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DAS ZEICHEN IST GESETZT

Seattle, Washington · 24. März

 

Heather hielt auf dem Weg zum Wohnzimmerfenster inne, um sicherzustellen, dass die Decke mit dem Mond und den Sternen Von auch ganz bedeckte. Er schlief im Fernsehsessel, wobei ihn die Decke von seinem Kopf bis zu seinen Zehen, die in Socken steckten, verhüllte. Seine zerkratzten Motorradstiefel standen ordentlich auf dem Boden neben dem Stuhl, während sein Hemd und seine Lederjacke über dem Gitter vor dem Kamin hingen.

Eli saß im Schneidersitz auf der Couch und aß Haferflocken und eine Wassermelone. Er sah sich im Fernsehen ein Quiz an. Eerie hatte es sich auf seinem Schoß bequem gemacht. Die Glocke, die ankündigte, dass jemand eine Runde gewonnen hatte, schallte hell durchs Wohnzimmer. Da es erst halb elf Uhr vormittags war, hatte sich bisher keiner der anderen gerührt.

Heather wäre am liebsten zur Schlafzimmertür ihrer Schwester geschlichen und hätte diese einen Spaltbreit aufgemacht, um zu sehen, ob es Annie gutging. Doch sie zwang sich, diesem Bedürfnis diesmal nicht nachzugeben. Wie Von zu Recht angemerkt hatte, war Annie ein großes Mädchen, und er hatte ihr zudem versprochen, dass Silver ihr nicht wehtun würde.

Heather zog vorsichtig den Vorhang vor dem Fenster beiseite und blickte auf die ruhig daliegende, regennasse Straße. Für den Augenblick hatte es zu regnen aufgehört. Die meisten ihrer Nachbarn – alles Leute, die sie nicht besonders gut kannte – waren jetzt bei der Arbeit. Ihre Einfahrten waren leer. Ein paar Meter von ihrem Haus entfernt parkten zwei Autos auf der Straße, die ihr unbekannt waren – ein SUV und ein rostiger alter Chrysler –, die beide Washingtoner Nummernschilder hatten.

Ein Sonnenstrahl drang durch die dünner werdende Wolkendecke und schien auf einen rubinroten Pick-up, der einen Block weiter entfernt stand. Heather kniff die Augen zusammen, da sie glaubte, am Nummernschild den typischen Baum des Staates Oregon zu erkennen. Vor ihrem inneren Auge tauchte das Bild des FBI-Büros Portland auf – ebenso wie das Fahrzeug, in das Senior Agent Alex Lyons gestiegen war: ein leuchtend roter Dodge Ram. Ihr Puls begann, sich zu beschleunigen.

Das kann keine offizielle Überwachung sein, dachte sie und ließ den Vorhang los. Nicht in einem so auffälligen Fahrzeug. Sie fragte sich, wie lange er das Haus schon beobachtete und für wen. Vielleicht für Rodriguez?

Sie hatte vor, es herauszufinden.

Heather drehte sich um, ging vor dem Sofa in die Hocke und schüttelte Jack an der Schulter. Der Schlagzeuger öffnete ein Auge und grunzte. »Du bist dran«, sagte sie. »Ich muss draußen etwas nachsehen.«

Jack zwang sich, den Kopf vom Kissen zu heben und setzte sich gähnend auf dem Sofa auf. Er streckte sich und fuhr sich mit der Hand durch seine Mähne kirschroter Dreads.

»Bist du wach?«, fragte Heather und stand auf.

