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NOCH TIEFER

Seattle, Washington · 22. März

 

Dante starrte auf das Papier. Das Foto verschwamm, und bei jedem Versuch, sich darauf zu konzentrieren, perforierte Schmerz seine Schläfen.

Räche deine Mutter und übe Rache für dich selbst.

Doch wenn das, was Heather gerade erzählt hatte, stimmte – und er hatte keine Veranlassung, an ihrer Aussage zu zweifeln – , hatte er versagt. Genevieves Mörder atmete, aß und schlief noch. Genoss das Leben.

Aber nicht mehr lange.

»Gib mir nochmal den Namen«, flüsterte Dante, dessen Hals wie zugeschnürt war und dessen Muskeln krampften. »Ich kann ihn nicht lesen. Sag ihn nochmal. Sag ihn langsam.«

Heather runzelte besorgt die Stirn. »Du siehst schlecht aus«, sagte sie.

»Den Namen.«

»Robert Wells.«

»Robert …«, wiederholte Dante. Er öffnete den Mund, um den Nachnamen auszusprechen, doch er hatte ihn längst wieder vergessen, auf einer Rutschbahn aus Schmerz war er ihm entglitten. Tief in ihm summten Wespen. Schmerz bohrte sich in seine Schläfen. »Scheiße«, murmelte er. »Sag ihn noch einmal. «

»Robert Wells. Dante, ich glaube nicht …«

Ein Bild durchzuckte Dantes Geist: Ein Mann mit blondem, grau meliertem Haar und einem freundlichen Lächeln beugt sich über ihn. Blutspritzer zieren seinen weißen Arztkittel. Mit der Hand streicht er über Dantes Kopf, während er eine Nadel in seinen Hals bohrt.

Mein schöner Knabe. Du wirst alles überleben, was ich dir antue, nicht?

Er injiziert die Flüssigkeit.

Das Bild zerbrach. Verschwand. Schmerz kratzte an Dantes Bewusstsein, weißes Licht flackerte am Rand seiner Wahrnehmung. »Sag ihn nochmal«, flüsterte er und presste die Knöchel seiner Fäuste gegen seine Schläfen. »Nochmal.«

Finger fassten nach seinem Kinn, zwangen ihn, den Kopf zu drehen. Er sah in Heathers blaue Augen. Ihre Lippen bewegten sich, aber er hörte nur Stimmen, die wie ein Orkan in seinem Inneren aufstiegen.

Wir brauchen die Zwangsjacke. Und die Ketten. Schnell, beeilt euch!

Dieser verdammte kleine Spinner.

Sag das nochmal, und ich überlass dich dem verdammten kleinen Spinner.

Lauf, Dante-Engel, lauf!

»Dante, komm zurück.« Heathers Stimme drang durch das Geflüster, und er stierte in ihr Gesicht. Sie konnte so tief in ihn blicken. Tiefer, als er es für sicher hielt. Sicher für ihn? Sicher für sie? Er wusste es nicht, aber er hatte das Gefühl, dass es für sie beide riskant werden konnte. In der Finsternis in seinem Inneren regte sich etwas. Unruhig. Heißhungrig. Unstillbar.

Dantes Muskeln spannten sich an. Er konzentrierte sich auf Heathers dämmerblauen Blick. Er sog ihren Wohlgeruch nach Flieder und Salbei im Regen ein. Dann schlang sie die Arme um ihn, und das Geflüster verschwand. Das Summen der Wespen hörte auf.

Alles war still bis auf das Schlagen ihrer beider Herzen, ein doppelter Rhythmus aus Tageslicht und Mondaufgang. Er schlang ebenfalls die Arme um sie, atmete den Fliederduft ihres Haars ein.

»Dante?«

»J’su ici.«

»Wie geht’s deinem Kopf?«

»Comme çi, comme ça.« Er hob den Kopf und bemerkte das zerbrochene Holz zu seinen Füßen, dann sah er den kaputten Stuhl. »Scheiße. Tut mir leid.«

»Vergiss es. Setz dich«, drängte Heather.

