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IM HERZEN DES MONSTERS

Damascus, Oregon · 22. März

 

Dr. Robert Wells füllte eine letzte Spritze mit einer tödlichen Dosis Atropin und legte sie dann außer Sicht oben auf den Türrahmen des Schlafzimmers. Er hatte im ganzen Haus Spritzen versteckt – in Schubfächern, Schränken, unter Möbeln und sogar unter dem Kopfkissen seiner Frau.

Ja, alles tödliche Dosen – für Sterbliche. Wenn die Auftragskiller Vampire sein sollten, würde das Atropin sie zumindest eine Weile lang außer Gefecht setzen, indem es sie entweder umwarf und ein ungeplantes Nickerchen machen ließ oder – je nach Alter – wenigstens verlangsamte, damit die geringe Chance für ihn bestand, zu entkommen.

Wells vermutete, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, ehe das FBI – nein, genau genommen die Schattenabteilung, die in Wahrheit die FBI-Obersten in der Hand hatte – jemanden schickte, um ihn zu töten, und das alles wegen Bronlees Diebstahl.

Es sei denn, er handelte zuerst.

»Wie lange noch, was glaubst du?«, fragte Gloria, deren Stimme trocken und papierdünn klang.

»Sie könnten schon auf dem Weg sein. Es könnte aber auch noch Wochen dauern.« Wells trat von der Tür weg und kehrte zum Bett seiner Frau zurück, das an ein Krankenhausbett erinnerte, um die Geschwindigkeit des Tropfs mit dem Morphium einzustellen. »Schließlich ist es eine Behörde«, fügte er mit einem trockenen Lächeln hinzu.

Gloria schloss die Augen, und die tiefen Falten um ihren Mund – Anzeichen ihrer starken Schmerzen – entspannten sich ein wenig. Sie seufzte leise und fast wehmütig. »Wir dürfen keine Zeit verlieren«, wisperte sie. »Schick Alexander nach Seattle.«

»Das ist alles geregelt, Süße. Mach dir keine Sorgen.«

Im Zimmer roch es nach Ammoniak und Chlor, doch kein antibakterielles Mittel der Welt konnte den allgegenwärtigen Gestank des Verfalls überdecken.

Des Versagens.

Wells trat ans Fenster und öffnete es. Kühle, frische Luft, die nach Tannennadeln und ersten Tulpen duftete, wehte herein. Er setzte sich ans Bett seiner Frau, nahm ihre Hände und versuchte, sie warmzureiben.

Sie war erst siebenundfünfzig. Aber der Krebs und die Chemotherapie hatten ihr ihre Verspieltheit geraubt und alles Hinreißende jener Frau, die er fünfunddreißig Jahre zuvor lachend und vom Champagner beschwipst über die Türschwelle ihres ersten Hauses getragen hatte, ausradiert.

Glorias Kopf fiel zur Seite, und ihre Lippen öffneten sich leicht. Ihr Atem wurde tiefer und gleichmäßiger, während das Morphium sie davontrug wie Hades Persephone in die Unterwelt.

Wells schnürte es den Hals zu. Gloria war jetzt die Geliebte des Krebses, und er konnte sie nicht retten – ganz gleich, wie sehr er sich auch anstrengen mochte, ganz gleich, wie sehr er sich danach sehnte, sie zurückzubekommen, ganz gleich, was er alles dafür opferte. Der Kampf war verloren. Er führte ihre Hand an seine Lippen und küsste ihre kalten Finger.

Wenn er fortfuhr, ihr Leiden zu verlängern, dann hatte sich seine Liebe für sie in etwas Erbärmliches und Selbstsüchtiges verwandelt. Wenn er sie wirklich liebte, musste er sie jetzt loslassen.

Die Wahrheit war selten freundlich und noch seltener das, was man erhofft hatte.

Das Einzige, was er tun musste, war, ihre Morphiumdosis so weit zu steigern, bis sie ohne Schmerzen in das große Unbekannte hinüberging. Ganz einfach und nicht schwer zu bewerkstelligen.

Wells blieb nach vorn gebeugt am Bettrand sitzen, Glorias Finger an den Lippen. Er würde warten, bis sie wieder wach war, damit er noch einmal mit ihr reden und ihr ein letztes Mal eine gute Nacht wünschen konnte.