»Leider ja.«

»Brauchst du eine Waffe oder …«

Jack zog eine von Vons Pistolen unter dem Kissen hervor. »Keine Sorge«, sagte er. »Ich bin ausgerüstet.«

Von Elis Ende der Couch war ein Schnauben zu hören. »Nutrias, nehmt euch in Acht.«

Ohne hinzusehen, zeigte Jack Eli den Stinkefinger. »Kannst Gift drauf nehmen. «

»Ich gehe hinten raus«, meinte Heather, »und komme so auch zurück. Lasst niemanden rein außer mir.«

Jack nickte, wobei seine Dreadlocks über die starken Schultern strichen. »Wenn jemand versuchen sollte, hier reinzukommen, werde ich ihn mit meiner Knarre zum Tanzen bringen wie einen Truthahn auf heißer Asche.«

»Das macht mir jetzt wirklich Angst«, meinte Heather und lachte.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte Eli und stellte sein Frühstück beiseite. Das Aroma der frischen Melone lag in der Luft.

Heather schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will nur sichergehen, dass alles in Ordnung ist.«

Mit einem neugierigen Maunzen sprang Eerie von Elis Schoß auf den Teppichboden, wo er zu Heather hinüberschlenderte und sich an ihrem Bein rieb, während er einen Katzenbuckel machte. Sie beugte sich zu ihm herab, um ihn zu streicheln, und erstarrte.

Schlenderte – nicht hoppelte. Eerie hatte auf einmal vier Beine, nicht mehr drei.

»Heiliger Strohsack«, flüsterte sie fassungslos und kniete sich hin. Eerie schnurrte glücklich, als sie ihn mit zitternden Fingern streichelte.

»Ich dachte, du wüsstest das«, sagte Eli.

»Was?«, fragte sie. Sie berührte das neue Bein des Tiers, das sich fest und kräftig anfühlte.

»Ich meine, so war er schon, als er heute Morgen aus eurem Zimmer gekommen ist«, antwortete er. »Ich habe angenommen, dass Dante … ich meine … wie sonst wäre so was möglich gewesen?«

Ja, wie sonst, dachte Heather, deren Gedanken rasten. Sie hatte gewusst, dass Dante etwas auflösen konnte. Sie war von Johanna Moores Zerstörung so entsetzt gewesen, dass sie gar nicht auf die Idee gekommen war, Dante könnte auch in der Lage sein, etwas zu kreieren – zu erschaffen. Wahrscheinlich hatte er tatsächlich auch etwas in ihr verändert, als er ihr das Leben gerettet hatte. Aber sie hatte sich nie überlegt, was das genau bedeutete.

Konnte Dante Dinge entstehen lassen? Nicht nur etwas heilen oder richten, sondern wirklich erschaffen?

Eerie stieß den Kopf gegen ihre Hand, und sie kraulte ihn wieder. Er setzte sich, streckte sein neues Bein aus und begann es zu putzen, als wollte er damit sagen: Siehst du, das war schon die ganze Zeit über da.

Sie stand auf und ging zum Schlafzimmer hinüber. Leise öffnete sie die Tür und blickte in den verdunkelten Raum. Dantes bleiches Gesicht war der Wand zugedreht. Sein schwarzes Haar lag auf dem Kopfkissen, ein weißer Arm auf seiner zugedeckten Hüfte.

Er ist die unendliche Straße.

Heather trat zu ihm, beugte sich zu ihm hinab und küsste die winzige Fledermaus, die in der blassen Haut über seinem Herz eintätowiert war.

Mit einem Maunzen sprang Eerie aufs Bett und machte es sich neben Dante bequem. Seine gelblichen Augen funkelten.

»Pass auf ihn auf, kleiner Beschützer«, flüsterte Heather, so leise sie konnte.

Das Tier leckte zur Antwort seine Pfote und wischte sich damit über den Kopf – ein Inbegriff der Nonchalance. Katzen. Heather schlich wieder aus dem Zimmer und ließ die Tür einen Spaltbreit offen, damit Eerie hinein und hinaus konnte.

Jack, die Waffe hinten in der Jeans, begleitete sie zur Hintertür, damit er sie hinter ihr absperren konnte.