Dante ließ sie los und schüttelte den Kopf. »Nein, ich muss weg.«

Ein seltsamer Ausdruck huschte über Heathers Gesicht. »Was habe ich dir gerade gesagt?«

Dante kramte in seinem Gedächtnis und merkte, wie sich etwas verschob und außer Reichweite rutschte. Schmerz schlängelte sich durch sein Bewusstsein. Er schniefte. Schmeckte Blut. »Etwas über den Kerl, der mich auf die Welt und meine Mutter getötet hat. Aber an seinen Namen kann ich mich nicht erinnern«, brummte er. Er wischte sich über die Nase und schmierte Blut auf seinen Handrücken.

»Robert Wells«, sagte Heather. »Dr. Robert Wells – und deine Nase blutet.«

»Robert …«, sagte Dante und durchsuchte sein Gedächtnis. Er wusste, der Name musste da irgendwo sein, konnte ihn fast wie ein fernes Echo hören. Zu greifen vermochte er ihn aber nicht. »Scheiße!«

»Setz dich.« Heather legte die Hände auf seine Schultern. »Setz dich wieder hin.«

Er gehorchte und fuhr sich dann mit den Fingern durchs Haar. Etwas in seinem Inneren fühlte sich falsch an – beinahe so, als würde eine Spieluhr oder etwas Kaputtes, Zerbrochenes aufgezogen, um es noch einmal zum Laufen zu bringen. Heather kniete sich vor ihn und tupfte die Nase mit einem Kleenex ab. »Wieso kann ich mich an Johanna Moores Namen erinnern, aber nicht an den dieses Bastards?«

Heather schüttelte den Kopf, ihre Miene wirkte ernst und besorgt. »Ich weiß nicht, aber ich vermute, dass Wells etwas in dir so programmiert hat, dass er vor sich sicher ist – etwas, wovon Moore nichts wusste, oder etwas, das ihn am Leben halten sollte, falls etwas zwischen ihnen schieflief. «

»Gut, dann müssen wir diesen Sicherheitsmechanismus deaktivieren oder umgehen. Wo lebt er? Wie kann ich ihn finden? «

»Später. Leg den Kopf zurück.«

»Es geht mir gut«, sagte er und griff nach den Taschentüchern in ihrer Hand. »Gib her.«

»Es geht dir nicht gut!« Heather warf das blutbefleckte Kleenex nach ihm. Ihre Augen funkelten ärgerlich, und er konnte riechen, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. »Man hat seit deiner Geburt dein Bewusstsein manipuliert. Dir geht es ganz und gar nicht gut! Warum bist du nur so gottverdammt starrsinnig?«

»Ich kann nicht anders.«

Ein bekümmertes Lächeln huschte über Heathers Mund. »So hast du überlebt.«

»Ich bin nicht der einzige Starrkopf in dieser Beziehung!«

»Ich bin hartnäckig, nicht starrsinnig«, brummte Heather. »Das ist ein Riesenunterschied.«

»Das kannst du dir gern einreden.«

Sie lachte leise und tief – ein warmer, erotischer Klang. »Weißt du noch, was ich dir vorhin gesagt habe?«, wollte sie wissen.

Dante nickte. »Du hast von dem Kerl erzählt, dessen Namen ich mir nicht merken kann. Dem Kerl, der für den Tod meiner Mutter verantwortlich war.« Die Worte des Perversen kamen ihm in den Sinn. Als Blutsaugerin haben sie ihr den Kopf abgeschlagen und den Körper verbrannt.

»Richtig. Um all das werden wir uns morgen kümmern. Ich denke, für heute Abend haben wir beide genug, und du musst noch auftreten.«

»Ja, und du hast Annie«, erwiderte Dante.

