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DIE UNTERWELT

Damascus, Oregon · 24. März

 

Dante bewegte sich. Heather sprang zurück und schützte ihre Kehle mit einem Arm, während sie inbrünstig hoffte, dass sie ihn erwischt hatte. Dante blieb einen halben Meter von ihr entfernt taumelnd stehen. Er schwankte und zog den Pfeil aus seinem Hals. Ein vertrautes Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen, und einen Augenblick lang war er, als er sie anschaute, wieder er selbst.

In seinen geheimnisvollen Augen zeigte sich Erleichterung.

Der Pfeil fiel ihm aus der Hand. Dann stürzte er mit dem Bauch nach vorn zu Boden und blieb auf dem dunkelbeigen Teppichboden liegen. Sein schwarzes Haar breitete sich auf Heathers Schuhen aus.

Sie senkte die Arme, warf die Betäubungspistole weg und kniete sich neben ihn. Panisch griff sie nach seinen Schultern und drehte ihn um. Er war so heiß, als ob er innerlich verbrennen würde, als sie ihn mit bebenden Fingern berührte.

»Guter Schuss«, sagte Lyons hinter ihr. » Ich hatte gedacht, er würde auch Sie zerfetzen. Allerdings bin ich froh, dass er es nicht getan hat. «

Heather warf ihm über die Schulter einen Blick zu. »Sie sind so voller Scheiße, dass Sie schon lange daran erstickt sein sollten.«

»Aua«, murmelte Lyons amüsiert. Er schlenderte ins Wohnzimmer und kauerte sich neben sie. »Sieht aus, als wäre er angeschossen worden.«

Heather folgte seinem Blick zu dem Loch in Dantes Lackhemd oberhalb des linken Brustmuskels. Fast ins Herz. Nicht tödlich, aber Rodriguez wäre noch am Leben, wenn er nicht daneben geschossen hätte. Was hätte das für Dante bedeutet ?

»Aus dem Weg, Wallace. Ich hebe ihn hoch.«

»Wo ist mein Papa?«

Heather sah auf. Das kleine Mädchen stand noch immer mit großen Augen zitternd neben dem Sofa, wo Dante sie in Sicherheit hatte bringen wollen. »Ist mein Papa hier?«

Heather schnürte es den Hals zusammen. »Ich weiß nicht, Kleine«, sagte sie sanft und stand auf. »Wie heißt du?«

»Brisia«, antwortete das Kind. »Sollten wir nicht den Notruf anrufen? Mein Papa sagt immer…«

»Du warst sehr mutig, Brisia«, unterbrach Heather sie und ging auf sie zu, um sich neben sie zu knien. »Dein Papa wäre sehr stolz auf dich gewesen. Jetzt musst du nur noch ein bisschen länger mutig sein – ja, Schätzchen?«

Brisia nickte unsicher. Ihre Augen waren vor Schock ganz starr. Heather strich ihr über den Arm, auch wenn sie wusste, dass ihr Versuch, das Kind zu trösten, hohl wirken musste.

Brisias Vater war tot, und seine Leiche befand sich nur wenige Meter entfernt in einem anderen Zimmer. Sie würde früh genug erfahren, was geschehen war, und es würde für sie keinen Unterschied machen, dass Dante keine andere Wahl gehabt hatte, dass er dazu programmiert worden war, im Auftrag eines Wahnsinnigen zu morden.

Brisia würde nur wissen, dass er ihren Vater getötet hatte.

Die Aromen von Kaffee, Blut und verbranntem Laub vermischten sich zu einem durchdringenden Ganzen, das sich auf den Raum zu legen schien – wie das Bukett bevorstehender Trauer. Ein Geruch, an den sich Brisia immer erinnern würde, wie Heather wusste.

Sie spürte, dass sich das Kind anspannte. Sie sah das Mädchen an, das sein Gesicht hinter den Händen versteckte, fast wie eine Dreijährige, die sich einen Film mit Monstern anschaute.

Allerdings war sie zehn, und die Monster waren real.

»Bin gleich zurück, um den Rest zu erledigen.« Lyons begleitete den schwebenden Körper Dantes den dunklen Flur hinunter außer Sichtweite.