»Ich bin in ein paar Minuten wieder da«, sagte sie und trat in die Morgendämmerung hinaus. Die Luft duftete nach bevorstehendem Regen und feuchtem Asphalt. »Wahrscheinlich müssen wir uns keine Sorgen machen. Aber ich will lieber sichergehen. «

»Wir bewachen den Schlaf der beiden«, erklärte Jack und sah sie an. »Wenn jemand zu Dante will, muss er erst mal an uns vorbei.«

Heather schmunzelte. »Danke.«

»Ça fait pas rien.« Er schloss die Tür hinter sich, und sie hörte, wie er den Riegel vorschob.

Dann drehte sie sich um und ging über den Rasen zu dem verschlossenen Tor in der nordwestlichen Ecke ihres Gartens. Sie trat hindurch und folgte einem kurzen geteerten Weg zwischen den Häusern hindurch bis zur Straße, wo sie hinter Lyons’ Dodge Ram herauskam.

Ihre Hand glitt am Rücken unter ihren blauen Rollkragenpulli, wo sie den Griff ihrer Achtunddreißiger berührte, die sie zuvor in ihre Jeans gesteckt hatte.

 

Sheridan gähnte. Das Innere des SUV duftete nach Kaffee und fettigen Hamburgern. Sein Magen knurrte, aber er hatte keinen Hunger. Der Kick durch die Muntermacher, die er nachts eingeworfen hatte, ließ allmählich nach, was ihn nervös und müde machte. Ächzend rieb er sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen.

Die Sonne war inzwischen aufgegangen, und er wartete noch immer. Prejean lag noch immer im Schlaf, während Cortini nirgends zu sehen war. Nichts lief so, wie er es geplant hatte.

Erneut gähnend wandte Sheridan seine Aufmerksamkeit wieder dem Minimonitor zu, den er in der Hand hielt. Die kleine Kamera, die am Gepäckträger auf dem Dach des Autos befestigt war, lieferte ein gutes Bild der Straße vor Wallaces weißem Backsteinhaus. Sheridan lag auf der Rückbank seines Wagens. Er bezweifelte, dass Cortini oder jemand anderer, der vorbeikam, ihn so bemerken würde. Von außen sah der SUV aus, als wäre er einfach ein Auto, das hier in der Nachbarschaft abgestellt worden war.

Das ließ sich für den Wagen, der einen halben Block oder so von ihm entfernt stand, nicht sagen. Er war etwa zwei Stunden vor Sonnenaufgang eingetroffen, ehe die Sonne also den Horizont mit bläulich grauen Farben zu erhellen begonnen hatte. Es war ein tiefroter Pick-up mit einer schwarzen Plane, die die Ladefläche verdeckte. Der knatternde Dieselmotor war aus, aber niemand hatte die Fahrerkabine verlassen. Das Aufleuchten eines Feuerzeugs und das gelegentliche Aufglühen einer Zigarette zeigte ihm aber, dass mindestens eine Person im Wagen saß und wartete.

Jemand, der beobachtete – wie er.

Neugierig hatte Sheridan das Nummernschild kontrolliert. Es stellte sich heraus, dass der Pick-up auf einen Alexander A. Lyons registriert war, der in Damascus, Oregon wohnte.

Senior Agent Alexander Lyons vom FBI-Büro Portland – der Agent, der Wallace auf ihrem kleinen Ausflug zu dem Ort begleitet hatte, wo ihre Mutter ermordet worden war.

Sheridans Neugier hatte rapide zugenommen. Er hatte sofort Rutgers informiert, was ironischerweise dazu geführt hatte, dass Prejean noch existierte.

SAC Lyons ist hier und behält Wallace im Auge. Gibt es dafür einen offiziellen Grund?

Nicht, dass ich wüsste. Rodriguez wollte Wallace noch eingehender über Bad Seed befragen. Vielleicht hat er das veranlasst, ohne mich darüber zu informieren.

Was soll ich tun?