Sein iPhone piepte. Er küsste erneut Glorias Fingerkuppen und legte ihre Hand dann auf die Decke. Dann zog er das iPhone aus der Tasche seines Sweatshirts und öffnete eine rot beflaggte Mitteilung im Eingangskorb seiner Emails.

Während er las, begann sein Puls zu rasen, und seine Hoffnung kehrte schlagartig zurück.

James Wallace aus der pathologischen Abteilung des FBI in Portland, ein Mann, den Wells gut kannte, hatte anscheinend ein Problem.

Meine Tochter behauptet, Dante Prejean hätte ihr das Leben gerettet. Aber er hat sie nicht von seinem Blut trinken lassen, sie in keinen Vampir verwandelt. Er hauchte ihr blaues Feuer und Musik ein. Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet. Ich weiß nicht einmal, ob so etwas überhaupt möglich ist. Aber falls ja, hätte ich gern die Langzeitwirkungen gekannt. Ist die Menschlichkeit meiner Tochter korrumpiert?

Wells schrieb eine SMS zurück: Gute Frage. Ich versuche, es herauszukriegen. Schau dir ihre medizinische Akte an. Vielleicht war es nur eine Halluzination, ausgelöst durch Schmerzen und Blutverlust.

Danke.

Weiß sonst jemand darüber Bescheid? Jemand außer dir?

Nein, natürlich nicht. Ich habe nur dich kontaktiert, weil ich ja weiß, dass du dich mit Dante Prejean beschäftigt hast.

Gut. Behalte das alles für dich, und ich melde mich dann …

Wells schob das iPhone in seine Tasche zurück. Auf einmal war ihm ganz leicht zumute.

Zuerst die Aufnahmen der Sicherheitskameras und jetzt das.

Man hatte ihn sofort nach dem Vorfall im Bush-Center kontaktiert und ihn über Johanna Moore, Bad Seed und S ausgefragt. Dabei wollte man auch – fast en passant – wissen, ob Johanna an einem Projekt mit genetischem Material von Vampiren gearbeitet hatte. Er hatte erklärt, er habe seit seiner Pensionierung nichts mehr mit Johannas Projekten zu tun gehabt.

Damals hatte er sich gewundert, was sie auf eine solche Frage gebracht hatte. Doch inzwischen, nachdem er die wackeligen Aufnahmen angeschaut hatte, die ihm Bronlee geschickt hatte, und die Lache auf dem Boden gesehen hatte, die einmal ein Lebewesen dargestellt hatte, glaubte er zu wissen, warum.

Das Reinigungsteam und seine Chefs nahmen an, die Lache müsse bei einem Versuch ausgelaufen sein. Sie wären nie auf die Idee gekommen, dass das die Frau war, die sie suchten. Oder das, was von ihr übrig war.

Johanna war nicht verschwunden. Sie hatte das Center nie verlassen.

S hatte sichergestellt, dass sie das nicht mehr tun würde.

Die arme Johanna hatte bis zum Schluss keine Ahnung gehabt, wer S wirklich war. Was ihre kleine Nachtgeschöpf-Schönheit im Laufe der Zeit geworden war. Was dieses Wesen alles vermochte.

Ehrlich gesagt war es Wells nicht anders ergangen. Auch er hatte nicht den blassesten Schimmer gehabt, bis Bronlee ihm die Disc geschickt hatte.

S hatte es immer vor ihnen geheim gehalten.

Aber auch Wells hatte ein Geheimnis bewahrt. Vor Johanna. Vor dem FBI. Vor S.

Ein Geheimnis, das nun bald lüften würde.

Er beugte sich vor und gab der bleichen Wange seiner Frau einen innigen Kuss. Dann richtete er sich auf und erhob sich. Auf leisen Sohlen schlich er hinaus und ließ Gloria in Morpheus’ narkotischer Umarmung zurück.

Wenn S eine Frau auflösen und eine andere heilen konnte, dann war er bestimmt auch in der Lage, Gloria zu retten. Wells war sich ganz sicher. Jetzt musste er nur noch einen Gott – einen jungen, kaputten Gott, den er selbst auf die Welt gebracht hatte – seinem Willen unterwerfen, und dazu bedurfte es nur eines einzigen geflüsterten Wortes.