Heather drückte Brisias Arm, dann stand sie auf. Das Mädchen nahm die Hände vom Gesicht. Heather begleitete sie eilig zur Haustür. »Ich will, dass du jetzt zu den Nachbarn läufst und sie bittest, 911 anzurufen. Kannst du das?«

Brisia nickte. Sie griff nach dem Türknauf und sah dann noch einmal auf. »Brauchst du auch Hilfe?«, fragte sie.

»Mach dir keine Sorgen um mich«, sagte Heather. »Geh.«

Brisia riss die Tür auf und rannte in die Nacht hinaus. Sie lief über die Straße, während ihr langes Haar hinter ihr her wehte.

Heather atmete einen Augenblick lang auf. Sie schloss die Tür und verließ das Haus durch den Hintereingang. Draußen ging sie zu Lyons’ Pick-up. Er war gerade damit fertig, die schwarze Plane mit Gummibändern über der Pritsche des Wagens zu befestigen, und blickte nun auf.

Ihre Fäuste ballten sich. Lyons hatte Dante wie einen Gegenstand auf der Ladefläche verstaut. »Wir müssen los«, sagte sie. »Die Polizei wird schon auf dem Weg sein.«

Lyons schüttelte den Kopf, seine Miene wirkte amüsiert. »Sie haben das Kind laufenlassen. Dachte ich mir fast.« Er zuckte die Achseln. »Sie wird sich an Dante erinnern. Ich wette, sein Gesicht wird sich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt haben.«

Heather befürchtete, er könne Recht haben. »Dante hatte getan, was Ihr Vater ihm befohlen hat. Ich habe auch kooperiert. Wo ist Annie?«

»Hören Sie, Wallace«, sagte Lyons. Alle Belustigung war aus seinem Gesicht verschwunden. Seine Augen waren empfindungs- und ausdruckslos. »Hören Sie genau zu. Wenn Sie meinen Anweisungen nicht folgen, wird Annie dafür zahlen.«

 

Sheridan folgte einer langen Autoschlange auf die I-5 Richtung Süden. Auf der Autobahn reihte er den SUV zügig in den Verkehr ein. Ein Meer aus roten Rücklichtern breitete sich vor ihm aus. Lyons’ Adresse in Damascus blinkte in grünlichen Lettern auf dem Bildschirm des GPS-Empfängers am Armaturenbrett.

Rutgers’ Stimme drang über den Bluetooth-Knopf in sein Ohr. »Ich habe gerade erfahren, dass Rodriguez tot ist. Ermordet. «

»Prejean«, brummte Sheridan.

»Nehme ich auch an. Der ermittelnde Beamte meinte, es sähe aus, als habe ein wildes Tier Rodriguez zerfetzt. Ich habe ihm nicht erklärt, dass es höchstwahrscheinlich kein Tier, sondern ein Vampir war.«

»Natürlich nicht.«

»Ich habe ihm versprochen, ein paar Leute zu schicken. Es gibt außerdem eine Zeugin – die Tochter. Sie sprach von zwei Männern und einer Frau.«

»Prejean, Lyons und Wallace.«

»Nachdem ich von Ihnen erfahren habe, was sich heute zwischen Prejean, Lyons und Wallace vor ihrem Haus abgespielt hat, habe ich ein paar Nachforschungen angestellt. Mann, ich habe die Akten mit Abflussreiniger bearbeitet und bin dabei auf ein geheimes Juwel gestoßen.«

»Ma’am?«

»Lyons ist Robert Wells’ Sohn.«

Sheridan stieß einen Pfiff aus. »Glauben Sie, Wells hat ihn geschickt, um Dante abzuholen?«

»Ja, das glaube ich – und um Prejean zu benutzen.«

»Mission geglückt«, murmelte Sheridan. »Was ist mit Wallace? «

»Steht hinter Prejean. Da hat sich nichts geändert, und da Lyons den Vampir auf seinen Pick-up geladen und mit ihm weggefahren ist, kann man annehmen, dass er oder sein Vater planen, ihn weiterhin für ihre Zwecke einzusetzen.«

»Anweisungen?«

»Es geht mir auf den Sack, dass die Schattenabteilung Recht hatte, auch wenn es offenbar aus den falschen Gründen war.«

»Ma’am?«

»Wells und Wallace.« Rutgers seufzte, es klang leise und erschöpft. »Ich ziehe meine Order bezüglich Cortini zurück. Aber wenn sie Ihnen in die Quere kommt, zögern Sie nicht, sie auszuschalten.«

»Ja, Ma’am. Was ist mit Lyons?«

»Er ersetzt Cortini auf Ihrer Liste.«

»Verstanden«, antwortete Sheridan.