Verhalten Sie sich still, bis Lyons wieder weg ist und halten Sie mich auf dem Laufenden. Wenn er für die Schattenabteilung arbeitet und nicht für Rodriguez …

Verstehe. Prejean und seine Band haben es sich übrigens in Wallaces’ Wohnung bequem gemacht.

Wallace hat uns also wahrscheinlich angelogen.

Definitiv. Sie hat Prejean schon vorher bewacht.

Schade. Prejean hat sie irgendwie korrumpiert. Diese gottverdammten Blutsauger.

Ma’am, wäre ein Kollateralschaden verzeihlich? Falls ich Prejean nicht allein erwische?

Nein. Wir sind nicht die Schattenabteilung. Nur Prejean und Cortini – sonst niemand.

Ja, Ma’am. Verstanden.

Gähnend schluckte Sheridan zwei weitere Muntermacher, ohne etwas dazu zu trinken. Prejean würde bis Sonnenuntergang nirgendwo hingehen. Vielleicht konnte er es sich leisten, rasch zu einem Restaurant hinüberzugehen, um dort endlich etwas Richtiges in den Magen zu bekommen. Die Urinflasche, die er bei Walgreens besorgt hatte, funktionierte, aber er musste sich trotzdem endlich mal wieder die Hände waschen.

Aber was, wenn Cortini vorbeikam, während er weg war? Um ihr Opfer einzukreisen, ehe sie zuschlug?

Eine Bewegung lenkte Sheridans Blick wieder auf den Bildschirm in seinen Händen. Jemand lief entschlossenen Schritts auf der anderen Straßenseite entlang – eine rothaarige, schlanke Gestalt in Sweatshirt und Hose, eine Hand hinten am Rücken.

Sheridans Abgespanntheit verschwand augenblicklich.

Heather schlich neben den roten Pick-up und klopfte mit dem Griff ihrer Pistole an die Fensterscheibe des Wagens.

 

Caterina hämmerte an die Haustür des Nebenhauses, öffnete sie und trat ein. Bleiches Tageslicht drang durch die Ränder der zugezogenen Vorhänge ins Zimmer. Athenas Laptop stand zugeklappt auf dem Couchtisch. Die Luft roch schwach nach umgegrabener Erde und verfaultem Gemüse – wie ein frisch gemulchter Garten. Sie runzelte die Stirn. Nirgends waren Topfpflanzen oder Blumenkästen zu sehen.

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war fast halb elf. Sie hatte Athena das Beruhigungsmittel in den frühen Morgenstunden gespritzt, so dass sie noch immer bewusstlos sein sollte. Eine schwere Stille hing in der Luft und ließ eine bedrückende Atmosphäre entstehen.

Kein Flüstern. Kein dauerndes Murmeln.

Caterinas innere Alarmglocken läuteten. Die Stille fühlte sich irgendwie falsch an. Sie fasste in ihre Jacke und zog die Glock aus dem Schulterholster. Sie horchte. Kühlschranksurren, und in der Küche tropfte der Wasserhahn.

Sie schlich durch das Zimmer zum Flur hinüber. Am Ende des Gangs leuchtete eine Nachtlampe wie ein Stern am Abendhimmel. Dunkle Klumpen waren in unregelmäßigen Abständen auf dem Teppichboden verteilt. Nasse Erde. Sie hielt inne und konzentrierte sich.

Dann drückte sie sich gegen die Wand und schlich so lautlos wie möglich den Flur entlang bis zu Athenas Zimmer. Die Tür war offen, wie sie es gewesen war, als Caterina das Haus verlassen hatte. Ein schneller Blick hinein zeigte ihr, dass sich unter den beschmutzten, schlammigen Laken des Betts eine Gestalt befand. Erdklumpen führten wie eine Spur aus Brotkrumen zu der Matratze.

Caterina betrat das Zimmer, die Glock in beiden Händen. Ein durchdringender Geruch von Erde, Exkrementen und Tod schlug ihr entgegen. Sie trat zum Bett und riss die Laken beiseite.

