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SPUREN UNTER IHREM FENSTER

Seattle, Washington · 22. März

 

Dante wählte ein Fenster im hinteren Teil des dunkel daliegenden Hauses. Dort hängte er einen Fensterladen aus, den er an die schneeweiße Mauer lehnte. Er schlug rasch und heftig mit der Faust gegen den Fensterrahmen, und das Schloss schnappte mit einem leisen Ächzen auf. Einen Augenblick lang hielt er inne und lauschte. Nichts war zu hören – keine bellenden Hunde, keine rasenden Herzen. Nichts. Nur Stille.

Er schob den elfenbeinfarbenen Vorhang beiseite, der sich aus dem offenen Fenster bauschte, und schwang ein Bein über das Fensterbrett, um in das dunkle Zimmer zu steigen. Drinnen sah er sich neugierig um. Er zog seine Kapuze vom Kopf, schüttelte sein Haar und strich es sich aus dem Gesicht.

Heathers typisches Aroma nach Salbei und regennassem Flieder, frisch wie nach einem Sturm, stieg ihm in die Nase. Ihre Aura – warm, charaktervoll und mit einer stillen, selbstverständlichen Autorität – erhellte das Zimmer.

Er schob die Sonnenbrille auf die Stirn. Sein Latexshirt raschelte leise. Vorsichtig trat er einen weiteren Schritt ins Zimmer, in dem eine Couch und ein Sessel, ein Schaukelstuhl und ein Couchtisch standen, auf dem Zeitschriften und Bücher verstreut lagen. Eine himmelblaue Wolldecke mit aufgedruckten Sternen war über den Sessel geworfen.

Dante sah sich im Haus um. Begierig nahm er die vielen Ausschnitte von Heathers täglichem Leben auf. Er strich mit den Fingern über die Rückenlehne der Couch, über den Sessel und spürte weiche Kissen und glattes Vinyl.

In der Küche standen einige Teller im Spülbecken. Ein grünes FERTIG leuchtete an der Spülmaschine auf, überall waren rosa und amethystfarbene Akzente gesetzt, Farben der Dämmerung. Ein Duft von Rosmarin, Olivenöl und Zitrone hing in der Luft.

Im Esszimmer lag ein Tischläufer mit grünlichen Blättern und blauroten Trauben auf dem kleinen Esstisch. Ein muffiger Geruch nach alten Dingen stieg aus zwei abgegriffenen Kartons, die auf dem Tisch standen. Auf den Seiten der Kartons stand mit dunklem Filzstift WALLACE, SHANNON. FALL NR. 5123441. Fotos waren wie Tarotkarten auf der dunklen Oberfläche ausgebreitet, die allesamt Aufnahmen eines Tatorts darstellten.

Dante ergriff die Rückenlehne des Stuhls am Tisch. Die Ringe an seinen Fingern schlugen gegen das Holz. Er beugte sich vor, um die Fotos genauer zu mustern.

Auf der Erde unter den winterlich kahlen Ästen eines Baums lag eine Frau. Sie war halb zusammengekauert, blickte aber mit toten Augen in den Himmel. Sie sah mit ihrem roten Haar und dem herzförmigen Gesicht Heather unglaublich ähnlich – selbst im Tod noch hinreißend anzusehen.

War es eine Schwester? Heather hatte einmal erwähnt, ihre Schwester sei Leadsängerin von WDM gewesen, ehe sich die Band aufgelöst hatte, und diese Schwester habe auch unter Migräne gelitten.

Plötzlich verstand er. Er hielt sich am Stuhl fest, um nicht ins Schwanken zu kommen. Das war nicht ihre Schwester. Ihre Mutter. Getötet und weggeworfen. Genau wie seine.

Hinter seinen Augen begann es zu schmerzen. Das bohrende Gefühl breitete sich rasant in seinem Kopf aus, und Stimmen fingen zu flüstern an.

Du siehst ihr so unglaublich ähnlich.

Dante-Engel?

Psst, Prinzessin. Still, p’tite. Schlaf weiter.

Dante schloss die Augen und legte die Finger an die Schläfen. Er versuchte, nicht auf das Flüstern zu hören. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Konzentrier dich auf Heather. Konzentrier dich. Die Stimmen wurden leiser, bis er schließlich nur noch das regelmäßige Schlagen seines Herzens hören konnte.