»Brian? Seien Sie vorsichtig. Haben Sie Ihr Gewehr dabei?«

»Ja.«

»Benutzen Sie es.« Die Verbindung brach ab.

Sheridan, der durch noch mehr Muntermacher fast unter Strom stand, während ihm gleichzeitig die Erschöpfung in den Augen brannte, lenkte den SUV auf die Überholspur.

 

Heather überholte mit dem Trans Am einen Schwertransporter und glitt auf die Überholspur. Die roten und gelben Lichter des LKW verschwammen zu einem langen Karnevalsbanner, als sie an ihnen vorüberraste. Die Straße vor der Windschutzscheibe verschmolz mit der Nacht – endlos und rabenschwarz.

Ihr Herz raste.

Regen prasselte auf die Scheibe, und Heather schaltete den Scheibenwischer ein. Sie bemerkte, dass ihre Hände wehtaten, und versuchte, die Finger zu lockern, die sich an das Lenkrad gekrallt hatten.

Fast da, sagte sie sich. Fast da.

Lyons’ Anweisungen, nachdem sie Rodriguez’ Haus verlassen hatten, waren eindeutig gewesen: Sie sollte mit dem Trans Am auf einem nahegelegenen Safeway-Parkplatz eine halbe Stunde lang warten, während er Annie holte. Wenn die halbe Stunde vorüber war, sollte Heather nach Damascus zu der Adresse fahren, die sie bei ihren Recherchen gefunden hatte.

Wenn sie nicht zehn Minuten nach Lyons’ Ankunft in dessen Einfahrt bog, würde Annie nie mehr erwachen. Heather hatte nur Lyons’ Wort, dass ihre Schwester noch am Leben war.

Wenn sie es nicht war, wenn Dante seine Verstand und seine Freiheit für nichts geopfert hatte …

Sie musste noch leben.

Heather trat aufs Gaspedal und jagte den Tacho auf hundertfünfzig Stundenkilometer hoch.

 

Alex betrat das Wohnzimmer des Nebengebäudes. »Athena? «, rief er. Er zog seine Kapuzenjacke aus und warf sie aufs Sofa. Athena?

Weißes Rauschen – das telepathische Besetztzeichen – hallte in seinen Ohren wider. Sie war entweder außerhalb seiner Reichweite oder stand unter Medikamenteneinfluss. Er hielt die erste Möglichkeit für wahrscheinlicher, und da ihr Laptop auch nicht auf dem Couchtisch stand, war sie mit dem Gerät wahrscheinlich drüben im Haupthaus und beobachtete Vater.

Ob er wohl schon gebettelt hat? Athena seine Liebe und ein paar Wunder versprochen hat?

Was er wohl mir versprechen wird?

Alex holte seine zur Zeit nutzlose S & W hinten aus seiner Jeans, zog Heathers Colt aus der Tasche seines Pullis und ging in sein Zimmer.

Er rümpfte die Nase. Das Cottage roch feucht und abgestanden, doch je weiter er in den dunklen Flur trat, desto stärker nahm er auch einen schwachen, aber klar vorhandenen Gestank war.

Er schaltete das Licht im Gang ein und runzelte die Stirn, als er die Klumpen auf dem Teppichboden sah. Sie wirkten wie getrocknete Erde oder Schmutz. Alex folgte der seltsamen Spur bis zum Zimmer Athenas, wo er die Tür aufstieß.

Etwas lag auf Athenas Bett, etwas Schmutziges in einem Nachthemd mit dürren Armen, zusammengekrallten Fingern und ohne Kopf. Der Oberkörper dieses Etwas endete oben in einem grob abgeschnittenen Halsstumpf. Alex brauchte mehrere rasende Herzschläge lang, bis er begriff, dass es seine Mutter war. Oder vielmehr das, was von ihr übrig war.

Er lehnte sich gegen den Türrahmen, so schwach wurde ihm vor Erleichterung.

Sie hat mir versprochen, Mutter nicht zu töten, hat es dann aber trotzdem gemacht. Kein Wunder, dass sie nicht antwortet.

Er rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Leichte Unruhe erfasste ihn. Die Tatsache, dass Athena ihre Mutter getötet hatte, störte ihn nicht weiter. Nicht wirklich. Was ihn jedoch überraschte, war der Zustand des Körpers und wo er sich befand – in Athenas Schlafzimmer, nicht in ihrem Labor.

