es nicht reichte, Dante auf jede nur erdenkliche Weise zu verletzen, um ihn daran zu hindern, ein weiteres klebriges Netz der Lust auszuwerfen und ihn anzulocken – und Athena? Würde sie nicht in dieselbe Falle tappen? So heiß entbrennen wie er? –, dann musste er ihm eben die Wahrheit sagen.

Sie ihm in den Schlund rammen. Ungeschminkt.

Bis er daran erstickte.

 

Die Menge tobte und sprang im Rhythmus der Musik auf und ab. Viele Zuschauer knallten gegeneinander, und Fäuste und Schweiß flogen durch die Luft, als die, die hinten standen, versuchten, diejenigen am Absperrgeländer abzudrängen. Heather beobachtete, wie die Leute ein Mädchen in einem engen Latexkleid über die Köpfe der Sicherheitsleute auf die Bühne hoben.

Mit einem glühenden Gesicht, über das dunkle Mascara lief, stürzte sie auf Dante zu. Dieser wich ihr mühelos aus und sang weiter. Da ihre geringe Geschwindigkeit sie als Sterbliche zu erkennen gab, war die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn erwischte, gleich null, wie Heather überlegte – es sei denn, er wollte es.

Heather war nicht sicher, wie sie sich gefühlt hätte, wenn Dante diesem Mädchen erlaubt hätte, ihn zu berühren, zu küssen und abzutasten. Die Vorstellung schnürte ihr fast den Hals ab, was ihr doch eine ziemlich deutliche Antwort gab: Nicht gut, Wallace. Gar nicht gut.

Einer der Aufpasser des Clubs, dessen massiger Oberkörper in ein gelbes VESPERS-Shirt gepresst war und dadurch wie eine Blutwurst aussah, kletterte auf die Bühne, hob das Latexmädchen hoch und warf es in die Menge zurück. Die Leute grölten, wobei Heather nicht klar war, ob das aus Zustimmung oder Ärger geschah.

Dante fuhr herum. Seine Bewegung war so schnell, dass sie nur als verschwommener Schatten zu erkennen war. Das Mikrofon rollte über den Boden. Dann segelte der Aufpasser durch die Luft, Mund und Augen weit aufgerissen. Die Zuschauer traten beiseite, und er landete mit einem dumpfen Knall auf dem Betonboden.

Wieder grölten die Leute. Diesmal waren sie lauter als zuvor und ließen keinen Zweifel daran, dass sie Dantes aggressivem Verhalten zujubelten. Noch ehe dieser jedoch vom Bühnenrand zurücktreten konnte, sprangen drei weitere Gestalten über die Absperrung und die fassungslos dreinblickenden Sicherheitsleute auf die Bühne auf Dante zu – nachtgeschöpfschnell.

Die Menge lärmte und tobte, ohne zu begreifen, was da gerade passierte: Dantes Kampfansage war erwidert worden, wie Heather auf einmal verstand.

Eine Vampirin in einem Lack-Tanktop und einem Minirock aus Samt, das Haar in einem schimmernden schwarzen und roten Pferdeschwanz nach hinten gebunden, warf sich auf Dante. Ihre Fäuste waren so schnell, dass sie in dem blauen Scheinwerferlicht nur wie Schlieren aussahen.

Dante war bereits weg, als Pferdeschwanz’ Fäuste in die Luft boxten. Sie verlor fast das Gleichgewicht, nachdem sie ins Leere traf und herumwirbelte. In ihrem Gesicht war Verwirrung zu sehen. Dante tippte ihr auf die Schulter, und wieder wirbelte sie herum, die Fäuste erneut geballt. Er duckte sich und richtete sich dann direkt vor ihr auf. Er packte sie an den Schultern, küsste sie und warf sie in die Menge zurück.

Zwischen einem schweißgebadeten, stämmigen Kerl mit einem INFERNO-T-Shirt und seinem ebenso bulligen, schweißnassen Freund sah Heather dem Ganzen mit klopfendem Herzen zu. Sie hasste die Tatsache, dass ihr nichts anderes übrigblieb als zuzuschauen, wenn sie nicht vorhatte, die beiden Typen neben sich anzugreifen. Von war nirgends zu sehen.