Ehe Wells S jedoch dazu benutzen würde, Gloria zu heilen, musste er die Bedrohung seines eigenen Lebens abwenden. Möglicherweise war es an der Zeit, den Drahtziehern aus der Schattenabteilung ihre Macht streitig zu machen und sie an sich zu reißen. Er und Alexander – eine neue Führung, eine neue Herrschaft.

Im Wohnzimmer fiel Mondlicht durch das Oberlicht in der hohen Decke herein und erfüllte den Raum mit einem fahlweißen Schimmer. Wells sah durch das Fenster in den Wald hinaus.

Alexander – in Jeans und einem grauen Kapuzenpullover – lief über den von Kiefern umgebenen Vorplatz auf das Haupthaus zu. Über seiner Schulter hing eine Ledertasche, und in der Hand hatte er eine Schusswaffe. Das Mondlicht färbte seine Haare silbern, während ihn ein Licht von innen heraus zu erleuchten schien, als ob er tatsächlich die Wiedergeburt des mazedonischen Eroberers wäre, nach dem er benannt worden war.

In diesem Augenblick erschien Wells sein Sohn unaussprechlich schön – Apollos rechtmäßiger Erbe.

Er hörte, wie sich die Haustür öffnete und dann mit einem Klick wieder ins Schloss fiel. Wells fasste in seine Hosentasche und schaltete den PSI-Störsender ein, der seine Gedanken vor dem telepathischen Hirn seines Sohnes schützen würde.

»Ich habe noch mehr Munition für das Gewehr geholt«, sagte Alexander, als er ins Wohnzimmer spazierte. »Hast du einen Elektroschocker?«

Wells nickte. »Er liegt in der Küche. Ich habe auch noch ein paar andere Dinge vorbereitet.«

»Ich habe noch einmal das Sicherheitssystem kontrolliert. Alles in Ordnung.«

Das habe ich auch und dabei die Geheimcodes geändert, mein tüchtiger Junge, dachte Wells. Laut sagte er: »Gut.«

»Ich werde heute Nacht das Cottage fertig sichern«, meinte Alexander. »Ich werde dafür sorgen, dass Athena sicher und beschäftigt ist, ehe ich morgen nach Seattle fahre.«

»Ich denke, viel mehr können wir für den Augenblick nicht tun.«

Alexander kauerte sich auf den Rand des bequemen Ledersessels, der neben der Couch stand, und nahm die Tasche von der Schulter. Er klappte den Gewehrlauf herunter. »Wenn es Mutter nicht gäbe, könntest du untertauchen, bis sich die Wogen wieder geglättet haben.« Er sah Wells durch seine dichten hellblonden Wimpern an. »Eine tödliche Dosis Morphium … wir würden ihr einen Gefallen tun.«

»Noch vor wenigen Minuten dachte ich das auch. Aber inzwischen …«

Alexander fasste in die kleine Tasche und holte eine Handvoll Patronen heraus. »Was hat dich deine Meinung ändern lassen?«

»Ich habe gerade erfahren, dass S heilen kann.«

»Jeder Vampir kann heilen, wenn er genug von seinem Blut gibt.« Alexander schob die Patronen in den Lauf und klappte ihn wieder zu. Er blickte zu Wells auf. »Was ist bei S also anders?«

»S hat eine tödlich verletzte Agentin geheilt, ohne sein Blut zu verwenden. Da ich diese Information vom Vater der Agentin habe, gibt es keinen Grund, ihre Echtheit anzuzweifeln.«

Alexander runzelte verblüfft die Stirn. »Tödlich verletzt … meinst du Heather Wallace? Die Agentin auf den Filmen aus der medizinischen Abteilung?«

»Genau. Wo ist übrigens die Disc, wenn ich fragen darf?«

»Thena sieht sie sich gerade nochmal an. Sie gefällt ihr.«

Wells konnte es Athena nicht verdenken; die Aufnahmen waren wirklich spannend. Enthüllend. Ein düsterer Gedanke schoss ihm durch den Kopf … waren sie auch anregend? »Pass auf, dass sie die Disc nicht verliert.«

»Natürlich«, brummte Alexander.