Gloria Wells’ Leiche lag erdverkrustet und voller Insekten auf der Matratze. Caterina starrte sie fassungslos an. Es fiel ihr schwer, die Tatsache zu verdauen, dass die Tote ein frisches Nachthemd und eine himmelblaue Schleife im erdfeuchten Haaren trug.

»Willkommen in der Unterwelt.«

Caterina spürte einen scharfen Stich im Nacken und wirbelte mit gezückter Glock herum.

Athena hielt eine Spritze in den schmutzigen Fingern. Auch ihr Haar und ihr Körper, nur mit Dessous bekleidet, waren voller Erde. »Ich bin Hades, Gott der Unterwelt«, sagte sie. »Die Toten folgen meinen Befehlen, und auch du wirst das bald tun.«

Caterina drückte ab. Die Waffe gab ein Geräusch von sich, als habe sie eine Kanone abgeschossen. In ihren Adern breitete sich eine eisige Kälte aus, während in ihrem Kopf ein Eissturm zu toben schien. Sie versuchte, erneut zu schießen, hörte aber nur noch einen dumpfen Schlag.

Als sie auf den Boden sah, entdeckte sie dort ihre Pistole. Das Zimmer begann zu schwanken, und sie knallte gegen das Bett. Ein saurer Geruch stieg ihr in die Nase, als sie sich am Arm der Leiche festhielt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Unter der bereits verwesenden Haut der Frau schien etwas zu zucken.

Caterina riss die Hand von Gloria Wells’ kaltem Arm zurück, stolperte und stürzte. Die Decke über ihr drehte sich immer schneller.

»Ich glaube, ich werde dich Rotkäppchen nennen«, wisperte Athena/Hades, »und Dante darf euch dann allesamt auffressen. «

Caterina stürzte kopfüber in einen schwarzen Abgrund, begleitet von dem mädchenhaften Geflüster des Gottes der Unterwelt.

 

Lyons riss den Kopf von der regennassen Autoscheibe weg, an die er ihn dösend gelehnt hatte. Seine Hand schoss in die Tasche seiner Kapuzenjacke.

»Das würde ich nicht tun«, warnte Heather. »Hand raus. Langsam.«

Lyons drehte den Kopf und sah sie an. Sein Blick richtete sich auf die Waffe, mit der sie durch das Fenster auf ihn zielte. Langsam zog er die Hand aus der Kapuzenjacke. »Verdammt, Heather«, sagte er. Seine Worte klangen deutlich, wenn auch durch die Scheibe gedämpft. »Sie haben mich fast zu Tode erschreckt. «

Lyons kam Heather für einen Mann, der gerade aus dem Schlaf gerissen worden war, verdächtig wach vor – vor allem für jemanden, der an einem Ort gedöst hatte, wo er das normalerweise sicherlich nicht tat. Heather musste an Annie an und Dantes Worte über sie denken: Vielleicht tut sie nur so, als ob …

Sie wedelte mit ihrer Achtunddreißiger in der Luft herum, um ihm zu bedeuten, was er tun solle. »Lassen Sie die Scheibe runter und halten Sie Ihre Hände dort, wo ich sie sehen kann.«

Lyons gehorchte. Warme Luft, die nach Zigaretten, Schweiß und Drakkar Noir roch, schlug ihr entgegen. Er legte die Hände auf das Lenkrad. »Es ist nicht, wie es aussieht«, sagte er und lächelte sie ein wenig scheu an. »Wenn ich erklären dürfte …«

»Lassen Sie die Hände auf dem Lenkrad.« Heather beugte sich durch das Fenster und fasste in seine graue Kapuzenjacke. Ihre Finger berührten das Leder des Schulterholsters, das körperwarm war.

»Normalerweise bin ich nicht gleich so liebestoll«, brummte Lyons. »Aber bei Ihnen …«

»Dann kann ich mich ja glücklich schätzen«, meinte Heather und zog seine Waffe, eine Smith & Wesson M & P.40, aus dem Holster. Sie richtete sich auf und sah in Lyons’ meergrüne Augen. Als er in die ihren sah, verschwand sein Lächeln allerdings.