Pferdeschwanz’ Begleiter – ein Mann in Jeans und einem verwaschenen Ramones-T-Shirt, das Haar zu einem gewachsten, stachligen Iro hochgestellt, und ein anderer mit Tolle in Leder und Latex – tauchten verschwommen hinter Dante auf. Iros Finger mit langen Nägeln krallten wie Messer nach Dantes Seiten, während der Ledertyp mit geballten Fäusten vorsprang, um Dante frontal anzugreifen.

Doch dieser duckte sich bereits und drehte sich gleichzeitig. Heather sah nur eine dunkle Haarsträhne und schimmerndes Leder, als er vorhechtete. Seine Bewegung war so schnell, dass sie bereits wieder vorüber war, ehe sie sie als solche überhaupt wahrgenommen hatte.

Dantes linke Faust traf Iro, dann folgte fast sofort ein Hieb mit dem rechten Unterarm ins Gesicht des Vampirs. Blut schoss diesem aus der Nase. Dante packte den benommenen Mann an den Schultern, riss ihn zu sich und küsste auch ihn. Der Ledertyp traf Dante mit der Faust in die Rippen. Dante warf Iro in die Menge, während eine weitere Faust in Richtung seiner Schläfe sauste.

Er duckte sich und wirbelte herum, wobei er mit den Fingern über Ledertyps Bauch fuhr. Blut spritzte in die Luft und funkelte einen Augenblick lang im Licht der blauen Scheinwerfer – ein dunkler Tropfennebel. Der Ledertyp presste sich den Arm auf den Bauch. Seine Miene spiegelte sowohl Überraschung als auch Schmerz wider. Dante riss ihn an einer der langen Gelsträhnen, die ihm ins Gesicht hingen, zu sich. Doch ehe er auch ihn küssen konnte, befreite sich der Ledertyp und warf sich in die Menge zurück.

Diese jubelte, sprang hoch und reckte die Fäuste in die Luft.

Heather atmete erleichtert auf. Sie entdeckte ein Paar aufblitzender Augen am Rand der Bühne und hoffte, dass sie Von gehörten. Denn sie machte sich Sorgen, was geschehen würde, wenn zehn oder zwanzig Nachtgeschöpfe beschlossen, die Bühne zu stürmen.

Dante leckte sich Blut von den Lippen, schnappte sich das Mikro, schritt zum Bühnenrand und schrie: »Fickt euch!« Dann wich er zurück und fuhr mit dem Singen fort, während die anderen Mitglieder von Inferno auf ihre Instrumente eindroschen und mit fliegendem Haar, funkelnden Piercings und schweißnasser Haut ihre Energie und ihr Herzblut in die Musik steckten.

»I’m coming for you!«, brüllte Dante, und seine Nackenmuskeln waren zum Zerreißen gespannt, wie er sich so nach vorn beugte, das Mikro zwischen den Beinen. Er hob den Kopf, warf das Haar zurück, und sein Blick richtete sich auf Heather.

Einen Augenblick lang pulsierte wilde, wortlose Musik durch sie beide hindurch, wie sie das in ihrer Küche getan hatte. Heather stockte der Atem. Dantes Gesang. Schön. Einsam. Verloren. Sie presste ihre Hand auf ihr Herz, auf die verheilte Wunde, die nun unter ihren Fingern erbebte.

Dante richtete sich auf. Schweiß lief ihm übers Gesicht. Schwarze Haarsträhnen klebten ihm auf der Stirn. »Nothing can stop me. I have nothing left to lose. I’m coming for you!« Er schrie die letzten Worte in den Raum – wie ein wütendes, verletztes Tier.

Heather drängte sich durch die tanzende, nach Schweiß stinkende Menge zur Bühne. Sie nahm das Gefühl von Verlust in seiner Stimme wahr und versuchte, Dantes bleiches Gesicht nicht aus den Augen zu verlieren. Sie drängte sich bis zu der Reihe an der Absperrung vor und wusste, weiter würde sie nicht kommen, ohne dass es zu Blutvergießen kam.