Dante öffnete die Augen und musterte wieder die Fotos und den Bericht, der ebenfalls vor ihm auf dem Esstisch ausgebreitet war. Dachte sie daran, den Mord an ihrer Mutter neu aufzurollen oder wollte sie sich nur noch einmal damit beschäftigen? Heather suchte stets nach der Wahrheit, bei allem, was sie tat. Ganz gleich, wie sehr es auch wehtun mochte und wem sie auf die Zehen trat.

In Washington war sie deshalb fast ums Leben gekommen, und er war sich absolut sicher, dass sie auch jetzt nicht sicher war.

Er dachte daran, wie sie ausgesehen hatte, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Es war in der Klinik gewesen. Ihr Gesicht hatte bleich geleuchtet, ihre Augen waren umschattet gewesen, und in ihren blauen Tiefen hatte sich tiefe Trauer gezeigt. Sie hatte verletzlich und zerbrechlich gewirkt – und allein.

Dante war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob er es schaffen würde, wieder wegzugehen. Würde er es über sich bringen, sich ein weiteres Mal von ihr zu verabschieden? Gleichzeitig wusste er nicht, ob er heilen wollte. Er wusste nicht, ob er es verdiente zu heilen. Aber eines war klar: Er würde nicht wieder verschwinden, ehe er sichergestellt hatte, dass es ihr gutging.

Er richtete sich auf und ließ die Collage aus Tatortaufnahmen auf dem Tisch liegen, um über den Flur zum Schlafzimmer zu gehen. Heathers Aroma umgab ihn warm und vertraut, und er nahm es gierig in sich auf.

Ein fragendes Miau grüßte ihn. Am Fußende des Bettes lag zusammengerollt eine rotbraune Katze und musterte ihn gelassen mit ihren goldenen Augen.

»Hi«, sagte Dante und hielt ihr die Hand hin. Die Katze schnüffelte interessiert an seinen Fingern und rieb sich schnurrend an seiner Handkante. Er streichelte den schmalen, weichen Kopf. Die Katze gähnte, und man sah ihre Zunge, die sich wohlig ringelte. »Ich hoffe, du sollst hier nicht Wache halten, Minou, denn schlafen wäre dann das ganz Falsche, Kleine.«

Er ließ den Finger über das ordentlich gemachte Bett wandern. Ruhelosigkeit ergriff ihn, als er daran dachte, wie Heather in seinem Schoß gelegen und sich eng an ihn geschmiegt hatte, während sie gemeinsam vor und zurück geschaukelt waren. Er erinnerte sich daran, wie sich ihre Haut angefühlt hatte – warm, weich und fest. Er erinnerte sich auch an den Honiggeschmack ihrer Lippen, an ihr Blut – und an die lilienweiße Stille, die sie umgeben hatte wie zwei Hände eine Flamme.

Es ist so still, wenn ich mit dir zusammen bin. Der Lärm hält inne.

Ich helfe dir, dass er für immer aufhört.

Der Schmerz in ihm begann zu toben. Weißes Licht zuckte vor seinen Augen.

Nein. Konzentrier dich. Bleib hier. Im Jetzt. Beschütze sie.

Dante zwang sich, dem Bett den Rücken zuzudrehen und ging über den Teppichboden zu einer Kommode, die sich an der Wand dem Bett gegenüber befand. Dort standen gerahmte Fotos, von denen eines Heather mit einem jungen Mädchen mit einem lila Irokesenschnitt und schwarz umrandeten Augen zeigte, neben ihnen ein Junge mit rotblondem Haar in T-Shirt und Jeans. Der Junge und das Mädchen sahen Heather ähnlich genug, um ihre Geschwister sein zu können. Auf einem anderen Bild hielt Heather eine rotbraune Katze im Arm. Sie vergrub ihr Gesicht im Fell des Tiers, und ihr Blick aus den blauen Augen wirkte glücklich und zufrieden.

Dieselbe Katze drängte sich jetzt gegen Dantes Unterschenkel und machte einen Buckel, damit er sie streichelte. Schmunzelnd beugte er sich zu ihr hinunter und strich ihr über den Kopf. »Du gehörst also zur Familie und nicht zum Sicherheitsdienst«, flüsterte er. »Da habe ich ja nochmal Glück gehabt, was?« Als sich die Katze miauend drehte, bemerkte Dante, dass sie nur drei Beine hatte. »Du anscheinend auch.«

Er richtete sich auf, küsste seine Fingerkuppen und berührte damit das Bild Heathers mit ihrer Katze. Er schob einen Finger in den Eisenring an der obersten Kommodenschublade und wollte sie gerade aufziehen, als er im Wohnzimmer – oder vielleicht auch davor – Schritte hörte, gefolgt von Stille.