»Ja«, ächzte sie. Erschöpfung umschattete ihre Augen. »Ich habe ein paar Hinweise, denen ich heute Abend nachgehen will, nachdem ich Annie versorgt habe. Bis Montag bin ich sicher, und du bist wahrscheinlich auf der Tournee am sichersten. Aber pass dennoch auf, falls ich mich irre.«

»Du auch, und halte immer dein Waffe parat, chérie

»Ja, natürlich.«

Dante ging zum Fenster hinüber und stieß es auf. »Das werde ich morgen Abend gleich als Erstes reparieren, ja?«, sagte er und strich mit einem Finger über das zerbrochene Schloss.

»Aber so was von«, antwortete Heather, auch wenn sie ihn sich kaum mit einem Schraubenzieher in der Hand vorstellen konnte. Sie trat neben ihn. »Warum gehst du nicht durch die Haustür?«

Dante zuckte die Achseln. »Ich gehe, wie ich kam.«

Er wandte sich ihr zu und senkte den Kopf. Heather ertappte sich dabei, wie sie das Gesicht hob, bereit für seinen Kuss. Ihr Herz raste, doch statt der erhitzten Berührung seiner Lippen spürte sie nur, wie seine Finger einen Moment lang über ihre Wange strichen. Dann berührte seine Stirn die ihre, und sie atmete seinen rauchig-erdigen Duft ein.

»Je te manque«, tuschelte er. Seine Finger bebten kurz, ehe er sie zurückzog.

Heather blickte ihm in die Augen, die voll Verlangen glitzerten. Sie berührte sein Gesicht, das sich sogleich anzuspannen schien. Er zog sich zurück. Vor Verwunderung stockte ihr der Atem.

Dante küsste aus vielen Gründen: Er küsste Freunde, er küsste Fremde, einmal hatte sie sogar beobachtet, wie er einen Kontrahenten geküsst hatte. Was bedeutete es also, wenn er nicht küsste? Wenn er einen Kuss verweigerte?

Dante schob den Vorhang beiseite, duckte sich und schwang ein Bein über die Fensterbank. Einen Augenblick lang setzte er sich noch auf das Brett und blickte zu Heather. »Ich lasse dich und Annie für morgen auf die Gästeliste setzen, wenn ihr Lust habt, euch das Konzert anzuhören.«

»Sehr gern«, antwortete Heather lächelnd. »Danke.«

»Bonne nuit, chérie«, sagte Dante und ließ sich draußen zu Boden fallen. »Dann bis morgen.«

Dante zog die Kapuze über den Kopf und stellte sicher, dass sein Gesicht im Schatten lag. Dann trat er einige Schritte zurück, ohne Heather aus den Augen zu lassen. Sein leidenschaftlicher Blick schien im Dunkeln zu funkeln. Dann setzte er die Sonnenbrille auf, drehte sich um und rannte übernatürlich schnell los.

Heather schloss das Fenster wieder, lehnte die Stirn gegen die Scheibe und schloss die Augen. Das Glas fühlte sich angenehm kühl an. Ihre Finger griffen nach der Fensterbank. Die Wochen, die sie getrennt verbracht hatten, schienen nichts an ihren Gefühlen für ihn geändert zu haben. Doch noch immer war sie nicht sicher, was diese Empfindungen genau waren oder auch, welche Ängste sie quälten. Ehe sie außerdem den Gefühlen überhaupt nachgehen konnte, mussten sie erst einmal versuchen, den Untergang von Bad Seed und die Folgen zu überleben.

Heather zog den Vorhang wieder zu, drehte sich um und ging zur Couch hinüber, wo sie ihre Tasche hingeworfen hatte, als sie hereingekommen war – geblendet von Annies dramatischem Ohnmachtsanfall und Dantes atemberaubender Gegenwart. Sie holte die Achtunddreißiger aus der Handtasche und schob sich die Pistole hinten in den Jeansbund. Der kalte Metalllauf schmiegte sich an ihren Rücken.

Leises Weinen – verloren und wund – ließ sie aufblicken. Sie machte sich auf den Weg ins Gästezimmer zu ihrer schluchzenden Schwester. Dantes gemurmelte Worte kamen ihr in den Sinn: Je te manque.

Ich dich auch, dachte sie.