Wo war Mutters Kopf?

Er ließ die Hände wieder sinken, ließ das Etwas auf dem Bett zurück und überquerte den Gang zu seinem Zimmer. Dort öffnete er den Waffentresor, der sich in einer Kommode befand, und holte ein neues Magazin für seine S & W heraus. Dann legte er den Revolver in den Tresor und verschloss ihn wieder. Er schob das Magazin in den Lauf und steckte die Pistole erneut hinten in seine Jeans.

Zeit, die Schläfer abzuladen und Vater einen kleinen Besuch abzustatten.

 

Alex stellte Annies Sporttasche mit der in Unterwäsche gewickelten Absinth-Flasche auf den Boden neben der Eingangstür des Haupthauses. Dante lag ausgestreckt auf dem Sofa, die blutverschmierten Hände auf den Rücken gefesselt. Der Vampir war noch bewusstlos, aber wenigstens blutete er jetzt nicht mehr aus der Nase oder der Schussverletzung in der Brust.

Alex schritt durch das Zimmer auf den Gang. Dort warf er zunächst einen Blick ins Gästezimmer. Annie schlief auf ihrer linken Seite zusammengerollt auf einer Steppdecke, Handgelenke und Füße noch immer mit Kabelbindern gefesselt. Er riss ihr das Panzerband vom Mund. Sie würde bald zu sich kommen, und hier draußen in der Pampa konnte sie so viel Lärm machen, wie sie wollte.

Er ging wieder in den Flur hinaus und ins dunkel daliegende Zimmer seiner Mutter, dem Flüstern seiner Schwester folgend. Unter der Tür blieb er stehen, und einen Moment lang verharrte sein Finger über dem Lichtschalter. Er schloss die Augen und genoss die warme, energiegeladene Präsenz seiner Zwillingsschwester — wie eine Katze die Sonne –, während er den Gestank aus geronnenem Blut und Verfall ignorierte, der ihm in die Nase stieg.

» Dreiineinsdreiineinsdreiineinsdreiineins …«

»Athena?«, flüsterte er und öffnete die Augen. Das Murmeln verstummte.

»Alexander kehrt als Triumphator zurück«, sagte sie stolz und lebhaft. »Sieh, vor dir steht der Gott der Unterwelt!«

Alex betätigte den Lichtschalter und erhellte das Zimmer.

Die Indian knatterte durch die Nacht, und das Geräusch ließ Vons Rückgrat vibrieren, als er sich gegen die Ausrüstung lehnte, die an Marley Wildes Motorrad geschnallt war. Seine Hand ruhte auf ihrer Hüfte. Der Wind wehte durch sein Haar und blies ihm eisigen Regen ins Gesicht, so dass seine Haut zu prickeln begann. Er wischte sich die Tropfen von der Schutzbrille. Marleys blonde Dreadlocks züngelten vor ihm wie das Schlangenhaupt der Medusa um ihren Kopf.

Ihr Partner, Glen Hundertachtzig, raste mit seiner kobaltblauen Kawasaki Versys einige Meter vor ihnen her. Das schwarze, aus Vogelschwingen gebildete V, das auf seine rechte Wange tätowiert war, wies auf seinen Clan hin – die Ravens. Als er hinter ihnen zurückfiel, streckte Von die Mittelfinger in die Luft. Er sah ein Aufblitzen der Zähne des Nomads, als dieser grinste.

Fick dich zweimal. Eine typische Geste von Dante, und er und Heather waren auch der Grund, warum sich Von hinten auf einer Indian mitten auf der Straße befand und mit hundertdreißig Sachen Richtung Portland und Damascus raste, anstatt neben Silver im Flugzeug nach New Orleans zu sitzen.

Gerade noch plaudert Von mit den beiden Clanmitgliedern am Dutch-Bros-Kaffeestand im Flughafengebäude, als sich plötzlich ein Schmerz wie eine Kettensäge Einlass in sein ungeschütztes Bewusstsein verschafft. Er verliert das Gleichgewicht und stürzt zu Boden.

Dante.

Von leitet Energie in seine Schilde, um sie zu festigen und zu stärken. Der Schmerz verschwindet, auch wenn sein Kopf noch immer dröhnt. Das Pochen ist jetzt allerdings nur noch ein Phantom, eine gespenstische Erinnerung.