Dante neigte den Kopf zur Seite und lauschte.

Der regelmäßige Rhythmus eines Herzens – eines menschlichen Herzens. Das leichte Kratzen auf Holz. Ein Schlüssel? Nein. Das Fenster.

Dante wirbelte herum und schritt aus dem Schlafzimmer. Als er den Flur entlangsprintete, schoss Schmerz durch seinen Kopf und pochte gegen seine Schläfen und sein linkes Auge. Er hielt inne, als er sah, wie eine graue Sporttasche durch das offene Fenster ins Wohnzimmer flog, wo sie mit einem dumpfen Knall landete.

Die mitgenommen wirkende Tasche mit den ausgefransten Griffen stank nach altem Rauch – nach dem von Hasch ebenso wie dem von Zigaretten. Eine Hand mit einer Brechstange hielt sich am Fensterbrett fest. Dante bewegte sich. Er fasste nach der Hand und riss das Arschloch mit einem Ruck ins Zimmer. Ein lautes Reißgeräusch zeigte an, dass die Kapuzenjacke oder die Jeans des Einbrechers zerrissen sein mussten.

Er roch die Einbrecherschlampe, ehe er ihr Gesicht sehen konnte. Sie duftete nach Vanille, Nelken und Lavendelseife. Dahinter verbarg sich jedoch etwas Chemisches, das ihren Duft nicht ganz pur erscheinen ließ. Seine Schläfen pochten gequält, als er das Aroma wahrnahm, das wie Dornen sein Bewusstsein zerkratzte.

Er hielt die Einbrecherschlampe an beiden Schultern fest, wirbelte herum und riss sie zu Boden. Ihr Kopf schlug auf den Teppichboden, und ihr Atem entwich keuchend ihrer Lunge. Dante roch Alkohol – Tequila. Er setzte sich auf sie und presste beide Knie gegen ihren Brustkasten, so dass sie sich kaum mehr bewegen konnte.

Etwas flog sausend durch die Luft. Ohne hinzusehen, hob Dante den linken Arm. Kalter Stahl knallte gegen seine Handfläche. Er entriss dem Fräulein Einbrecherin das Brecheisen und schleuderte es durchs Zimmer, wo es am anderen Ende mit einem dumpfen Schlag auf dem Teppichboden aufschlug. Dante sah in die geweiteten Pupillen, die mit Kajal schwarz umrandet waren.

Ihm lief es kalt den Rücken hinunter, als er sah, wen er vor sich hatte.

Sie riss den Kopf hoch und knallte die Stirn gegen Dantes Gesicht. Knochen schlug auf Knochen, und sogleich schoss Schmerz wie bei einem Hieb mit einem Schlagring in seinen Kopf. Blut troff aus seiner gebrochenen Nase. »Verdammt!«

»Lass mich los!«, schrie die Einbrecherschlampe und begann, sich wie wild zu winden.

Nicht irgendeine Einbrecherschlampe, sondern Annie Wallace. Die frühere Frontfrau der inzwischen nicht mehr bestehenden WDM. Er hatte ihr ernstes Gesicht auf den Fotos erkannt, die auf Heathers Kommode standen.

Dante packte Annie an der schwarzen Kapuze und sprang auf, wodurch er sie mit hochriss. Sie holte mit der Faust aus, traf ihn aber nicht. Er knallte sie gegen die Wand und hielt sie fest. Als er sah, wie sich ihre Halsmuskeln anspannten, kam er ihr zuvor und verpasste ihr mit der Stirn eine Kopfnuss. Ihre Schädel knallten geräuschvoll aneinander.

Sie schlug mit dem Hinterkopf gegen die Wand, wo eine Delle zurückblieb. Eher verblüfft als verletzt sah sie zu ihm auf. Ihre Augen waren himmelblau, anders als Heathers, die an ultramarinblaues Dämmerlicht erinnerten. Größenmäßig ähnelten die beiden Schwestern einander jedoch – etwa eins sechzig im Gegensatz zu seinem Meter zweiundsiebzig.