Dante kniete auf der Bühne und hielt die Gitarre an seiner Seite, seine dunklen Augen ließen Heather nicht los. Finger und Hände reckten sich in die Luft und griffen nach ihm. Die Leute schrien.

»I dream of you, in the dark«, sang er mit angestrengt klingender Stimme. »Taste you. Smell you. Feel you burning inside me. I stand beneath your window and watch you sleep.«

Er berührte mehrere der Hände, die sich ihm entgegenreckten, wobei seine eigene zitterte. Dann stand er mit einer fließenden, anmutigen Bewegung auf, schwenkte die Gitarre zur Seite und – kam ins Wanken. Heather versuchte, näher an ihn heranzukommen, aber die feste Mauer aus Körpern ließ sie keinen Zentimeter weitergelangen.

Dante brach in die Knie. Das Mikro fiel ihm aus der Hand, und die Rückkopplung hallte schrill durch den Club. Die anderen Mitglieder von Inferno hörten zögernd zu spielen auf.

Ein Beben erfasste Dantes Körper. Er ging zu Boden, die Glieder starr, den Rücken durchgedrückt. Heather bahnte sich einen Weg bis an den Rand der Zuschauermenge. Sie nahm einen verschwommenen Schatten wahr: Von rannte von der Seite auf die Bühne. Er ließ sich neben dem zuckenden Dante auf die Knie nieder, machte dessen Gitarre los und warf sie beiseite.

Heather duckte sich unter der Absperrung hindurch und hastete die wenigen Stufen zur Bühne hoch, wo sie über den Holzboden rannte. Die Scheinwerfer waren gedimmt worden, und man hörte summende Stimmen, Flüstern und Rufe. Die anderen Inferno-Mitglieder stellten sich in einem Halbkreis um Von und Dante, um den beiden einen Schutz vor den neugierigen Blicken des Publikums zu bieten. Eli sah auf und kam dann auf Heather zu, als wolle er sich ihr in den Weg stellen.

»Jetzt ist kein guter …«

Heather spannte sich an, bereit, sich auch an Eli vorbeizukämpfen, als sie Vons Stimme hörte. »Lasst sie durch.« Sie eilte an Eli vorbei, der sogleich beiseitetrat, und blieb neben dem Nomad stehen. Dann ging auch sie in die Hocke. Von hielt mit ernster Miene den zuckenden Dante fest. Diesem lief Blut aus der Nase über seine Lippen, auf denen Schaum stand.

»Wie kann ich helfen?«, fragte sie.

Ohne Dantes bleiches Gesicht aus den Augen zu lassen, antwortete Von: »In der Garderobe ist eine kleine schwarze Tasche mit Reißverschluss. Die kannst du holen.«

Heather sprang auf und schob sich zwischen Jack und Antoine hindurch, um hinter den schweren Vorhang zu treten. Hastig sah sie sich in der Garderobe um und entdeckte die Tasche neben dem Sessel. Sie packte sie und rannte auf die Bühne zurück.

Ihre Erleichterung löste sich sogleich wieder in Luft auf, als sie sah, dass Dante noch immer unter Zuckungen litt. Er schlug mit den Stiefeln auf den Bühnenboden, sein Rücken drückte sich durch, und er drehte und wand sich mit einem Tempo und einer Heftigkeit, die Heather zutiefst erschreckte.

Sie ließ sich neben Von auf die Knie fallen. »Was jetzt?«, fragte sie.

»Hol eine der Spritzen aus der Tasche und füll sie bis zum Rand mit Morphium«, brummte Von, der sie in der Aufregung auf einmal duzte. Er versuchte verzweifelt, Dante festzuhalten. »Verstanden?«

Heather starrte ihn mit pochendem Herzen an. »Bis zum Rand?«, fragte sie.