»Wer hat die Überwachung angeordnet? Rodriguez?«, fragte sie fast tonlos und schob sich die S & W hinten in ihre Jeans.

»Niemand.«

»Das ist auch besser, denn Sie sind wirklich grottenschlecht darin.« Heather senkte die Achtunddreißiger. »Ihr Pick-up ist wahrscheinlich noch aus dem Weltraum zu erkennen.«

»Aua, das tut weh.« Lyons zuckte gespielt zusammen. »Ehrlich gesagt habe ich tatsächlich beobachtet … jedenfalls bis ich eingeschlafen bin. Mann …«

Heather lief es eiskalt den Rücken herunter. Sie spürte, dass hier etwas nicht stimmte. Ihre Finger umklammerten die Waffe noch fester. »Nun, und? Wollen Sie es mir endlich verraten? Wen haben Sie beobachtet?«

»Augenscheinlich kann Ihr Vater kein Geheimnis für sich behalten. Er hat denen gesteckt, dass Prejean Sie geheilt hat«, sagte Lyons. »Wahrscheinlich wird bald ein Team kommen, um Sie abzuholen.«

Heather erstarrte, doch ihr Blick blieb auf Lyons gerichtet. »Woher wissen Sie das?«

Ein dunkler SUV bog in die Straße ein. Jetzt war es an Lyons zu erstarren. Er beobachtete den Wagen aus zusammengekniffenen Augen, während er sich so fest ans Lenkrad klammerte, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Nachdem der SUV an ihnen vorbeigefahren war, fragte er: »Können wir drinnen weitersprechen?«

Heather warf einen Blick auf die nun wieder leere Straße. Sagte Lyons die Wahrheit? Sie hatte den Eindruck, als rücke er nicht mit allem, was er wusste heraus. Trotzdem konnte es sich um Informationen handeln, die sie brauchte und die nützlich sein würden. Sie richtete den Blick wieder auf Lyons, in dessen stoppeligem Gesicht echte Übermüdung zu erkennen war. Von Portland bis nach Seattle brauchte man vier Stunden, es sei denn, man raste ohne Rücksicht auf Verluste die Autobahn entlang.

»Wäre ein Anruf nicht einfacher gewesen?«, wollte sie wissen.

Er schüttelte den Kopf. »Über derartige Dinge muss man unter vier Augen sprechen.«

»Einverstanden«, sagte sie. »Reden wir drinnen.«

 

Alex presste die Handflächen gegen die Wand des Wohnzimmers und hatte die Beine gespreizt. Sein Blick war auf den beigen Teppichboden zu seinen Füßen gerichtet. Er spürte, dass der Schlagzeuger mit der Mähne aus roten Dreadlocks – Jack – noch immer neben ihm verharrte. Außerdem war er sich verdammt sicher, dass der Kerl weiterhin seine Pistole auf ihn gerichtet hielt.

»Behalten Sie Ihre klugen Sprüche für sich«, sagte Heather Wallace und tastete ihm die Beine ab, um nach versteckten Waffen zu suchen.

»Verdammt«, brummte Alex. »Sie können eine echte Stimmungstöterin sein.«

Heathers Hände bewegten sich rasch, sicher und mit der Gründlichkeit der Expertin, die sie war. Sie zog seinen iPod, seine Zigaretten, Autoschlüssel, das Mobiltelefon, einen USB-Stick und ein Feuerzeug aus seinen Taschen. Er hörte das Klicken und die leisen Geräusche, als sie alles aufs Sofa warf.

»Gut. Umdrehen«, sagte sie.