Ihr Haar mit den neonblauen, purpurnen und schwarzen Strähnen umrahmte ihr Gesicht und reichte genau bis zu den Schultern. In ihren Brauen, Ohren und in der vollen Unterlippe funkelten Metallringe und Ohrstecker.

Er berührte seine Nase und drückte dagegen. Mit leisem Knirschen schob sich der Knorpel wieder an seinen Platz. Dante zuckte zusammen. Er schniefte, um das Blut zurückzuhalten. »Beruhigst du dich? Oder müssen wir die ganze Nacht so weitermachen? «

»Arschloch!«, zischte sie und starrte ihn aus ihren dunkel umrandeten Augen finster an. Gleichwohl hörte sie auf, sich zu wehren. Sie holte tief Luft, und ihre Augen weiteten sich, wodurch ihre Pupillen noch größer wurden.

Dante seufzte und sah weg. Seine Muskeln spannten sich an. Er wusste, dass sein Aussehen die meisten in Bann zog, mochten sie nun Sterbliche oder Nachtgeschöpfe sein. Sie wurden in seiner Gegenwart fahrig und unsicher und begehrten ihn. Zumindest begehrten sie das, was sie sahen. Ab und zu war das in Ordnung. Ab und zu machte es auch Spaß. Aber nur ab und zu.

»Hi.«

Dante drehte wieder den Kopf. Sie küsste ihn. Warme Lippen, die nach Tequila und Nelkenzigaretten schmeckten, drückten sich einen Augenblick lang auf die seinen. Er riss sich los, merkte aber, dass er grinsen musste. »Zuerst ein Empfang mit einer Kopfnuss und dann ein feuchter Kuss. Macht ihr das so in Seattle?«

»Wer zum Teufel bist du und wieso bist du ins Haus meiner Schwester eingebrochen?«

»Toi t’a pas de la place pour parler. Ich bin nicht der Einzige, dem man diese Frage stellen könnte«, antwortete Dante und wies mit dem Kopf auf die Brechstange, die noch auf dem Boden lag. »Warum bist du denn hier eingebrochen?«

Sie warf einen Blick auf das Brecheisen. »Nein, so nicht. Du warst zuerst hier.«

»Ich bin ein Freund. Wollte nur sehen, ob es Heather gutgeht. «

»Die meisten Leute klingeln zuerst, um herauszufinden, ob jemand da ist«, entgegnete sie und hob das Kinn, »und dann warten sie, ob ihnen aufgemacht wird.«

Dante warf wieder einen Blick auf das Einbrecherwerkzeug. »Woher willst du das so genau wissen?«

»Haben mir … na ja … normale Leute erzählt«, sagte sie und drückte gegen seinen Arm, mit dem er sie festhielt. »Du kannst loslassen. Ich verspreche, dass ich dich nicht mehr zum Bluten bringe.«

Dante schnaubte verdrießlich. »Du hast mich nicht zum Bluten gebracht. Das hat die gebrochene Nase gemacht.« Er ließ sie los und trat zurück.

Annie rieb sich die Stirn. »Harter Schädel, Mann. Deine Nase sieht ganz gut aus, Heulsuse. Übrigens, ich bin Annie.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.

»Habe ich mir gedacht. Heather hat mir von dir erzählt.« Er nahm die Hand und schüttelte sie. »Dante.« Sie drückte genauso entschlossen zu wie Heather, nur härter, als ob sie noch immer versuchen würde, ihn zu einer Reaktion herauszufordern.

Annie ließ Dantes Hand los. »Woher kennst du meine Schwester? « Sie beäugte ihn von Kopf bis Fuß. »Bondagereifen aus Stahl, Latex und Leder … das passt nicht so zu den Typen, die sie sonst nach Hause bringt.«

»Wir haben einander in New Orleans getroffen.«

»Heilige Scheiße! Bist du der Bursche, von dem mir Heather erzählt hat?« Annie bohrte ihm einen Finger in die Brust. »Der Bursche, der ihr das Scheißleben gerettet hat? Der Bursche, der … Mist, was hat sie nochmal über dich gesagt?«

»Hoffentlich was Nettes. Etwas Schamloses wäre auch gut.«

»Sie sagte, du seiest kein Mensch.« Annie lachte. Ihre Stimme klang belegt, wie nach zu viel Alkohol und Zigaretten. »Verrückt, ich weiß! Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie sie dich nannte…«