»Es wird ihn nur schlafen lassen«, erklärte Von mit gepresster Stimme. »Mach schon. Los. Wenn er weiter so zuckt, wird ihn das noch fertiger machen, als er sowieso schon ist – und mich auch. «

Heather zog den Reißverschluss auf. Spritzen und Morphiumampullen steckten ordentlich aufgereiht in Schlaufen. Sie zog eine Spritze heraus, zog die Kappe von der Nadel und stach diese in eine der Ampullen, um so viel Schmerzmittel wie nur möglich herauszusaugen. Dann spritzte sie ein bisschen davon in die Luft, um sicherzustellen, dass keine Luftblasen entstanden waren.

»In den Hals«, sagte Von. »Ich kann nicht loslassen.«

Heather holte tief Luft, um sich zu sammeln, und jagte Dante dann die Nadel in eine Ader seines angespannten Halses. Dann drückte sie den kleinen Kolben nach unten. Als die Spritze leer war, zog sie die Nadel wieder heraus und legte die Spritze neben sich auf den Boden. Einige Augenblicke später hörte Dante auf, um sich zu schlagen und zu zucken und ließ sich stattdessen ganz in Vons Arme sinken.

»Scheiße«, japste der Nomad. »Verdammte Scheiße.«

Heather öffnete die Augen und sah Von an. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Seine Fäuste mit den Kampfnarben auf den Fingerknöcheln lockerten sich ein wenig. »Wie oft passiert das?«, fragte sie.

Von schüttelte den Kopf. »Zu oft.«

Dantes Nasenbluten ließ nach. Seine Augen öffneten sich flatternd, und Heather sah, dass seine Pupillen von einem braunen Rand umgeben waren. Er richtete den Blick auf Vons Gesicht. »Was geht ab, mon ami?«, murmelte er undeutlich, und seine Stimme klang drogenbenebelt und verträumt.

»Nicht du, Mann«, sagte Von und strich Dante die Haare aus der verschwitzten Stirn. »Du hast beschlossen, dich auf den Boden zu legen.«

»J’su pas fou de ça«, flüsterte Dante und schloss die Augen. »Geht es dir gut?«

Von kicherte. »Ja. Ich mache mir um dich Sorgen, nicht um mich.«

Dantes Augen öffneten sich wieder. »Ich habe doch niemandem wehgetan, oder?«

»Nein.«

»Heather.« Dante schob Vons Arm beiseite und versuchte aufzustehen.

»Hier«, sagte Heather. »Ich bin hier.« Sie lehnte sich auf den Knien nach vorn und umfasste sein bleiches Gesicht mit beiden Händen. Er glühte. Sein Blick richtete sich auf sie, und über seine blutigen Lippen huschte ein Lächeln. »Ich dachte, ich hätte dich verloren«, sagte er.

»Das musst du schon etwas entschlossener versuchen, wenn das dein Plan ist«, sagte sie.

»Es ist still, chérie

»Ich werde nicht von deiner Seite weichen«, wisperte sie.

Dante schloss wieder die Augen und sank in den Schlaf.

Heather zog die Hände von seinem heißen, glatten Gesicht und faltete sie im Schoß. Er sah friedlich aus, wie er so in Vons Armen lag, betäubt und träumend. Seine dunklen Wimpern warfen sanfte Schatten auf seine Wangen. Friedlich. Ja.

Eine Illusion.

Sie hatte die Furcht in seiner Stimme bemerkt, die Verzweiflung, als er gefragt hatte: Ich habe doch niemandem wehgetan, oder? Sie wusste, warum er diese Frage gestellt hatte, selbst wenn er selbst es nicht tat. Ihr Herz verkrampfte sich, als sie sich an den Ausdruck in seinem Gesicht erinnerte, die Qual in seiner Stimme, als er Chloe gesehen hatte, seine kleine Winnie-Puh-Prinzessin, engelsgleich hingebettet in einem See aus Blut. Ihrem Blut.