Er springt auf und rennt los, vorbei an den Trauben von Wochenendtouristen, zu den Münzapparaten am anderen Ende der Halle. Mit zitternden Fingern zieht er Heathers Karte aus der Innentasche seiner Jacke und wählt ihre Nummer.

Mit jedem unbeantworteten Klingeln wird ihm kälter. Er hinterlässt eine Nachricht auf ihrer Mailbox und beschließt dann, jemanden um einen Gefallen zu bitten.

Die Ravens hatten sich mehr als glücklich geschätzt – eine echte Ehre, Bruder Nachtwandler –, Von zu Heathers Haus zu fahren. Kein Trans Am. Von war über den Zaun gesprungen und ums Haus herum nach hinten gegangen, wo er durch das Fenster ins Esszimmer geschaut hatte. Die Kisten, die Heather gepackt hatten, waren noch da gewesen. Ebenso Dantes Reisetasche.

Da hatte Von es gewusst. Ruhig, klar und aus dem Bauch heraus.

Kein zweites FBI-Team hatte Heather abgeholt, und es hatte auch keinen Autounfall gegeben. Nicht einmal einer dieser verdammten Gefallenen hatte die Hände im Spiel.

Alex Lyons hatte Dantes eindeutiges Nein nicht akzeptiert.

Sie müssen nur meine Schwester heilen.

Lyons wusste, wie man Dantes Programmierung auslösen konnte. Er wusste, wie man ihn am effektivsten verletzen konnte.

Von erinnerte sich, dass Heather etwas über Lyons und sein Haus in Damascus gesagt hatte. Er sandte Trey eine Nachricht nach New Orleans und bat ihn, im Internet nach der genauen Adresse zu suchen. Neunzig Sekunden später hatte Von die Ravens um eine Fahrt nach Süden gebeten.

Die Hand auf Marleys Hüfte und den Regen im Gesicht, der seine Haut malträtierte wie wütende Bienen, wünschte sich Von, sie könnten noch schneller fahren.

Ich hätte Dante nie allein lassen dürfen. Ich hätte ihn nie gehen lassen sollen.

 

Alex starrte auf den Gott der Unterwelt, und das Blut gefror ihm in den Adern. Sie stand zwischen den belegten Betten, ein Lächeln auf den Lippen. Ihr erdverkrustetes Gesicht leuchtete, als lodere ein Feuer unter ihrer Haut und hinter ihren Augen. Ihr Haar war verklebt und in schmutzig dunkle Strähnen zusammengefasst, die ihr über die Schultern fielen. Eine lange weiße, blutverschmierte Tunika, an der Taille gegürtet, verhüllte ihre schlanke Gestalt.

In einer schmutzigen Hand hielt sie einen Speer aus der Sammlung ihres Vaters, während sie in der anderen etwas hatte, das wie ein Apfel oder ein Granatapfel aussah. Nein, dafür war es zu groß, zu hässlich und feucht. Sie hielt ein Herz in der Hand.

»Willkommen zu Hause, mein Xander«, begrüßte ihn Athena oder auch Hades.

Alex’ Göttin der Weisheit entfernte sich mit jedem Atemzug, den sie tat, weiter von ihm wie ein Flugdrachen, dessen Schnur gerissen war.

Eine Schnur, die Dante nicht nur flicken, sondern auch einholen und festbinden konnte. Alex würde alles dafür tun.

»Ich habe Dante hergebracht«, sagte Alex und trat zu Athena.

»Ich weiß.« Sie neigte den Kopf und schüttelte sich dann. »Er träumt.«

»Gott sei Dank bist du wieder da«, rief sein Vater vom rechten Bett. Seine Stimme klang kläglich, aber unendlich erleichtert. »Sie hat uns betrogen. Sie hat die Auftragsmörderin ins Haus gelassen. Sie hat deine Mutter ermordet …« Er begann, derart aufgebracht zu zittern, dass er nicht weitersprechen konnte.

»Betrachte es als Gnade«, antwortete Alex. »Mutter lag seit Jahren auf dem Sterbebett.« Er sah sich im Zimmer um, um all die Dinge zu registrieren, die seine Schwester hier hinzugefügt hatte.

Eine Girlande aus blaugrauen Organen schaukelte zwischen den geschlossenen Gardinen und hing auf beiden Seiten des Fensters herab.