»Nachtgeschöpf.«

»Genau! Nachtgeschöpf. Vampir. Bist du einer?«

»Ja«, entgegnete Dante und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Wann hast du das letzte Mal mit Heather gesprochen? Hast du sie gesehen? Geht es ihr gut?«

Annie zuckte die Achseln. »Ich schätze, es geht ihr gut, ja.« Sie tastete an der Wand nach dem Lichtschalter. »Also nur ›Ja‹? Keine Leugnungen? Kein ›Red keinen Scheiß, so was gibt’s doch …‹«

Dante hörte ein Klicken, als ihre Finger den Schalter fanden. Licht durchflutete den Raum und bohrte sich in seine Augen. Er fasste nach der Sonnenbrille auf seiner Stirn, ehe er merkte, dass er sie offenbar bei Annies Kopfnussbegrüßung verloren hatte. Blinzelnd hob er die Hand, um sich gegen das blendende Licht zu schützen.

»Wahnsinn«, flüsterte Annie. »Im Licht siehst du ja noch besser aus. Das ist selten. Viele Typen, die man in irgendwelchen Clubs abschleppt, sehen in der Dunkelheit sooo hübsch aus, vor allem die Goth-Jungs. Aber wenn man sie dann am nächsten Morgen im hellen Licht anschaut … igitt.«

»Kenne ich«, meinte Dante. »Ich weiß ganz genau, was du meinst.«

»Wie zum Teufel ist es Heather gelungen, sich einen wie dich zu schnappen? Sogar blutverschmiert siehst du echt lecker aus.«

Elroys Worte hallten leise in Dantes Innerem wider – Worte, die er hinten in einem blutverschmierten Van gehört hatte und die sich nun so eng wie Handschellen um den Schmerz in seinem Kopf legten: Deine Nase blutet. Irgendwie ganz sexy.

Er rieb sich das rechte Handgelenk, während das Flüstern des Perversen leiser wurde – ein Geist mit eiskalten Messern aus Stahl und voll bitterer Lust. Der Schmerz ließ jedoch nicht nach.

»Das ist eine dumme Frage«, sagte er und konzentrierte sich wieder auf Annie. »Deine Schwester ist umwerfend, innerlich und äußerlich.«

Annie steckte sich den Zeigefinger in den Mund und tat, als müsse sie würgen.

Dante lachte. »Ich glaube, du gefällst mir, petite

Er fand seine Sonnenbrille auf dem Teppich neben dem Couchtisch, ging hinüber, nahm sie und setzte sie sich auf. Sein Kopfschmerz ließ etwas nach. »Hast du eine Ahnung, wo Heather stecken könnte?«, fragte er und drehte sich wieder Annie zu.

»Nein.« Sie trat zu ihm und rückte ihm dabei so dicht auf die Pelle, dass sie nur noch eine Handbreit von ihm entfernt war. Ihr Gewicht hatte sie auf eine Hüfte verlagert. »Aber ich wette, du hast ein paar Tricks auf Lager, die sie nicht hat«, sagte sie mit tiefer Stimme. »Sie würde sich wahnsinnig ärgern, wenn ich mich an dich ranmachen würde.«

»Ich bin nicht hergekommen, um sie zu ärgern, und falls das der Grund ist, warum du hier bist, sollten wir lieber mit den Kopfnüssen weitermachen.«

»Echt? Versprochen? Das hat sooo viel Spaß gemacht!« Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß, und das chemische Aroma hinter ihrem Lavendel-Gewürznelken-Duft wurde stärker und stieg Dante wie Rauch in die Nase.

Auf einmal wurde ihm schwindlig, und das Zimmer um ihn herum begann sich zu drehen. Etwas in ihrem Duft … Drogen? Weißes Licht flackerte am Rand seines Sichtfelds. Bizarre Empfindungen nahmen von ihm Besitz und zogen und zerrten an ihm wie Geisterhände. Dann riss ihn die Welle mit sich nach unten.

Eine Nadel sticht in die Haut an seinem Hals. In seinen Adern brennt es wie Trockeneis.

Vor Dantes innerem Auge stiegen chaotische, groteske Bilder auf: ein Zimmer voller Blutspritzer und schneeweißen Wänden. Eine Spritze mit einem Tropfen klarer Flüssigkeit an der Nadelspitze. Die Stimme eines Mannes. Was brüllt der kleine Psycho?