»Eli, Dante schläft jetzt.« Von drückte Dante an seine Brust, hob ihn hoch und stand mit einer gewandten Bewegung auf. »Sag ihnen, das Konzert ist vorbei.«

Die »Inferno! Inferno! «-Rufe hallten immer lauter und durchdringender durch den Raum. Die Menge wurde unruhig. Einige lachten erfreut, als sei der Anfall des Frontmanns Teil der Show gewesen. Heather wurde bewusst, dass manche wohl vor allem hofften, er sei Teil der Show gewesen. Oder dachten, Dante tue nur, als habe er einen Anfall – auch wenn Heather keine Ahnung hatte, wie jemand derartige Zuckungen so lange hätte ertragen können, wenn er sie nur vorgetäuscht hätte.

Heather hob Spritze und Ampulle auf und steckte beides wieder in den Beutel. Sie zog den Reißverschluss zu, klemmte sich das schwarze Täschchen unter den Arm und stand auf.

Vons Blick wanderte von Eli zu Jack und Antoine. »Ihr bleibt alle in Silvers Nähe und geht anderen Nachtgeschöpfen aus dem Weg. Dante hat die Idioten verärgert, und möglicherweise schlagen sie jetzt Krach, nachdem er außer Gefecht ist.«

Eli nickte und fasste mit beiden Händen seine Dreadlocks zusammen. Er wirkte besorgt. »Silver ist aber nicht hier«, flüsterte er.

»Er ist Heathers Schwester nach«, erläuterte Jack.

Heather erstarrte, ihr war plötzlich eiskalt. »Er ist Annie gefolgt? Ich muss sie finden …«

»Warte«, sagte Von und richtete seinen Blick nach innen.

Heather war klar, dass er Kontakt zu dem fehlenden Vampir suchte. Sie drehte sich um und suchte die Menge vor der Bühne nach Annies blau-violett-schwarzen Haaren oder Silvers glühenden Augen ab. Aber in dem kleinen Club drängten sich zu viele Leute, als dass sie etwas hätte ausmachen können. Sie seufzte. Annie war ein großes Mädchen, wie Von sie hingewiesen hatte. Aber dennoch … sie wandte sich wieder um. Von sah sie gelassen an.

»Hast du Silver erreicht?«, fragte sie und klopfte mit einem Finger gegen ihre Schläfe.

»Ich kümmere mich erst mal um Dante«, sagte er und wies mit dem Kopf in Richtung des schweren Samtvorhangs.

Heather folgte dem Nomad hinter die Bühne, während Eli dem Publikum erklärte, das Konzert sei leider beendet. Rufe hallten wie das Summen wütender Wespen im Raum wider. Obwohl das Konzert bereits über eine Stunde gedauert hatte, ehe Dante zusammengebrochen war, versprach Eli, die Zuschauer würden ihr Geld zurückbekommen.

Von legte Dante vorsichtig auf ein abgewetztes, schmutziges Sofa. Schwarze Haarsträhnen fielen Dante ins Gesicht. Ein Arm baumelte vom Sofa, seine Hand berührte den Boden. Der Nomad schob Dantes Arm neben ihn auf das Sofa und tätschelte ihm sanft die Wange. »Schlaf gut, kleiner Bruder«, flüsterte er.

Dann drehte er sich zu Heather um. »Silver ist bei Annie«, sagte er. »Den beiden geht es gut. Aber sie hat keine Lust zurückzukommen. «

»Verdammt.« Heather hatte die Befürchtung, dass ihre Schwester mit Silver getrunken hatte und es vermutlich noch immer tat. Alkohol, Drogen, Sex – sie nahm sich das, was auch immer gerade die Leere in ihrem Inneren füllte.

Ich möchte, dass wir wieder eine Familie sind.

Heather konnte sich jetzt auf die Suche nach ihr machen und die Bars durchkämmen, um sie zu finden. Aber sie wusste aus Erfahrung, dass es nichts nützen würde. Selbst wenn sie Annie fand, würde diese sich weigern, mitzukommen und eine Riesenszene hinlegen, die damit enden konnte, dass jemand auf der Polizei oder im Krankenhaus landete. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als heimzugehen und dort auf sie zu warten.