Der Kopf eines Mannes, in dessen Stirn ein Löchlein zu sehen war, befand sich auf dem Nachttischchen neben Mutters früherem Bett, und in Mutters Bett schlief eine dunkelhaarige, in Schwarz gekleidete Frau. Ihre Hand- und Fußgelenke steckten festgezurrt in den Lederriemen, die am Bett befestigt waren.

»Die Seiltänzerin?«, fragte Alex.

»Ja, früher einmal«, antwortete Athena/Hades. »Jetzt ist sie nur noch eine Mahlzeit für Dante.«

Alex, der die Hand seiner Schwester ergriffen hatte, wandte sich seinem Vater zu. Robert Wells starrte ihn mit roten, zornigen Augen an, hilflos und voller Hass. Ein mehr als verdienter karmischer Tritt in die Eier, dachte Alex amüsiert.

»Ich habe Dantes Programmierung ausgelöst«, sagte er und wich dabei dem Blick seines Vaters nicht aus. »Er hat getan, was du befahlst. Rodriguez ist tot, und ich glaube nicht, dass es ein angenehmer Tod war. Dante ist ein höchst effektvolles Werkzeug, wenn auch nicht gerade raffiniert oder subtil. «

Sein Vater holte tief Luft und nickte dann. »Wenn du mit ihm Erfolg haben willst, brauchst du mich.«

»Mir ist deine Schutzmaßnahme aufgefallen. Er kann sich nicht mal deinen Namen merken.«

Ein selbstzufriedenes Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht des alten Mannes. »Merk dir dieses Wort: Schutzmaßnahme

»Merk du dir dieses Wort: Kapuze.« Wells’ Lächeln verschwand. »Merk dir noch eins: Panzerband. Wenn Dante weder dein Gesicht sehen noch deine Stimme hören kann, wird er kein Problem damit haben, dich zu töten. Vermute ich mal.«

»Dich in deine Bestandteile aufzulösen«, fügte Athena/Hades hinzu.

Ihr Vater erbleichte. »Ihr braucht mich dennoch. Ich habe den Plan.«

»Nein«, sagte Athena/Hades. »Dante muss sich erinnern, und wenn er das tut, wird er dich in deine Einzelzeile zerlegen. « Sie drehte sich um und verließ triumphal das Zimmer.

»Ich kann S überreden, Athena zu heilen«, sagte Wells. Auf seiner Stirn standen Schweißtropfen.

»Weißt du, ich glaube, in einer Hinsicht hatte Mutter Recht«, antwortete Alex und ging zur Tür. Dort blieb er stehen. »Ich glaube, Alexander der Große hat tatsächlich seinen Vater, König Philipp, umgebracht. Gute Nacht.«

Damit schaltete er das Licht aus und schloss die Tür hinter sich.

 

Heather parkte ihren Wagen hinter Lyons’ Dodge Ram. Sie schaltete den Trans Am in den Leerlauf und machte Scheinwerfer und Motor aus. Die Nacht, schwarz und endlos, breitete sich aus und verschluckte alles, was die Lichter zuvor erleuchtet hatten.

Eilig stieg sie aus und schob die Autoschlüssel in ihre Tasche. Um Lyons keinen weiteren Grund zu geben, sie zu durchsuchen, ließ sie den Trenchcoat auf der Rückbank liegen. In der Luft lag ein schwerer Duft von Kiefern und feuchter Erde, von dem Wald, der die beiden Häuser umgab. Ein Bach in der Nähe plätscherte leise.

Helles Licht strahlte aus den Fenstern und ließ die Büsche und Bäume silhouettenhaft aus der Nacht auftauchen. Ihr Blick wanderte von einem Haus zum anderen, während sie sich fragte, in welches sie sollte. Lyons hatte nichts von zwei Häusern gesagt.

Gerade als sie aufs Haupthaus zulief, öffnete sich dessen Tür, und eine von hinten beleuchtete Gestalt trat auf die Veranda heraus, in einer Hand eine Pistole.

»Ganz schön knapp«, sagte Lyons.