Schmerz traf ihn unerwartet. Er schwankte. Eine Hand hielt ihn am Oberarmmuskel fest. Dunkle Flecken in seinem Sichtfeld. Nach einer Weile begannen sie, sich wieder aufzulösen. Dante sah in Annies himmelblaue Augen, die ihn neugierig ansahen. Hunger brodelte in ihm. Er brauchte dringend Blut. Er hatte viel zu lange gewartet, und seine Selbstbeherrschung bröckelte.

»Geht es dir gut?«

»Oui.« Er löste sich von ihr und trat einen Schritt von ihrer Hitze, dem verführerischen Rhythmus ihres Pulses zurück.

»Kann ich deine Fänge sehen? Du hast doch Fänge, oder? Ich will sie sehen.«

Dante ging in die Küche, blieb vor dem Ausguss stehen. Er drehte den Kaltwasserhahn auf, beugte sich vor und ließ kaltes Wasser in seine Handflächen fließen, um es sich ins Gesicht zu spritzen. Das Blut, das ihm aus der Nase gelaufen war, konnte er damit abwaschen, nicht aber das Flüstern. Es wollte nicht aufhören.

Ich habe dein Bewusstsein manipuliert.

Was brüllt er denn?

Er stellt eine sehr laute, eindeutige Forderung.

»Tötet mich«, murmelte Dante. Schmerz bohrte sich in seine Schläfen, und er musste sich am Rand des Spülbeckens festhalten. Die Küche begann, sich zu drehen. Er schloss die Augen und versuchte, die schemenhafte Erinnerung festzuhalten, die Worte zu wiederholen, die er gerade gesagt hatte. Doch als er den Mund öffnete, wusste er nicht mehr, wie sie gelautet hatten.

Es war weg. Was immer es gewesen war.

»Scheiße.« Dante öffnete die Augen wieder, ließ das Spülbecken los und richtete sich auf. Hinter seinem linken Auge pochte es qualvoll. Er riss ein Blatt von der Küchenrolle auf der Arbeitsplatte ab und wischte sich damit das Gesicht ab. Dann drehte er das Wasser ab.

In der plötzlichen Stille hörte er ein scharfes Luftholen, das aus dem Wohnzimmer kam. Er eilte aus der Küche und sah, dass Annie vor dem Tisch im Esszimmer stand und auf die Fotos starrte, die dort auf dem dunklen Holz ausgebreitet waren.

»Ist das meine Mom?«, fragte sie mit einer Stimme, die kaum lauter als ein heiseres Geflüster war.

»Weiß nicht. Könnte sein.«

»Sie hat ins Gras gebissen, weil sie eine Säuferin und Hure war«, sagte sie. Ihre Tonfall war teilnahmslos, wenn auch angespannt. Manisch begann sich Energie wie Elektrizität aus einer Steckdose aufzubauen, in der gerade ein Kurzschluss stattfand. » Wenn-sie-nicht-schon-tot-wäre-würde-ich-die-Schlampe-selber-töten-die-Säuferin-ich-hasse-sie-ich-hasse-sie- ich-hasse-alle…«

Annies Leid und ihr Zorn trommelten wie Kinderfäuste auf Dante ein – schlugen, traten und schrien. Jäh wirbelte sie mit einer Geschwindigkeit, die fast der eines Nachtgeschöpfs gleichkam, herum und rannte durch die Wohnung auf die Brechstange zu. Sie bückte sich und riss sie hoch. Dann drehte sie sich wieder um.

Ihre Augen glühten, als hätte sie den Verstand verloren. Ihr herber Geruch erfüllte die Luft. Dante hatte diese Art von Verletzung schon mehrfach gesehen. Er hatte sie selbst empfunden. Er hatte sie in seinen zusammengeballten Fäusten und seinem Herzen getragen und nicht gewusst wohin damit.

Annie schwang das Brecheisen. Ihre Fingerknöchel waren schneeweiß, so fest hielt sie die Stange. Ein wortloses Heulen drang aus ihrem Mund und fuhr einem Messer gleich Dantes Wirbelsäule entlang. Sie schoss wie eine gezündete Rakete los. Die Brechstange gab ein pfeifendes Geräusch von sich, als sie durch die Luft sauste.