»Hör zu, Püppchen, es geht ihr gut«, sagte Von. »Silver weiß, wie man mit schwierigen Sterblichen umgeht. Er wird ihr nichts antun.«

»Wieso kennt er sich mit schwierigen Sterblichen aus?«

»Er war selbst mal einer.«

»Sie hat eine bipolare Störung«, sagte Heather. »Nicht nur einfach schwierig.«

»Ich werde es ihn wissen lassen.«

Heather nickte, denn sie hatte das Gefühl, keine andere Wahl zu haben. Es graute ihr beim Gedanken an die Nacht, die vor ihr lag und in der sie schlaflos auf Annie warten würde, bis diese betrunken und aggressiv oder von irgendeiner Schlägerei verletzt und blutend nach Hause kommen würde. Oder sie würde darauf warten, dass das Telefon klingelte und man ihr mitteilte, man habe ihre Schwester aufgegriffen. Sie warf einen Blick auf Dante. Vielleicht sollte sie bei ihm bleiben. Mit ihm reden – aber was, wenn Annie sie in der Zwischenzeit brauchte? Wenn man sie wieder verhaftete? Seufzend kniete sich Heather neben das Sofa und küsste Dantes Lippen, die nicht nur nach Blut, sondern auch leicht nach Amaretto schmeckten. Sein Gesicht fühlte sich noch immer fiebrig an, aber zumindest hatte das Nasenbluten aufgehört.

»Wo schlaft ihr eigentlich?«, fragte sie und warf einen Blick über die Schulter auf Von. »In einem Hotel oder im Bus?«

»Hotel. Im Red Door.«

Plötzlich kam Heather eine Idee. Vielleicht würde sie nicht herumsitzen und auf Annie warten müssen, unfähig, an etwas zu denken als an die Angst, die sich in ihrem ganzen Körper ausbreitete.

»Mein Haus ist nicht gerade riesig, aber ich habe eine Couch, zwei Betten und einen sehr bequemen Sessel«, sagte sie. »Wie wäre es, wenn ihr mit zu mir kommt? Für den Fall, dass es noch mehr Probleme geben sollte.«

Von strich sich mit Daumen und Zeigefinger über die Seiten seines Schnurrbarts. »Lass mich kurz mit den Jungs sprechen«, antwortete er. »Ich werde ihnen beim Abbauen helfen und zuerst mal die Ausrüstung wegpacken, ja?«

Sie nickte. »Klar, kein Problem.«

Von fasste in die Innentasche seiner Lederjacke und zog eine Pistole heraus, die er Heather gab. Sie untersuchte sie, sah nach, ob sie gesichert war und kontrollierte dann die Kimme und Korn. Sie war vorzüglich. Eine Browning Hi-Power. Da sie wusste, wie leicht man in einem knallvollen Club etwas verlor, hatte sie vorsichtshalber ihre Handtasche und die Achtunddreißiger zu Hause gelassen.

»Hübsch«, sagte sie und wog die Waffe in der Hand.

»Nur falls die Typen von vorhin nochmal Probleme machen. Richte sie auf …«

»Kopf oder Herz.«

Von grinste. »Genau, Herzblatt.« Dann ging er.

Heather stand auf und setzte sich auf die Armlehne des Sofas, die am weitesten vom Vorhang entfernt war. In der Hand hielt sie den Griff der Browning. Ihr Puls schlug ruhig, und ihre Atmung war entspannt. Sie konnte es nicht erklären, aber sie hatte das Gefühl, genau da zu sein, wo sie sein sollte. Sie beschützte einen Freund.

Wenn das FBI sie im Visier hatte, dann würde jeglicher Verdacht bestätigt werden, sobald Dante und seine Band bei ihr zu Hause auftauchten. Würde man dann das Angebot einer neuen Stelle für sie zurückziehen oder die angedeuteten Drohungen wahrmachen? Sie vermutete, die Agenten würden die zweite Möglichkeit wählen.

Lauf. Lauf so weit weg von mir, wie du kannst.

Zu spät, dachte sie. Viel zu spät.