»Ich habe vor, an Wallaces medizinische Akte zu kommen«, sagte Wells und durchquerte den Raum zu der dunklen Mahagonibar am anderen Ende. »Am liebsten würde ich mir Wallace persönlich vornehmen und mit ihr ein paar Tests machen, um zu sehen, was S mit ihr angestellt hat.« Er nahm eine Flasche Courvoisier aus dem Barschrank und hob sie hoch, damit sie sein Sohn sehen konnte. Dieser schüttelte den Kopf, woraufhin Wells den Cognac nur in ein Glas schenkte.

»Vielleicht ginge das«, meinte Alexander grüblerisch. »Ich wette, dass sie heute Abend auf Prejeans Konzert in Seattle ist – vor allem, wenn er ihr das Leben gerettet hat. Ich könnte unseren Plan ändern, sie in unser …«

»Nein, Wallace könnte eine Ablenkung bedeuten. Du musst dich auf das Wesentliche konzentrieren. S wird dich töten, wenn du auch nur einen Fehler begehst. Er ist äußerst schnell und reagiert unvorhersehbar. Er ist ausgesprochen gefährlich. «

»Du trägst Eulen nach Athen, Vater«, seufzte der junge Mann. »Wir haben die Filme gesehen.«

Wells nahm einen Schluck von der goldgelben Flüssigkeit. Der Cognac brannte in seinem Rachen und schmeckte nach Eichenfass und Vanille. »Gib S den codierten MP3-Player oder noch besser: Hinterlege ihn für ihn. So bleibst du in sicherer Distanz. Sobald er seine Aufgabe erledigt hat, betäubst du ihn und bringst ihn her.«

Alexander lehnte das Gewehr gegen den Klubsessel und erhob sich. »Damit er Athena kurieren kann.«

»Ja, und Mutter«, sagte Wells. »Hör genau zu und denke immer daran: Nur ich weiß, wie das Labyrinth in S’ Kopf aussieht, denn ich habe es erschaffen.«

»Fehlt da nicht noch ein Amen?«, antwortete Alexander und lächelte kalt-ironisch. »Ich habe verstanden. Aber du musst auch etwas verstehen: zuerst Athena.«

»Einverstanden. Zuerst Athena«, entgegnete Wells. Jahrzehnte der Arbeit für das FBI hatten ihn gelehrt, sich nie anmerken zu lassen, wenn er log. Tief in seinem Inneren verspürte er jedoch einen Anflug von Zerknirschung. Athena war Alexanders Zwillingsschwester. Er befürchtete, dass sein Sohn ohne sie nie mehr derselbe sein würde und dass dies der Grund war, warum er ihr Leben nicht schon lange beendet hatte.

Je tiefer Athena in den Wahnsinn abdriftete, desto größer war seiner Meinung nach auch die Möglichkeit, dass Alexander durch das untrennbare Band zwischen ihnen ebenfalls infiziert werden könnte. Er fürchtete, er sei schon jetzt in ihn eingedrungen und schwemme Wahnvorstellungen durch seine Adern.

»Einverstanden.« Das zynische Lächeln verschwand von Alexanders Lippen. Er ging über den Teppich zu Wells, der noch vor der Mahagonibar stand, und senkte den Kopf.

Wells trat einen Schritt vor und küsste Alexander aufs goldene Haar. Mit diesem Kuss gab er ihm zugleich seinen väterlichen Segen.

»Bring S heim«, flüsterte er. »Dann bringe ich dir bei, wie man ihn zähmt.«

»Ich werde dich daran erinnern.«

»Tu das.«

Wells trat zurück, und Alexander hob den Kopf. Einen langen Moment blickte er Wells in die Augen, wobei die seinen undurchdringlich waren. »Ich frage mich schon immer, warum du deine Gedanken vor mir verbirgst, obwohl doch du es warst, der mir meine telepathischen Fähigkeiten gegeben hat.«

Wells scherzte: »Um deinen Charakter zu festigen. Um dich zu ärgern. Um dich immer wieder raten zu lassen. Du kannst es dir aussuchen.«

Das kalt-ironische Lächeln zeigte sich wieder auf Alexanders Lippen. Er salutierte halb ernst, halb gespielt und verließ dann das Zimmer.

»Alexander«, rief Wells ihm nach. Sein Sohn blieb im Türrahmen stehen. »Denk daran, der MP3-Player kann die Botschaft nur einmal abspielen. Wenn du sie vorher anhörst, wird S nichts außer Rauschen vernehmen.«

Die Haustür öffnete sich und fiel dann wieder ins Schloss.