»Dieser Ort ist schwer zu finden«, sagte Heather. Sie blieb am Fuße der Stufen stehen, die zur Veranda hinaufführten. »Ich will Annie die Autoschlüssel geben. Lassen Sie sie gehen. Warum brauchen Sie uns alle drei?«

Er fuhr sich nachdenklich mit den Fingern durch die Locken. »Sie könnten Recht haben. Kommen Sie erst mal rein, dann sehen wir, ob wir etwas aushandeln können.«

Heather betrat die unterste Stufe. »Sie haben mich schon einmal belogen. Ich brauche ein Entgegenkommen«, sagte sie. »Sie überlassen Annie den Wagen und lassen sie frei, dann gehöre ich Ihnen.«

»Ich habe Dante, also gehören Sie mir ohnehin.« Lyons wandte sich um und schlenderte wieder ins Haus. »Annie ist verhandelbar.«

Heather, deren Körper hart wie eine Faust war, stieg die Treppenstufen hinauf. Sie betrat das Haus. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie Dante noch immer bewusstlos auf einer Couch liegen sah.

»Es geht ihm gut«, sagte Lyons mit einem wissenden Lächeln.

Telepath. Sie musste vorsichtig sein, was sie dachte. »Wo ist Annie?« Ihr Blick wanderte durch das Zimmer – Ledersessel, ein großer Flachbildfernseher, Bücherregale, Couchtisch. Sie versuchte, sich Fluchtmöglichkeiten und wo sich der Flur und die Küche befanden einzuprägen.

»Meine Schwester holt sie.« Lyons wies mit dem Kopf auf den Fernsehsessel, der der Couch am Nächsten stand. »Setzen Sie sich. Machen Sie es sich bequem. Sie werden eine Weile hier sein. Ach ja – Hände ausstrecken und die Handgelenke zusammen.«

Nachdem er ihre Handgelenke erneut mit einem Kabelbinder gefesselt hatte, kauerte sie sich auf den äußersten Rand des Sessels. Das Leder knarzte unter ihr. Alex ging zur Couch, beugte sich hinunter und wedelte mit einer Kapsel unter Dantes Nase herum. Dante regte sich und riss den Kopf zurück. Heather nahm einen Augenblick lang einen scharfen, säuerlichen Geruch wahr.

»Raus aus den Federn«, brummte Lyons. Er schob die Kapsel in die Tasche seiner Jeans, ehe er Dante am Oberarm ergriff und hochzog.

Dante schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht. Blinzelnd sah er sich im Zimmer um. Heather konnte sich genau vorstellen, was er dachte: Wo zum Teufel bin ich jetzt schon wieder? Er sah Lyons an, und etwas Finsteres, Gefährliches huschte über sein Gesicht.

»Habe ich die Rechnung für Annie beglichen?«, fragte er, wobei sein Cajun-Akzent besonders stark schien und seine Worte etwas undeutlich klangen. »Ist sie in Sicherheit?«

»Nein«, warf Heather ein, ehe Lyons ihr zuvorkommen konnte. »Er hat uns belogen. Er hat Annie immer noch.«

Dantes Blick wanderte zu ihr, und das gefährliche Leuchten verschwand aus seinem Gesicht. »Alles klar, chérie?« Seine Augen waren starr und geweitet. Ein schmaler Ring eines dunklen Brauns, von Rot durchsetzt, umgab seine Pupillen.

»Ja, es geht mir gut«, antwortete sie. »Ich habe gerade versucht, Lyons davon zu überzeugen, Annie die Autoschlüssel zu geben, damit sie fahren kann.«

Dante sah Lyons an. »Habe ich getan, was ich tun sollte?«

Lyons nickte. »Haben Sie.«

In Dantes Kiefer zuckte ein Muskel. »Ja? Warum halten Sie Heather und Annie dann immer noch fest? Sie wollen, dass ich Ihre Schwester heile? Das werde ich.«

Lyons kicherte. »Einfach so?«

Dante nickte. »Ich kann so zahm sein, wie Sie wollen. Solange Sie die beiden gehen lassen.« Seine Nasenflügel bebten, als hätte er auf einmal einen schlechten Geruch in der Nase. Dann drehte er sich um und blickte in Richtung Gang. »Scheiße«, murmelte er.

Der Gestank des Todes wehte herein, schwer, durchdringend und getragen von einer Welle geflüsterter Worte, die Heather nicht verstehen konnte. Eine große, schlanke Frau in einer weißen, griechisch anmutenden Tunika voller dunkler Flecken und Streifen betrat den Raum. In einer ihrer schmutzigen Hände hielt sie einen Speer, mit der anderen Hand hatte sie Annie am Arm gepackt.