Alex gehorchte. Sie verlagerte ihr Gewicht auf eine Hüfte und musterte ihn. Ihr attraktives Gesicht wirkte aufmerksam und professionell. Selbst in den ausgebleichten Jeans und dem engen kobaltblauen Rollkragenpulli sah sie sexy aus. Der Kragen des Pullis unterstrich ihre milchweiße Haut und die leuchtend blauen Augen, während ihr tiefrotes Haar ihr wie das Samttuch eines Juweliers über die Schultern fiel.

Hinter ihr musterten zwei Mitglieder von Prejeans Band die Szene. Ihre Gesichter wirkten ernst. Rechts von ihm stand Jack mit seiner Pistole, während links der Nomad-Vampir in einem Sessel saß und von einer Decke verborgen war.

»Ziehen Sie die Kapuzenjacke aus«, sagte Heather.

»Warum? Sie haben mich doch schon abgesucht«, sagte Alex, dessen Finger ein wenig zögerlich am Reißverschluss des Kleidungsstücks verweilten. »Mir ist schon ziemlich kalt.«

»Keine Sorge, Sie kriegen ihn zurück.«

Da ihm nichts anderes übrigblieb, nickte Alex seufzend. Er zog den Reißverschluss seiner Kapuzenjacke auf, streifte sie ab und reichte ihn ihr.

Mit gerunzelter Stirn starrte Heather auf das T-Shirt, das er trug und auf dessen Brust das INFERNO-Logo prangte. Sie richtete sich auf und blickte ihn an. Ihre Miene wirkte unberührt, doch die Wut ließ ihre Augen beinahe schwarz wirken.

»Sie waren also gestern auf dem Konzert.«

Sexy und wütend. »Ich weiß, Sie glauben, ich mache Ihnen etwas vor, aber …«

Ein düsteres Lächeln huschte über Heathers Lippen. »Wollen Sie mir jetzt vormachen, dass Sie das nicht tun? Sie sind uns vom Vespers hierhergefolgt«, stellte sie fest. »Das stimmt doch?«

»Ja«, räumte Alex ein. Rechts von ihm trat Jack einen Schritt näher. Alex hob die Hand, um ihn zu beruhigen. »Ich habe die Wahrheit gesagt. Man will Sie dingfest machen.«

»Wann genau hatten Sie vor, mich zu warnen?«, fragte Heather. »Bevor oder nachdem man mich abgeholt hat?«

»Wer holt wen ab?«

Alex warf einen Blick nach rechts. Heathers Schwester stand unter der Tür in den Gang, das blau-violett-schwarze Haar zerzaust und nur mit einem lila Tanktop und einem schwarzen Minislip bekleidet. Neugierig musterte sie ihn mit ihren himmelblauen Augen von Kopf bis Fuß.

»Morgen, Annie«, sagte Heather. »Zieh dir einen Bademantel über.«

»Ich habe keinen.«

»Nimm meinen.«

»Gut.«

Aber sie machte keine Anstalten, den Bademantel zu holen. Stattdessen lehnte sie sich an die Wand, die Hände hinter dem Rücken, die Hüften vorgeschoben, und betrachtete Alex erneut.

»Augen zu mir, Lyons.«

Alex sah Heather an. Noch immer loderte Feuer in ihren Augen. Sie warf ihm seine Kapuzenjacke wieder zu. »Raus damit. Sagen Sie die Wahrheit. Was ist hier los?«

Er zog die Kapuzenjacke wieder an und fuhr sich dann mit einer Hand durch die Locken. Er spürte, wie sich Jack neben ihm bewegte. »Die haben erfahren, dass Dante Prejean …«

»Baptiste«, brummte Heather. »Er heißt Baptiste – und wer sind ›die‹?«

»Die Schattenabteilung.«

Heather zog eine Braue hoch und verschränkte die Arme über ihrer Brust. Alex konnte sich genau vorstellen, was sie dachte: So etwas gibt es nicht. Oder: Dieser Kerl redet Müll.

»Die Schattenabteilung existiert, und einige ihrer Projekte überschneiden sich mit denen des FBI.«

»Zum Beispiel Bad Seed«, meinte Heather, deren Miene auf einmal nicht mehr so skeptisch wirkte.