Wells trank seinen Cognac in einem zweiten großen Schluck aus. Auf seine Stirn traten Schweißperlen, und sein Gesicht wurde warm. Er hielt das Glas in der Handfläche und trug es gemeinsam mit der Flasche zu seinem Arbeitszimmer am Ende des Gangs.

Er mochte sterblich sein, aber in seinem Inneren loderte das Feuer eines Schöpfers. Genetik war sein Werkzeug, menschliches Fleisch sein Medium. Sein Sohn war der lebende Beweis dafür, seine Tochter seine einzige Fehlleistung.

»Tu, was du tun musst.« Gloria streicht über ihren Bauch, der noch flach ist. » Vielleicht bekomme ich ja deshalb Zwillinge. Vielleicht haben wir deshalb einen von jedem Geschlecht.« Ein wissendes Lächeln umspielt ihren Mund. »Vielleicht habe ich auch deshalb dich gewählt.«

Diese Worte hatten Wells hinter die Fassade der barmherzigen Madonna auf die berechnende Mutter-Göttin blicken lassen. Gloria hatte ihm den Weg zur Göttlichkeit geebnet. Vater einer neuen Ära. Schöpfer von Göttern.

Aber Athena … er wusste noch immer nicht, was schiefgelaufen war, wo er einen Fehler gemacht hatte. Er hatte die Zwillinge mit größter Sorgfalt entworfen, ihren genetischen Code noch in Glorias Bauch verändert und verbessert, alle Makel beseitigt.

Das hatte er jedenfalls angenommen – bis Athenas Geist heimlich, still und unwiederbringlich die falsche Richtung einschlug. Paranoide Bewusstseinsspaltung. Ein unvorhergesehener Systemfehler.

Wells ließ sich auf seinen bequemen und angenehm eingesessenen Lederstuhl vor seinem Schreibtisch nieder. Er stellte die Cognacflasche ab und nahm eine Kopie jener Disc in die Hand, die seine Tochter sich gerade noch einmal ansah.

Thena schaut sie sich gerade nochmal an. Sie gefällt ihr.

Nicht nur Athena, auch Wells hatte sie sich schon mehrmals angesehen. Aber ihm gefiel nicht, was er sah. So hätte er seine Gefühle nicht beschrieben. Nein – ein besseres Wort für seine Empfindungen wäre Angst gewesen. Entsetzen. Es ängstigte und erregte ihn zugleich. Aber Gefallen fand er nicht daran. Er schob die Disc ins Laufwerk seines Rechners.

Ehe er auf ABSPIELEN drückte, nahm er noch einen Schluck Cognac. Auf dem Bildschirm erschien ein Korridor, der durch die düstere Beleuchtung in ein Nachtsichtgrün getaucht war. Eine Gestalt kam ins Bild – taillenlanges schwarzes Haar, das sich wie Meeresalgen in einer Strömung in der Luft schlängelte. Seine schwarzen, glatten Flügel ragten halb gefaltet hinter dem Mann in die Höhe, als er sich hinkniete und nach einem der beiden die Hand ausstreckte, die zusammengebrochen auf dem gefliesten Boden lagen.

Eine tiefe, sonore Stimme mit der Andeutung eines europäischen Akzents drang durch die Lautsprecher des Rechners. Als er die Worte zum ersten Mal hörte, lief es Wells auch diesmal eiskalt den Rücken hinunter.

»Räche deine Mutter und übe Rache für dich selbst.«

S erhebt sich aus den Armen des Wesens und steht auf, sein Körper angespannt und verkrampft, sein atemberaubend schönes Gesicht blutverschmiert. Der Korridor ist inzwischen in ein rotes Licht getaucht. Er steigt wie ein Phönix aus der Asche – wie ein lodernder, strahlend schöner, furchterregender Gott.

Wells drückte auf PAUSE und goss sich Cognac nach. Bis er die Aufzeichnungen gesehen hatte, war für ihn der verstorbene Elroy Jordan – Psychopath, Sadist und Serienmörder – Bad Seeds größter Erfolg gewesen. Doch jetzt sah er das anders.

Der wunderschöne Junge, der sich soeben auf dem Monitor wieder vom Boden erhoben hatte, war der wahre Sieger.

Lächelnd nahm Wells einen weiteren großen Schluck Cognac.