»Meine Schwester«, sagte Lyons. Eine bizarre Mischung aus Herzlichkeit und Verzweiflung zeigte sich auf seinem Gesicht. »Hades.«

Heather lief es eiskalt den Rücken hinunter. Wenn das Lyons’ Schwester war, dann ging es ihr schlechter, als sie das angenommen hatte – viel schlechter.

»Was siehst du, mein Hades?«, flüsterte Lyons respektvoll.

Das Murmeln verstummte. Athena sah Dante an.

»Ich kann nicht hinter sein schönes Gesicht blicken«, flüsterte sie voller Erstaunen. »Ich habe es immer wieder versucht, immer wieder. Entweder blockiert er den Weg, oder er ist der Weg.«

»Der Weg?«, fragte Lyons. Er umrundete das Sofa und zog Annie von Athena fort, um sie zu der noch immer sitzenden Heather zu führen.

Sie sah die Furcht in Annies Augen. »Alles wird gut«, versprach sie. »Wir holen dich hier raus.«

»Ich habe es vermasselt«, flüsterte Annie. Sie senkte den Blick und blinzelte mit zusammengebissenen Zähnen.

»Geben Sie mir die Autoschlüssel«, befahl Lyons und streckte die Hand aus.

Heather stand auf und schob ihre Finger in ihre Jeanstasche, erwischte ihre Schlüssel und zog sie heraus. Dann warf sie Annie einen raschen Blick zu, den diese auch bemerkte, und fummelte mit den Schlüsseln herum. Sie fielen klirrend zu Boden.

Annie stürzte sich darauf wie ein Spieler auf dem ersten Mal auf einen tief fliegenden Baseball und hob sie auf.

»Hoppla«, sagte Heather.

Lyons sah sie an, wobei sich in seiner Gesicht fast so etwas wie ein Lächeln zeigte. »Gut gemacht.« Er klappte sein Taschenmesser auf und zerschnitt den Kabelbinder um Annies Handgelenke. »Na gut. Annie kann gehen. Ich werde sie sogar zum Auto begleiten.«

Das Funkeln in seinen Augen deutete an, was noch alles Grauenvolles passieren konnte: eine Kugel in Annies Kopf, ihr Leichnam in Heathers Kofferraum oder vielleicht im Wald verscharrt.

Heather wurde eiskalt. » Warten Sie …«

Mit einer raschen, harten Bewegung stieß Lyons sie wieder auf ihren Sessel zurück. Sie landete unsanft und schlug mit dem Hinterkopf gegen die Rückenlehne.

Verschwommene Schlieren aus Leder und kreidebleicher Haut sprangen vom Sofa auf und rasten an Heather vorbei. Lyons ging zu Boden, und Dante warf sich auf ihn. Die Waffe, die Lyons gezückt hatte, flog ihm aus der Hand, schlitterte über den Teppichboden und verschwand unter dem Fernsehtisch.

Heather sprang auf. »Annie! Renn!«

Annie fuhr herum und raste aus der Tür.

»Ihr beide!«, donnerte Dante, während er Lyons festhielt. » Rennt!« Die Hände noch immer auf dem Rücken gefesselt bewegte er den Kopf auf Lyons’ Hals zu. Seine Reißzähne blitzten, und dann schlug er sie entweder in den Arm, den der Mann hochgerissen hatte, oder in seinen Hals.

Draußen auf der Veranda blieb Annie stehen und formte mit ihrem Mund das Wort Renn. Aber Heather schüttelte den Kopf und bedeutete Annie weiterzulaufen. Sie wollte und konnte Dante nicht im Stich lassen. Diesen Kampf würden sie gemeinsam durchstehen.

Annies Augen weiteten sich, und sie schlug eine Hand vor den Mund.

Heather fuhr herum.

Hades rammte ihren Speer in Dantes Rücken, genau unterhalb des linken Schulterblatts. Dante sog mit schmerzverzerrter Miene Luft ein. Sie riss den Speer wieder heraus, wobei Blutstropfen durch die Luft flogen. Dann drehte sie sich zu Heather, ein atemberaubendes Lächeln auf den Lippen. Heather erstarrte.

Draußen sprang der Motor des Trans Am an. Autoreifen knirschten über Kies.

»Willkommen in der Hölle«, sagte Athena.