Alex nickte. »Exakt. Ihr Dad hat ein Mitglied der Schattenabteilung kontaktiert und dieser Person mitgeteilt, dass Dante Ihnen das Leben gerettet hatte, ohne sein Blut zu benutzen. Deshalb hat die Schattenabteilung beschlossen, Sie für Tests abzuholen, um herauszufinden, was er mit Ihnen gemacht hat und wie.«

Heather warf einen Blick in Richtung Gang. »Annie«, sagte sie leise. »Hol den Bademantel und zieh ihn über.«

Mit wütender Miene tat Heathers Schwester endlich das, was man ihr befohlen hatte. Sie verschwand im Flur. Als Alex seine Aufmerksamkeit wieder auf Heather richtete, massierte sie sich die Nasenwurzel.

»Was hat man mit Dante vor?«, fragte sie und ließ die Hand sinken. »Will man ihn auch dingfest machen?«

»Ich muss mit Dante persönlich reden«, erklärte Alex. »Was ich ihm zu sagen habe, ist nur für seine Ohren bestimmt.«

Das düstere Lächeln kehrte auf Heathers Lippen zurück. »Warum überrascht mich das nicht?«

»Ich bin auf Ihrer Seite, Heather. Auf Ihrer und Dantes.«

»Irgendwie bezweifle ich das, und Sie täuschen sich gewaltig, wenn Sie glauben, dass wir Sie mit Dante allein sprechen lassen.«

Wir? Alex’ Blick wanderte durch das Zimmer, von Gesicht zu Gesicht – weiß, kaffeebraun, schwarz. Alle sahen ihn argwöhnisch, unfreundlich und hart an. Auch in Alex begann sich Zweifel zu regen. Hatte er einen Fehler begangen, indem er Heather erlaubte, ihn zu finden?

»Setzen Sie sich aufs Sofa«, befahl Heather und trat zur Seite. »Machen Sie es sich bequem. Sie werden lange warten müssen.« Dann warf sie Jack einen Blick zu. »Behalte ihn im Auge.«

»Kannst Gift drauf nehmen«, sagte der Drummer.

Heather verließ das Zimmer und ging in die Küche. Alex hörte, wie sie in Schubfächern herumwühlte. Jack zeigte währenddessen mit seiner Waffe aufs Sofa. »Hinsetzen.«

Alex ließ sich an dem Ende nieder, das noch frei war, und machte es sich so bequem wie möglich. Wenige Augenblicke später kehrte Heather mit Panzerklebeband zurück, kniete sich vor ihn hin und band sorgfältig seine Handgelenke aneinander.

Ehe sie sich wieder erhob, betrachtete sie ihn einen Augenblick lang. »Wissen Sie, wie lange wir Zeit haben?«, fragte sie schließlich.

Alex sah sie an. Er wusste, dass sie ihm nicht mehr glauben würde, wenn er ihr nicht irgendetwas in die Hand gab. »Ich habe das Team getötet, das Sie holen sollte«, gestand er leise. »Dadurch haben Sie Zeit gewonnen. Aber ich weiß nicht, wie lange. Vielleicht ein bis zwei Tage.«

Heather holte hörbar Luft. »Warum?«

»Ich mag Sie, und der Gedanke, was Ihnen zustoßen könnte, wenn man Sie abholt, gefällt mir nicht.« Er warf einen Blick in den leeren Flur. »Weil Sie eine Schwester haben, die Sie braucht – so wie meine Schwester mich.«

»Was wissen Sie über mich?«

»Alles.«

»Alles aus den Akten«, entgegnete Heather, stand auf und ließ ihn allein zurück, ihre Achtunddreißiger wieder hinten in der Jeans.

Es mochte vielleicht stimmen, dass er nur wusste, was über sie in den Akten stand. Aber Alex hatte das Gefühl, dass es mehr als genug war.